Mittwoch, 17. April 2024

Archiv

Buch der Woche
"Sieg der Literatur über das mahlende Räderwerk des Todes"

Die blutigen Kriege in Tschetschenien seit Anfang der 90er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind der Hintergrund des Romans "Die niedrigen Himmel" des amerikanischen Autor Anthony Marra. Es geht um die Gräuel des Krieges - aber auch darum, wie Menschen sich dem mit Mitgefühl und Empathie widersetzten.

Von Martin Ebel | 06.07.2014
    Der US-Autor Anthony Marra sitzt am 18.03.2014 bei einer Lesung im Rahmen des Literaturfestivals lit. Cologne in Köln auf der Bühne, wo Marras Buch "Die niedrigen Himmel" vorgestellt wird.
    Der US-Autor Anthony Marra bei einer Lesung in Köln. (picture alliance / dpa / Henning Kaiser)
    Die Krimkrise und das Ringen um die Ukraine wecken bei manchem Beobachter Erinnerungen an den gescheiterten Versuch Tschetscheniens, sich aus der Russischen Föderation zu lösen. Die kleine Kaukasusregion besaß zu Sowjetzeiten den Status einer Autonomen Sozialistischen Republik und wollte 1991, beim Zerfall der Sowjetunion, die volle Unabhängigkeit erlangen. Moskau hatte viele einstige Provinzen aus seinem Machtbereich entlassen müssen, darunter auch die Ukraine, aber Tschetschenien wollte es behalten. Es kam zum Krieg, der 1996, nach schweren Verlusten der russischen Truppen mit der faktischen Unabhängigkeit Tschetscheniens endete. Allerdings nutzten die islamistischen Rebellen ihre Freiheit schlecht; sie drangsalierten die Bevölkerung mit der Scharia und stifteten Unfrieden in den Nachbarprovinzen. Und da kam Wladimir Putin ins Spiel. Sein Aufstieg zum umjubelten neuen Zaren begann mit dem zweiten Tschetschenienkrieg. 1999 optierte er für eine militärische Lösung und setzte sie mit harter Hand durch, ungeachtet der zahlreichen Attentate auch im Mutterland, ungeachtet erst recht der zahlreichen zivilen Opfer. In den beiden Tschetschenienkriegen starben insgesamt 160.000 Menschen - und das allein nach den offiziellen Angaben. Und das in einem kleinen Land, das heute bloß 1,3 Millionen Einwohner hat.
    "Grosny ist die am stärksten zerstörte Stadt auf Erden", erklärte die UNO 2003. Inzwischen ist Friedhofsruhe eingekehrt, das kleine Land aus den großen Schlagzeilen verschwunden, Grosny mit russischem Geld wieder aufgebaut. Der putinfreundliche Präsident Kadyrow sitzt sicher im Sattel, viele Rebellen sind tot oder im Ausland. Das ist der Hintergrund des Romans "Die niedrigen Himmel" von Anthony Marra, einem noch nicht 30-jährigen Amerikaner, der während eines Studienaufenthalts in Moskau sich für Tschetschenien zu interessieren begann. Das Land selbst hat er erst kurz vor Abschluss der Niederschrift bereist. Marra widerlegt aufs Überzeugendste die These, dass nur aus eigenem Leben große Literatur entstehen könne. Die etwas schwachbrüstige Debatte um literarische Bürgerkinder, die einige Wochen die deutschen Feuilletons beschäftigte, klingt in den USA absurd. Dort kommen hervorragende Autoren aus intakten Familien, lernen ihr Handwerk in Creative-Writing-Seminaren und bringen dennoch alles andere als Befindlichkeitsetüden zustande. Auch Marras akademischer Lehrer Adam Johnson ist so ein Fall: Sein jüngster Roman führte den Leser in den KZ-Staat Nordkorea, mit beachtlichem Erfolg und dem Pulitzer-Preis als Belohnung. Marra selbst hat alles, was er über Tschetschenien für seinen Roman wissen musste, aus anderen Büchern und Reportagen. Etwa aus dem Bericht eines tschetschenischen Chirurgen oder aus denen der ermordeten Journalistin Anna Politkowskaja. Den Rest - es ist die Hauptsache! - lieferten Fantasie, Gestaltungskraft und ein erstaunlich reifes literarisches Bewusstsein.
