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Buch der Woche
Transatlantisch verwobene Geschichten

Vier Generationen über 200 Jahre verwebt Colum McCann in einen Roman, der einen mitreißenden Sog entwickelt und ständig über den Atlantik springt. In "Transatlantik" zeigt McCann seine grandiose Fähigkeit, die Komplexität bestimmter Momente mit atemberaubender Präzision zu entfalten.

Von Walter van Rossum | 30.03.2014
    Wellen auf dem Atlantik
    Über den Atlantik springt der Roman sehr häufig. (picture-alliance/ dpa)
    1845 geht in Dublin ein aufsehenerregender Mann von Bord eines Schiffes aus Amerika: Frederick Douglass, ein Schwarzer, ein entlaufener Sklave, der die Chance hatte, Lesen und Schreiben zu lernen. Er ist in eigener Sache unterwegs, als Vortragsredner, ein Missionar der Sklavenbefreiung. Er wohnt bei seinem irischen Verleger und wird von der Dubliner Oberschicht begeistert empfangen.
    "Die Gäste sahen ihn an, als beobachteten sie eine von galoppierenden Pferden gezogene Kutsche, die jeden Augenblick umstürzen konnte. Zwischen seinen Schulterblättern rann ein Schweißtropfen herab. Er habe sich befreit, sagte er, sei jedoch noch immer jemandes Besitz. Eine Ware. Laut Gesetz ein bewegliches Eigentum. Jeden Augenblick könne er zu seinem Herrn zurückgebracht werden. Schon das Wort - Master - sei verabscheuenswert. Er wolle es ausradieren und vernichten. Massah. Sein Herr dürfe ihn auspeitschen, seine Frau schänden, seine Kinder verkaufen. In Amerika gebe es noch immer Kirchen, die das Prinzip der Sklaverei unterstützten - ein unerträglicher Makel für die gesamte Christenheit. Selbst in Massachusetts werde er in der Öffentlichkeit noch immer verfolgt, geschlagen und bespuckt.
    Er sei gekommen, sagte er, um einen Funken der Empörung zu erzeugen, einen Funken, der sich schließlich zu einem Flächenbrand entwickeln werde. Er werde nie mehr ein Sklave sein.
    Eine Welle der Zustimmung lief durch den Raum. Das Dienstmädchen in dem schwarzen Kleid schlug die Augen nieder."
    Frederick Douglass wird auch andere Städte Irlands besuchen. Auf seinen Reisen durch das Land begegnet ihm unvorstellbarer Hunger. Die Kartoffelpest hat die Ernte vernichtet, was an Nahrungsmitteln noch bleibt, beanspruchen die Engländer für sich. Damit beginnt die Auswanderung von Millionen von Iren in die Vereinigten Staaten, weit bis ins 20. Jahrhundert werden Tausende Menschenfrachter mit hungernden Landsleuten folgen.
    Das Wunder der Wirklichkeit
    Den schwarzen Amerikaner Frederick Douglass hat es wirklich gegeben. Ebenso historisch verbürgt ist, dass Arthur Brown und John Alcock, im Juni 1919, an einem Freitag dem 13., zum ersten Nonstop-Transatlantikflug der Geschichte aufbrachen. Sie starteten in Neufundland mit einer Vickers Vimy, einem umgebauten Bomber aus dem Ersten Weltkrieg und landeten knapp 16 Stunden später in Connemara, Irland.
    "Die Vimy fliegt tief über das Land. Ein Schaf mit einer Elster auf dem Rücken. Es hebt den Kopf und beginnt zu rennen, als das Flugzeug sich nähert, und für einen Augenblick bleibt die Elster sitzen. Der Anblick ist so seltsam, dass Brown ihn sein Leben lang nicht vergisst. Das Wunder der Wirklichkeit.
    In der Ferne die Berge. Die Steinmauern sehen aus wie die Nähte einer Flickendecke. Gewundene Straßen. Windgebeugte Bäume. Eine Burgruine. Eine Schweinefarm. Eine Kirche. Und dort, im Süden, die Radiosendemasten. 60 Meter hoch, in Reih und Glied, ein regelmäßiges Rechteck. Ein paar Lagerhäuser. Ein Steinhaus am Atlantik. Es ist also Clifden. Clifden. Die Marconi-Masten. Ein riesiges Netz aus Sendemasten. Sie sehen einander an. Keine Worte. Bring sie runter. Bring sie runter."
    Eine Reporterin wird kommentieren, diese beiden Männer haben den Krieg aus dem Flugzeug entfernt. 80 Jahre später fliegt der amerikanische Senator George Mitchell fast ununterbrochen zwischen New York, Washington, London, Dublin und Belfast hin und her. Er ist der diplomatische Emissär der amerikanischen Regierung – sein Auftrag: endlich Frieden schaffen in Nordirland. Dabei hatte Mitchell längst die politische Arena verlassen.
