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Buch der Woche
Kunst, Wahrnehmung und Geschlechterrollen

In Siri Hustvedts sechstem Roman "Die gleissende Welt" ist ihre Protagonistin Harry als Rächerin im Namen aller ignorierten Frauen der abendländischen Kultur unterwegs. Der Roman sei eine Mischung aus dem Selbstporträt einer Frau und den Porträts, das andere von ihr zeichnen, meint unsere Kritikerin Sacha Verna.

Von Sacha Verna | 03.05.2015
    Die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt posiert am 15. November 2011 in Barcelona.
    Die US-amerikanische Schriftstellerin Siri Hustvedt (picture alliance / dpa / Alejandro Garcia)
    "Alle intellektuellen und künstlerischen Unterfangen, sogar Witze, ironische Bemerkungen und Parodien, schneiden in der Meinung der Menge besser ab, wenn die Menge weiss, dass sie hinter dem grossen Werk oder dem grossen Schwindel einen Schwanz und ein Paar Eier ausmachen kann."
    Mit diesen Worten beginnt Siri Hustvedts neuer Roman, und vom Wahrheitsgehalt dieser Worte handeln die drauffolgenden fünfhundert Seiten. Der Satz stammt von der Protagonistin Harriet Burden, einer Künstlerin, deren Opus Magnum den Titel "Maskierungen" trägt und genau das ist, nämlich eine Maskerade. Statt selber in Erscheinung zu treten, schickt Harriet Burden an drei Ausstellungen drei Männer als Schöpfer ihrer Werke. Dreimal will sie damit beweisen, dass ihre Arbeiten positiver aufgenommen werden, wenn das Publikum glaubt, ein Künstler, nicht eine Künstlerin stünde dahinter.
    Die Geschlechterrolle erneut im Fokus
    "Ich, Harriet Burden, gestehe hiermit, dass meine vielfältigen Fantasien angetrieben wurden, erstens, von dem Wunsch nach Rache an Deppen, Schwachköpfen und Idioten. Zweitens, von anhaltender, qualvoller intellektueller Isolation, die zu Einsamkeit führte, weil ich in zu vielen Büchern umherwanderte, über die ich mit niemandem reden konnte. Drittens, von einem stärker werdenden Gefühl, dass ich immer missverstanden wurde und wie verrückt darum bettelte, gesehen, wirklich gesehen zu werden, aber dass nichts, was ich unternommen habe, daran je etwas geändert hat."
    "Die gleissende Welt" ist Siri Hustvedts sechster, von Uli Aumüller fliessend ins Deutsche übersetzter Roman. Seit ihrem Debüt 1992 beschäftigt sich die amerikanische Schriftstellerin mit Kunst, Wahrnehmung und Geschlechterrollen. Damals liess sie in "Die unsichtbare Frau" eine Literaturstudentin in Männerkleidern die Welt erfahren. In mehreren Essaybänden hat Hustvedt über Goya und Annette Messager, über Kierkegaard und Jean Baudrillard, über Psychoanalyse, Neurowissenschaften und ihre Nerven geschrieben. Von ihnen und all dem ist auch in "Die gleissende Welt" die Rede, mit Ausnahme der Nerven, die diesmal nicht jene von Siri Hustvedt sind, sondern die Harriet Burdens, sowie die der Leute, auf deren Nerven Harriet Burden im Lauf ihres Daseins geht.
    Am Anfang des Buches ist Harriet, genannt Harry bereits tot. Siri Hustvedt präsentiert uns eine von einem oder einer gewissen I.V. Hess herausgegebene Anthologie mit Beiträgen über die Verstorbene und ausführlichen Auszügen aus ihren Tagebüchern. I.V. Hess ist mit zahlreichen Fussnoten zur Stelle, wo Erklärungen über die Phänomenologie Edmund Husserls oder Bertha Pappenheim und die Gesprächstherapie nötig sind oder Quellenangaben zu zitierten Autoren. Verbreitete sich jemand über:
    "Prädiktive Schemata"
    ...und...
    "konstruktivistische Wahrnehmungstheorien."
    ...verweist I.V. Hess auf:
    "...die kontinentale poststrukturalistische Theorie, die davon ausgeht, dass die Wahrnehmung von Dingen in der Welt sozial konstituiert, konstruiert und an kulturellen Traditionen gebunden sei."
    Der Mensch ist ein Puzzle aus den Perspektiven anderer. Das Leben ist der beständige Versuch, dieses Perspektiven-Puzzle mit dem Selbstbild in Einklang zu bringen. Dieser Annahme entspricht das Wesen von "Die gleissende Welt". Der Roman ist eine Mischung aus dem Selbstporträt einer Frau und den Porträts, das andere von ihr zeichnen. Auf dieser Mischung wiederum gründet die Harriet Burden, die im Kopf des Lesers Gestalt annimmt.