    Die zwischen Hammer und Amboss geraten sind
    "Literatur macht das Unverstellbare vorstellbar", sagt Anthony Marra. Gute Literatur erzeugt Empathie, weil sie sich dem "quantifizierenden Denken" wiedersetzt, weil sie aus Namen und Daten Menschen macht. Empathie führt zu besseren Entscheidungen, meint er. Deshalb hat Marra sich natürlich gefreut, als sein Roman zu jenen Büchern gehörte, die Amerikas Präsident Obama vor dem letzten Weihnachtsfest eingekauft hat. Den Tschetschenen wird die präsidentiale Lektüre direkt nichts nützen, aber vergleichbare Zustände, ähnlich heillos ausgesetzte Zivilisten gibt es auch anderswo auf unserem Erdball, und gute Literatur ermöglicht auch so etwas wie einen Empathie-Transfer.
    Hinter mörderischen Hassausbrüchen zwischen ethnischen oder religiösen Gruppen stecken sehr oft historische Gewaltakte. 1944 ließ Stalin mehrere Hunderttausend Tschetschenen wegen "nationaler Unzuverlässigkeit" nach Kasachstan deportieren, und siedelte Russen in Tschetschenien an. 1957 erlaubte Chruschtschow - derselbe Chruschtschow, der den Ukrainern einfach so die Krim schenkte - den rehabilitierten Tschetschenen die Rückkehr. Zuhause stießen die Rückkehrer auf die Neusiedler, die auch künftig so etwas wie die Oberschicht bildeten. Mit der Unabhängigkeit kehrten sich die Machtverhältnisse plötzlich um und wurden gewalttätig, exzesshaft ausagiert. Anthony Marra blendet in "Die niedrigen Himmel" diese Hintergründe nicht aus, ganz im Gegenteil. Aber es geht dem Autor vor allem um die, die dem Krieg ausgesetzt sind. Die mit den Folgen historischer Fehlentscheidungen zurechtkommen müssen. Die zwischen Hammer und Amboss geraten sind und irgendwie überleben - und: Menschen bleiben wollen.
    Es geht um Achmed und Dokka, um Chassan und seinen Sohn Ramsan, um die Schwestern Sonja und Natascha, die in der fiktiven Provinzstadt Woltschansk und dem nahen Dorf Eldar leben. Und um Hawah, besonders um Hawah. Sie ist ein achtjähriges Mädchen, neugierig und widerspenstig, ohne das, was wir eine Kindheit nennen; um sie dreht sich das große, ungleiche Kräftemessen des Romans. Am Anfang des Buches, das fünf Tage des Jahres 2004 umfasst, mit den zahlreichen Rückblenden aber zehn Jahre, entgeht Hawah höchster Todesgefahr; am Ende ist sie gerettet.
    Mit schwarzem Humor den unhaltbaren Zuständen trotzen
    Ein Mordkommando der "Föderalen" hat ihren Vater Dokka verschleppt und ihr Haus niedergebrannt. Hawah versteckt sich erst im nahen Wald, der Nachbar Achmed bringt sie dann ins Provinzkrankenhaus von Woltschansk.
    "Achmed hatte immer versucht, Hawah als Kind zu behandeln, und sie hatte immer mitgespielt, als wären Kindheit und Unschuld Phantasiewesen, die schon vor langer Zeit ausgestorben waren und nur zum Schein wiederbelebt wurden. Ein Schulhaus hatte sie nur einmal von innen gesehen, als sie dort Pulte in Kindergröße als Feuerholz gestohlen hatten, aber manchmal stellte er sich vor, sie verfügten eigentlich über dieselbe Weisheit, nur getrennt durch Jahre und Erfahrung. Das stimmte natürlich nicht, aber er musst sich einreden, dass sie mehr als ihre acht Jahre gelebt hatte, dass man ihr Dinge zumuten konnte, die sonst keiner Achtjährigen zumutbar waren. "
    In Woltschansk arbeitet nur noch eine einzige Ärztin, Sonja, aus einer russischen Familie, aber in Tschetschenien aufgewachsen. Sie hatte das große Los gezogen, ein Stipendium zum Medizinstudium in London, und war während des brüchigen Friedens als fertige Ärztin von dort zurückgekehrt, um ihre Schwester zu suchen (die, was sie nicht weiss, als drogensüchtige Zwangsprostituierte durch Europa gekarrt wird). Sonja erklärt sich bereit, Hawah aufzunehmen, wenn Achmed als Pfleger im Krankenhaus arbeitet. Immerhin hat Achmed einmal Medizin studiert; nach eigener Einschätzung ist er "der schlechteste Arzt in ganz Tschetschenien". Blut sieht er überhaupt nicht gerne. Arme und Beine von Minenopfern amputieren muss er trotzdem, da kennt Sonja keine Gnade. Zusammen mit zwei raubeinigen Krankenschwestern und einem einarmigen Wachmann entwickelt sich eine eigenartige "ménage à plusieurs", die mit schwarzem Humor und gutmütiger Zänkerei den unhaltbaren Zuständen zu trotzen versucht.