    Pimmel und Nüsse bringen grössere Wertschätzung
    Das Kunstwerk wird in diesem Roman als natürliche Erweiterung des Selbst verstanden. Die Rezeption eines Werkes gerät daher zu einem einzigen grossen Spiegelkabinett, in dem jeder sich selber und andere doppelt und dreifach sieht. Die Betrachter eines Kunstwerks betrachten sich selber und die betrachteten Künstler schlagen sich die Nase wund. Oder umgekehrt.
    "Die Menge hat kein Geschlecht. Die Menge ist einer Meinung, und diese Meinung wird von Ideen beeinflusst und verführt.(...)Der Pimmel und die Nüsse brauchen nicht real zu sein. O nein, die blosse Vorstellung, dass sie existieren, genügt, um der Menge noch grössere Wertschätzung abzuringen. Daher nehme ich nun im Geiste Zuflucht zum Hosenlatz. Heil Aristophanes! Heil der fiktiven Rute, dem Zauberstab, der die Augen für ungesehene Welten öffnet."
    So Harriet Burden.
    New York ist der Nabel des internationalen Kunstbetriebs und der Schauplatz von "Die gleissende Welt". Der Roman spielt im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende und während einiger Dekaden davor. Harriet Buden ist mit dem einflussreichen Kunsthändler und Sammler Felix Lord verheiratet und fällt kaum aus ihrer Rolle als vorbildliche Gattin, Mutter und zurückhaltende Gastgeberin, solange ihr Gatte lebt. Äussert sie bei einem der feudalen Diners im Hause Lord doch einmal ihre Meinung, ist der Zwischenfall allen ein bisschen peinlich, wird aber rasch vergessen.
    "Etwa ein Jahr nachdem Felix gestorben war, fing ich damit an, sie zu machen – Totems, Fetische, Zeichen, Geschöpfe wie er, und nicht wie er, alle möglichen sonderbaren Körper, die die Kinder erschreckten, obwohl sie erwachsen waren und nicht mehr bei mir wohnten. Sie befürchteten eine Art entgleiste Trauer, besonders nachdem ich beschlossen hatte, dass einige meiner Korpusse warm sein mussten, sodass man, wenn man den Arm um sie legte, die Hitze spüren konnte."
    Harry ist bereits vor ihrer Ehe mit Felix Lord Künstlerin, doch nach dessen Tod bricht die Schaffenswut regelrecht aus ihr heraus. Als Strohmann für den Auftakt ihrer Maskierungsprojektes benutzt sie einen jungen unbedarften Akademieabgänger namens Anton Tish, der mit der von Harry konzipierten Schau prompt für Aufmerksamkeit sorgt. Tish wird als...
    "neue Stimme mit Ecken und Kanten"
    ...gefeiert und die Mammut-Skulptur einer Frau in der Mitte der Galerie als...
    "...bombastische, dreidimensionale Anspielung auf Giorgones Bild der Venus, das Tizian vollendet hat."
    Auf die verstörenden Szenen in sieben um die Harry-Tish-Giorgone-Venus herum gruppierten Kästen macht sich jeder Besucher seinen eigenen Reim oder gar keinen, was meistens noch besser ist. Kleine Mädchen starren da mit offenem Mund aus Fenstern hinaus, geballte Männerfäuste ragen unter Betten hervor und aus Büchern dringen gallertartige Substanzen.
    Siri Hustvedt hat Harrys Arbeiten nach den Werken jener Künstlerinnen modelliert, die immer bemüht werden, wenn es um den Phallozentrismus der Kunstwelt geht. Die Liste reicht von Judy Chicago bis Louise Bourgeois, von Isa Genzken bis Tracy Emin. Der Körper ist Trumpf, in welcher Form auch immer, und der Horror der Häuslichkeit steckt irgendwo mittendrin, und sei er noch so verklausuliert.
    Ihren zweiten Streich plant Harry mit Phineas Q. Eldridge, einem schwulen schwarzen Performancekünstler. Seine Ausstellung besteht aus sieben hintereinanderliegenden Küchen, von denen es in jede heisser ist, als in der davor und die mit grotesken Figuren bevölkert sind. Die Installation...
    "...beschwört Guattaris delirante Maschinen-Subjektivität herauf, eine Selbsttechnologie des Begehren..."
    ...so die begeisterte Kritik. Das Gezeigte sei subversiver...
    "...als der von Bourriaud verfochtene, gefällige Relationalismus."
    Der Jargon der Kunstintelligentsia
    Als "Wucherungen" bezeichnet Harry diese und ähnliche Reaktionen der Presse. Sie begrüsst die Kommentare der Betriebsinsider als Teil ihres Unterfanges. Dass Siri Hustvedt den Jargon der Kunstintelligentsia kennt, hat sie bereits im Roman "Was ich liebte" bewiesen. Dieses Zweifamiliendrama war ebenfalls im New Yorker Kunstmilieu angesiedelt. Sie kennt auch die Garderobe des auserwählten Volkes, das von Vernissage zu Vernissage durch das Galerienviertel Chelsea tingelt und das Gaffen und begafft Werden kultiviert.
    "Wir standen direkt hinter einer alternden Diva mit rot gerahmter Eulenbrille, von Kopf bis Fuss schick und schwarz in Yamamoto. Zwei junge Gallerinas vom Stamme Süss—und-Teuer, eine in Schwarz-Weiss, die andere in Rot, standen am Eingang Wache und liessen jeweils zehnt Leute ein, damit die sich windenden, verzweigenden Gänge des Labyrinths nicht überfüllt waren."
    Das besagte Labyrinth bildet den letzten Akt von Harrys Maskenball. Rune heisst diesmal Harrys Kollaborateur, und die Ausstellung, wieder eine Reihe von Kammern voller beunruhigender Requisiten, ist eine Sensation. Rune verfügt bereits über ein eigenes Resümee und avanciert dank des Erfolgs als Harrys Alias endgültig zum Star. Allerdings bleibt er keine Marionette, sondern zieht lieber selber die Fäden und bringt damit Harrys ausgeklügelte Vendetta zum Scheitern.
    "Und dann sagte Rune, er werde das Werk als das seine behalten. Es ist jetzt meins. Es ist Verkleidung und noch mehr Verkleidung. Harry, sagte er. Du nimmst eine Maske ab und findest darunter eine andere. Rune, Harry, dann wieder Rune. Ich habe gewonnen."
    Harry hat verloren. Aus ihrer triumphalen Selbstenthüllung wird nichts. Niemand glaubt den Behauptungen einer verrückten, reichen Witwe. Harry erkrankt an Eierstockkrebs und stirbt.
    Siri Hustvedt spart keinen Aufwand, um diese Geschichte zu erzählen. Denn Harrys Geschichte ist nichts Geringeres als die Geschichte der Kunst des Westens. Jedenfalls erweckt "Die gleissende Welt" diesen Eindruck, und das nicht nur, weil Harry die erste ihrer Ausstellung hinter der Maske eines anderen so betitelt hat. Die Geschichte der Kunst des Westens ist die der marginalisierten und kaputt dominierten Frauen, der Artemisia Gentileschis, der Judith Leysters und Camille Claudels.
    "Dora Maars grosser Fehler: Sie schlief mit Picasso, eine Tatsache, die ihre brillanten surrealistischen Fotos auslöschte. Väter, Lehrer und Liebhaber ersticken das Ansehen der Frauen."
    Erstickt, auch Margaret Cavendish, Duchess von Newcastle, die Dichterin, Philosophin und Wissenschaftlerin, als "Mad Madge" verlacht von Zeitgenossen wie Samuel Pepys. Virginia Woolf setzte ihr in "Ein eigenes Zimmer" ein Denkmal, und Siri Hustvedt tut es erneut, indem sie den Titel von Cavendishs utopischem Roman "Die gleissende Welt" zu dem ihres eigenen und Harry zu Cavendishs Erbin im Geiste macht:
    "Ich bin ein Aufruhr. Eine Oper. Eine Bedrohung! Ich bin Mad Madge().
    Harry will...
    ...in gleissendem Licht erstrahlen, es krachen lassen und brüllen."
    Es ist nicht so, dass man als Leser diese Botschaft nicht begreift. Nicht begreift, dass Harry als Rächerin im Namen aller ignorierten Frauen der abendländischen Kultur unterwegs ist. Es ist nur so, dass Siri Hustvedts Posaunenchor sehr viel lauter lärmt, als nötig wäre. Selbst das Neutrum, das als Herausgeber des vorliegenden Kompendiums über Harriet Burden posiert, trötet: I.V. Hess wie Eva Hesse, die zu Lebzeiten zwar keineswegs verkannte, aber mit 34 Jahren wenigstens früh verstorbene Künstlerin, die in keinem Museum feministischer Ikonen fehlt.