    Voranschreitend und rückblickend entwirft Marra ein Netz von Ereignissen, Motiven und Bezügen, das den ganzen Roman überspannt und in der komplizierten Geschichte für Orientierung sorgt. Kaum ein Ton wird angeschlagen, der nicht viele Seiten weiter sein Echo findet oder zum Akkord erweitert wird. Ob das der Samsonite-Koffer ist, mit dem Sonja aus London ins zerstörte Tschetschenien eintrifft wie mit einem kostbaren Juwel und den Natascha bei ihrer zweiten Flucht mitnimmt; oder ob es der Nussknacker ist, ein etwas missglücktes Mitbringsel, den Natascha bei Hawah zurücklässt und an dem Sonja erkennt, dass ihre Schwester hier durchgekommen sein muss, das letzte Lebenszeichen: Immer wieder sorgen solche Objekte für Kontinuität und Zusammenhalt in einer Welt, die auf Verheerung und Verlust angelegt ist. Auch das, was schwindet, wenn sich die Zivilisation auflöst, kann Marra mit einer ungeheuren Intensität beschwören. So erlebt Natascha 1994 den Zerfall des jungen tschetschenischen Staates und ihre eigene Ausgesetztheit als Angehörige einer plötzlich angefeindeten Minderheit: Alle Sicherheiten, Koordinaten und Kategorien lösen sich auf.
    Ein Feinmechaniker des Grauens
    "Die Zeit marschierte nicht mehr vorwärts. Die riesigen Uhren an den Bürogebäuden verwechselten Minuten und Stunden. Anfangs aß Natascha noch zu den üblichen Tageszeiten, um die Illusion strukturierter Zeit nicht zu zerstören, dann nur noch, wenn sie Hunger hatte, und schließlich nur noch, wenn sie etwas zu essen hatte. Aus den Telefonleitungen drang nur statisches Rauschen. Die geschwächte unabhängige Regierung versprach mindestens fünf Stunden Strom am Tag, aber meistens fielen die mitten in die Nachtstunden. Die zerbröckelnde Infrastruktur drehte die Zeit weiter zurück als jeder Präsidentenerlass. Wann hast du das letzte Mal einen Tag mit dem Weckerklingeln begonnen? Mit tschepalgasch zum Frühstück? Mit Nachrichten aus Moskau, New York und Peking im Fernseher? Mit der Hitze der ersten Zigarette in der Kehle und dem Bus der Linie 9, der um die Ecke biegt, genau wie du selbst drei Minuten später als auf dem Fahrplan? Mit spielenden Kindern, die Bauarbeiter mit Schneebällen bewerfen, und Dampf, der aus dem großen Kaufhaus an der Ecke aufsteigt und dir unter den Rock dringt, wo er als Luftbewegung an den Waden kribbelt? Mit einer Kaffeepause am Vormittag, in der du Nescafé schlürfst, der vielleicht ein Dutzend echte Bohne pro Kilo aufweist? Mit einem Zuhause, das auch wirklich eines ist? Mit Strom in den Leitungen, wenn du das Licht anknipst, mit in den Heizkörpern summender Wärme, aus Hahn, Duschkopf und Toilettenspülkasten fließendem Wasser, und Stimmen, die Hallo sagen und Wie war dein Tag? Mit Essen, das den Namen verdient hat, und Familie, und beide halten dich am Leben, was du erst richtig verstehst, wenn sie nicht mehr da sind? Mit deinem Glauben, dass du noch so übel auf die Schnauze fliegen kannst, du gehörst immer zu diesen Menschen, und sie werden dich nie verschwinden lassen? "
    Aber Natascha wird verschwinden, erst in den "breaking grounds" der Mädchenhändler, in der Drogenhölle; sie wird zurückkehren und wieder verschwinden, diesmal endgültig. Anthony Marra ist ein Feinmechaniker des Grauens, wenn er uns etwa schon früh den fingerlosen Dokka präsentiert und so einen Leserphantomschmerz erzeugt, dem erst viel später der wahre Lektüreschmerz folgt, wenn wir erfahren, wann und auf welche Weise er seine Finger eingebüßt hat.
    Nicht weniger peinvoll ist die moralische Ambivalenz, die man als Leser gegenüber dem Denunzianten Ramsan entwickelt. Die Gemeinheit des Schicksals besteht darin, dass gerade Ramsan, der bisher für die Rebellen Waffen geschmuggelt hat, sich lange heldenhaft weigert, den "Föderalen" als Spitzel zu dienen, selbst als man ihm die Hoden mit der Drahtschere abschneidet, einen nach dem anderen. Als er aber einige Jahre später das zweite Mal in die "Deponie", das Folterlager, gebracht wird, reicht die Kraft zum Widerstand nicht mehr. Er wird vom Verhöroffizier umgedreht wie Winston Smith in Orwells "1984". Fortan kollaboriert Ramsan, meldet Namen, liefert sogar seine Nachbarn nach und nach ans Messer. Dafür erhält er Nahrung und das Insulin für seinen kranken Vater Chassan. Der nimmt es an, verachtet seinen Sohn aber trotzdem aus tiefstem Herzen. Eine der bewegendsten Szenen des Romans zeigt ihn mit einem Messer in der Hand über dem schlafenden Sohn; eine bewusste Anspielung auf die biblische Abraham-Isaak-Episode, die ja auch in der muslimischen Welt eine Rolle spielt. Der "Engel", der dem Vater hier in den Arm fällt, heißt Sonja.
    Auflehnung gegen die Gleichgültigkeit
    Ein reines Panoptikum der Gräueltaten ist dieser Roman aber nicht, die Ästhetik des Schreckens nutzt sich bekanntlich ohne Gegengewicht ab. Dieses Gegengewicht sieht und gestaltet Marra in der erstaunlichen Fähigkeit des Menschen zu Mitgefühl und Empathie, in seinem Drang, Zerstörtes wieder aufzubauen und Verlorenes wenigstens in der Erinnerung am Leben zu halten. Sich gegen die Gleichgültigkeit aufzulehnen, die viele Menschen erfasst und der sie sich überlassen, um die Schrecken des Alltags überhaupt zu ertragen. Aber Menschen wie Achmed finden sich eben nicht damit ab.
    "Deshi warf einen Blick auf den Ausweis für den Fall, dass die Hose einem Bekannten gehört hatte, und schnippte ihn dann in einen Schuhkarton, in dem schon ein paar Dutzend Ausweise lagen. Es war eine simple Geste aus dem Handgelenk, ohne Bosheit oder Verachtung, wohl aber mit völligem Desinteresse, und sie durchschnitt Achmed wie eine Haifischflosse das Wasser. In ihrer Gleichgültigkeit erkannte er die Wahrheit einer Welt, an die er nicht glauben wollte, weil ein Mensch in ihr so ohne weiteres im Müll landete wie Taschenfusseln."
    Achmed vergegenwärtigt sich schon unmittelbar nach dem Brand seines Nachbarhauses die Details von Dokkas zerstörtem Hausrat, etwa den weißen König des handgeschnitzten Schachspiels, der "schwankte wie ein Betrunkener und den Dokka seine Majestät Boris Jelzin getauft hatte". Derselbe Achmed, eine unvergessliche Gestalt voller Großherzigkeit, Kleinmütigkeit und Schwejkschem Humor, hat 41 Dorfbewohner, die bei einem Massaker ermordet wurden, in großformatigen Porträts verewigt und diese überall im Dorf aufgehängt, an Laternen, an Bäumen. Er zeichnet auch Porträts von Verschwundenen - allein nach den Angaben ihrer Angehörigen.