    Die Dreschflegel-Methode zahlt sich literarisch selten aus. Dabei hat Siri Hustvedt durchaus Subtileres zu bieten. So gelingt es ihr, den einzelnen Akteuren eigene Stimmen zu verleihen. Das ist entscheidend in einem Roman, der aus Gesprächstranskripten, schriftlichen Stellungnahmen und Interviews besteht. Verwandte, ehemalige Assistenten und Spötter klingen so verschieden, wie ihre Meinungen über und ihr Verhältnis zu Harry es sind. Da ist Bruno Kleinfeld, Harrys Gefährte der letzten Jahre, der gegen die Kunstmafia poltert, gegen Harrys Gemahl, der ihm noch vom Grab aus so manche Nacht mit seiner Süssen vermiest, und gegen den Krebs, der ihm die Angebetete schliesslich raubt. Da ist die patente Tochter Maisie mit ihrem Beschützerinstinkt und dem uneingestandenen Gefühl, bei ihrer Mutter zu kurz gekommen zu sein. Sie schlägt einen vernünftigen Ton an, vermittelt, erklärt und liefert Kapitel aus der Familiengeschichte. Harrys älteste Freundin ergänzt mit Kindheitserinnerungen und als Psychiaterin mit der Versicherung, dass Harry zwar exzentrisch, aber keineswegs übergeschnappt war. Der leicht autistisch wirkende Sohn Ethan wartet mit verrätselten Traktaten über die fantastischen Märchen auf, mit denen seine Mutter ihn einst in den Schlaf lockte, sowie mit Überlegungen wie:
    "Künstler A bringt Kunstwerk B hervor. Eine Idee, die Teil des Körpers von A ist, wird ein Ding, das B ist. B ist nicht identisch mit A. B hat nicht einmal Ähnlichkeit mit A. () C ist das dritte Element. C ist der Körper, der B betrachtet. C ist nicht für B verantwortlich und weiss, dass A Bs Schöpfer ist. Wenn C B betrachtet, schaut er nicht A an. A ist nicht als Körper gegenwärtig, sondern als eine Idee, die Teil des Körpers von C ist. C kann A als Wort zur Beschreibung von B verwenden. A ist eines der Zeichen geworden, um B zu bezeichnen. A bleibt A, ein Körper, aber A ist auch ein gemeinsam gebrauchtes sprachliches Etikett, das sowohl zu A wie zu C gehört. B kann keine Symbole verwenden."
    A, B, C – Ethan gelangt bis zum Z. Was er da in alphabetische Ordnung zu bringen versucht, sind Fragen, die fast so alt sind wie die Kunst selber. Wobei die Definition der Kunst davon abhängt, seit wann man bei einem von Menschen geschaffenen Etwas von Kunst spricht. Das wiederum führt zur Frage des Status von Kunst als etwas Besonderem und zu ihrem Wert, zur Frage, woran und wie dieser Wert gemessen werden kann. Spätestens an diesem Punkt hat man entweder einen Buchstabensalat oder nur noch die vielen Millionen vor Augen, mit denen zurzeit auf dem Kunstmarkt geklotzt wird. Dazu eine Fachfrau in "Die gleissende Welt":
    "Obwohl die Anzahl der Künstlerinnen sprunghaft angestiegen ist, ist es kein Geheimnis, dass New Yorker Galerien viel seltener Frauen zeigen als Männer. Die Zahlen, bewegen sich bei etwas zwanzig Prozent aller Einzelausstellungen in der Stadt, trotz der Tatsache, dass fast die Hälfte der Galerien von Frauen geführt werden. Die Museen, die zeitgenössische Kunst ausstellen, sind nicht besser, genauso wenig wie die Zeitschriften, die darüber berichten. Jede Künstlerin sieht sich mit der perfiden Ausbreitung eines männlichen Status quo konfrontiert. Kunst von Männern ist fast ausnahmslos sehr viel teurer als die von Frauen. An den Dollars kann man es ablesen."
    Ja, diese Dollars.
    Siri Hustvedt beschränkt sich aufs Elementare. Bei ihr wird man mit Kunst berühmt oder eben nicht, falls man wie ihre tragische Heldin das Pech hat, als Frau geboren worden zu sein. Für eine Satire auf den Kunstbetrieb ist "Die gleissende Welt" zu humorlos. Zu gerne versteigt der Roman sich dafür in seine eigenen Metaebenen, zu stark kokettiert er mit der eigenen Raffinesse. Für einen Schüsselroman gibt es darin zu wenig zu entschlüsseln. Wer mit dem New Yorker Kunstmilieu und den einschlägigen Organen vertraut ist, wird zwischen der einen oder anderen von Hustvedts Figuren Ähnlichkeiten mit Zwergen und Giganten der Szene entdecken und hinter Gazetten wie "Art Beats" oder "Art Assembly", die Besprechungen von Harrys Ausstellungen als Nicht-Harry publizieren, Branchenbibeln wie Artforum oder Art in America erraten. Den Rest der Prominenz serviert Siri Hustvedt auf dem Silbertablett und ohne fiktives Mäntelchen.