    "Die Verschwundenen blieben verschwunden, und das konnten die Porträts nicht ändern. Aber wenn Achmed das fertige Porträt über den Tisch schob und die Familie die Form der geliebten Nase sah, wich die Luft im Zimmer dem Wunder des Wiedererkennens, wenn Mutter, Vater, Schwester, Bruder, Tante und Kusine in der Nase den Sohn, Bruder, Neffen und Vetter wiederfanden, der gewesen war und noch sein mochte, und sie hasteten dieser Möglichkeit nach wie Zeichentrickfiguren, die über eine Klippe rennen und so lange die Gewissheit einer Straße unter den Füßen haben, bis sie hinabblicken - und Fallen ist das Wort, das der kleinste Bruder verwendet, der es mit sechzehn Jahren satt hat, der Jüngste zu sein, und aus mehreren Gründen hofft, sein großer Bruder möge zurückkehren, damit der kleinste Bruder nicht mehr der Kleinste in der Familie ist; der kleinste Bruder ist der, der sechs Monate später genau wie sein großer Bruder auf der Ladefläche eines Lasters verschleppt wird, der die Deponie trotz Augenbinde und Knebel am kräftigen Lehmgeruch erkennt, woran sein großer Bruder sie vielleicht auch erkannt hat, dessen Finger mit denselben Elektrodrähten umwickelt werden, die sich auch schon in die Knochen seines großen Bruders eingebrannt haben, der über einem Massengrab stehen wird, das sein Bruder ausgehoben hat, und genauso hineinstürzen wird wie jener, wobei er sechs Minuten länger und vier Kugeln mehr zum Sterben braucht, der eine Armeslänge Erde von seinem Bruder entfernt begraben wird, dessen Knochen im Lauf der Zeit die seines Bruders finden werden und so an einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft das Gebet der Mutter erfüllen werden, dass ihre Jungen sich finden mögen, wohin sie auch gehen; der kleine Bruder wird lächeln, und ein alberner Gedanke wird ihm durch den Kopf gehen, bevor eine Kugel diesen zerschmettert, er wird daran denken, dass sie sechs Monate zuvor, als sie das Porträt des großen Bruders haben anfertigen lassen, auch seines hätten zeichnen lassen sollen."
    Akte der Selbstbehauptung
    Auch die Lebensarbeit des Historikers Chassan ist eine Tat des Rettens, Bewahrens, Wiederbelebens: Er hat die Geschichte seines Landes aufgeschrieben, von den mythischen Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Buch von 3000 Seiten, das bei einem Verlag in Moskau liegt, von wechselnden Lektoren vor wechselndem politisch-ideologischen Hintergrund immer wieder zur Neubearbeitung zurückgeschickt wird und von dem nur der allererste Band erscheinen darf, über die weit, weit zurückliegende Frühgeschichte. Hier streift Anthony Marras Roman die Satire; aber für den Geschichtsschreiber Chassan ist das nicht komisch - seinem Werk gibt ausgerechnet die Perestroika den Gnadenstoß, weil die Flut neuer Dokumente alles bisher Geschriebene hinfällig macht.
    Achmeds und Nataschas Bilder, Chassans Geschichtsschreibung, ja sogar Hawahs kleine Sammlung von Objekten, die durchreisende Flüchtlinge bei ihr zurückgelassen haben: Das sind Akte der Selbstbehauptung in einer allem Anschein nach vollends auf Destruktion programmierten Welt. Ein neocartesianisches "Ich rette, also bin ich". Es sind Akte der Zuwendung, der Risiko- und Opferbereitschaft auch, die eben nicht nur der eigenen Familie, dem eigenen Clan gelten, was ja nur eine Art erweiterter Egoismus wäre. Zumal die Familien zerstört, die Clanbande gelockert oder zerrissen sind. Und tatsächlich gelingt es manchmal, wider alle Wahrscheinlichkeit, Leben zu retten, Anständigkeit zu zeigen in einer menschlichen Mondlandschaft.
    Im zentralen Fall des Romans allerdings muss der Autor kräftig nachhelfen. Es sei ihm erlaubt. Denn so sehr bangen wir um Hawahs Leben, dass wir Anthony Marra regelrecht dankbar sind, weil er seine literarische Allmacht dazu nutzt, die Perspektive der Erzählung weit zu öffnen - in eine nahe und dann immer fernere Zukunft. In der sehen wir: Das Mädchen entgeht nicht nur den Mordkommandos. Es wird, so das Versprechen des Autors, den ganzen Krieg überleben, Kinder und Enkel bekommen und uralt sterben, mit 103 Jahren, in demselben Krankenhaus, in dem es einst versteckt wurde. Da sind wir dann im Jahr 2099, das wohl weder der Autor noch wir Leser erleben werden. Aber Hawah. Ein kühnes Versprechen. Und ein feiner Hinweis auf den Sieg der Literatur über das mahlende Räderwerk des Todes.
    Anthony Marra: "Die niedrigen Himmel"
    Roman, aus dem Englischen von Stefanie Jacobs und Ulrich Blumenbach
    Suhrkamp, Berlin 2014. 488 S., 22.95 Euro.