    Es bleiben zwei Möglichkeiten. "Die gleissende Welt" könnte als Familienroman funktionieren oder als Künstlerroman. Als Künstlerinnenroman. Die Liebe zwischen Harry und ihrem untreuen Ehemann Felix, der sie betrügt, ihre kreativen Ambitionen nicht unterstützt und sie trotzdem oder eben deshalb in ihrem Frausein Erfüllung finden lässt, diese Liebe wäre für mindestens drei weitere Epen kompliziert genug. So wie die Beziehungen zwischen Eltern und Eltern und Kindern in "Die gleissende Welt" geschildert werden, drängt sich jedoch lediglich der Rat an die Beteiligten auf, nicht alles so furchtbar aufzublasen.
    Also der Künstlerinnenroman. In Balzacs "Das unbekannte Meisterwerk" arbeitet der Maler Frenhofer jahrelang an einem Porträt, in dem andere nur ein Gewirr aus Farben und Linien sehen. Adrian Leverkühn verschreibt seine Seele in Thomas Manns "Doktor Faustus" dem Teufel und wird von den Tönen, die er komponiert, auch direkt in die Hölle getragen. Harry verpasst den Himmel auf Erden, da ihr die Anerkennung versagt bleibt, nach der sie sich verzehrt. "Die gleissende Welt" verglüht zum schwachen Flämmchen, weil darin grossartig das Wesen der Kunst an sich erforscht wird, und nichts als Plattitüden dabei resultieren.
    Was ist Kunst? In wie weit ist der Betrachter eines Kunstwerkes an dessen Erschaffung beteiligt? Sind Kunstwerke...
    "...Treffen, Rendezvous, Demonstrationen, verschiedene Typen von Zusammenarbeit zwischen Personen, Spiele, Feste, Orte der Geselligkeit, kurz die Gesamtheit der Begegnungsarten und der Erfindung von Beziehungen..."
    ...wie es der Vordenker relationalen Ästhetik, der bereits erwähnte Nicolas Bourriaud formuliert hat?
    In "Die gleissende Welt" ist Kunst sublimierter Seelenmüll. Künstler kehren in ihren Werken ihr Innerstes nach Aussen. Sie verarbeiten darin Themen und Traumata und vor allem erzählen sie darin Geschichten, hauptsächlich und in erster Linie ihre eigene. Kunstwerke sind nicht nur etwas – Objekte zum Beispiel in einem Raum -, sondern sie handeln von etwas. Kunstwerke bieten kausale Zusammenhänge, wo diese in der Wirklichkeit fehlen. Kunst ist Therapie. Kunst ist Selbsttherapie. Jedenfalls gilt das für das, was in diesem Roman als Kunst schlechthin herhalten muss. Dieser Auffassung zufolge wäre jeder Roman eine verkappte Autobiografie, jedes Musikstück melodiegewordener Trennungsschmerz.
    Der Kunst ein Anliegen zu unterstellen, war schon immer ein Fehler. Ein Anliegen zu haben, erweist sich oft als Fehler für die Kunst.
    "(…)die Geschichte kann nicht nur als feministische Parabel erzählt, werden, obwohl es auf der Hand zu liegen scheint, dass Geschlechtervorurteile eine entscheidende Rolle bei der Rezeption von Burdens Werk spielten."
    Das schreibt eine wohlwollende Kritikerin über Harry. Als Leser wünscht man sich, Siri Hustvedt hätte diesen Roman tatsächlich nicht nur als feministische Parabel erzählt. "Die gleissende Welt" ist übermotiviert. Der Roman platzt vor Motiven im Sinn von zu deutenden Symbolen und ächzt unter dem Gewicht von Motiven im Sinn der Botschaft, die die Autorin so dringend verkünden möchte.
    "Ich bin Vielzahlen."
    So lautet Harrys letzter Tagebucheintrag. Vielzahlen? Nein, ein einziges Klischee.
    Siri Hustvedt: Die gleißende Welt
    Aus dem Amerikanischen von Uli Ausmüller(Rowohlt), 512 Seiten, 22,95 Euro, ISBN 978-3-498-03024-7