    "Er setzte sich zur Ruhe, hatte eigene Pläne, wollte als Anwalt tätig sein, das Leben genießen, die Blitzlichter hinter sich lassen. Lehnte sogar einen Sitz im Obersten Gerichtshof ab. Doch dann rief der Präsident ihn erneut an. Clintons lässiger Charme. Die Leichtigkeit, mit der er sich durchsetzte. "Tu mir einen Gefallen, George", sagte er. "Zwei Wochen Nordirland. Es ist bloß eine Handelskonferenz." Ein Rückzug über den Atlantik. Der Senator ließ sich gewinnen. Zwei Wochen. Im Handumdrehen waren daraus ein, zwei, drei Jahre geworden. Die Schatten von Harland & Wolff über Belfast, wo einst die Titanic gebaut worden war. Die unbestimmte Hoffnung, er könnte dabei behilflich sein, den Kurs jenes langen blauen Eisbergs, dieses unsichtbaren Ballasts der irischen Geschichte, zu ändern."
    Auch George Mitchell gab es wirklich. Und wie wir wissen, gelang ihm 1998 der Durchbruch, den seit Jahrzehnten währenden nordirischen Bürgerkrieg zu beenden.
    Frederick Douglass, der entlaufener Sklave, Arthur Brown und John Alcock, die beiden ersten Nonstop-Transatlantikflieger, der Diplomat George Mitchell, drei Geschichten über vier Männer, ganz verschieden, doch allesamt handeln sie von kühnen Pionieren, Weltverbesserern.
    Mit diesen historischen Heroen beginnt der Roman "Transatlantik" von Colum McCann. Doch dann treten Frauen ins Rampenlicht der Erzählung, Frauen die im Schatten, am Rande der Heldengeschichten kurz auftauchten. Erinnern wir uns des Dienstmädchens im schwarzen Kleid, das die Augen niederschlug, als es zufällig den Worten von Frederick Douglass in Dublin lauschte: Lily Duggan, ein 17-jähriges Dienstmädchen, ein Waisenkind in Diensten bürgerlicher Herrschaften – sie, ihre Tochter, ihre Enkelin und Urenkelin bilden fortan das Zentrum dieses Romans, immer kunstvoll verflochten mit den berühmten historischen Geschichten.
    Im Banne von Frederick Douglass beschließt Lily Duggan, Irland zu verlassen, sie ersteht eine Schiffspassage und landet in New York:
    "Sie war von einem Haus in der Great Brunswick Street aufgebrochen. Sie war gelaufen und gelaufen und gelaufen. 15, 16, 17 Tage lang, immer nach Süden, durch Wicklow und Waterford, über die Berge und hinüber nach Cork. Damals war sie ein einfaches Mädchen gewesen. Nichts weiter. Sie war einer Sehnsucht gefolgt. Sie erinnerte sich an die Wipfel der Bäume über der Straße und das Wechselspiel von Licht und Schatten auf den Feldern, an Täler und Flüsse, an den Wind, der ihr harten Regen ins Gesicht geworfen hatte, und den Hunger, der sich über das Land gelegt hatte, an seinen fauligen Gestank, der an Männern, Frauen und Kindern geklebt hatte."
    Transatlantisches spielt zentrale Rolle
    Lily schlägt sich irgendwie durch. Wir begegnen ihr wieder als ungelernte Sanitäterin im amerikanischen Bürgerkrieg. In Wahrheit sucht sie ihren 17-jährigen Sohn, der sich unbedingt auf dem Feld der Ehre erweisen wollte. Sie findet ihn tot. Dann zieht sie mit einem Eishändler in den Norden Missouris, wo er im Winter auf einem zugefrorenen See Eis erntet und mit Kutschen und Schiffen in den Süden transportiert und verkauft. Nachdem ihr Mann und zwei ihrer Söhne bei einem Unfall umgekommen sind, führt sie die Geschäfte weiter und bringt es zu einigem Wohlstand. Sie kann nicht lesen und nicht schreiben. Sie lebt mit ihrer Tochter Emily zusammen, die nichts als lesen und schreiben will.
    Lily trifft auch Frederick Douglass wieder, wenigstens aus der Ferne, als er in Saint Louis auf einer Versammlung als Redner auftritt.
    "Er legte die Hand an die Stirn, als wollte er einen neuen Gedanken beschwören. Er schloss die Augen, fast wie zum Gebet. Lily dachte, er könnte vielleicht für immer so bleiben, wie auch sie für immer auf den Gedanken fixiert sein würde, den er in diesem Augenblick entdeckt haben mochte. Sie war wieder auf der Treppe. Er streifte sie im Hinuntergehen. Sie spürte, wie ihr Herz einen Sprung machte. Ringsum hatten die Frauen sich erhoben, Applaus brandete auf, ein paar Rufe erklangen, doch Lily blieb sitzen, und was sie empfand, war unvergleichlich, einzigartig und doch gewöhnlich - alle Augenblicke ihres Lebens vereint in diesem, die Tür zu seinem Zimmer geschlossen, das Licht in dem schmalen Spalt darunter, das in der Dunkelheit immer heller zu werden schien. Sie begriff, dass sie diese weite Reise unternommen hatte, um eine Tür zu öffnen, und in dem Raum hinter dieser Tür war ihre Tochter, ihre eigene Geschichte, ihr Fleisch und Blut, ihre Dunkelheit: Sie beugte sich im Licht einer uralten Lampe über ein Buch und las."
    Transatlantisches spielt in fast allen Romanen dieses Schriftstellers eine zentrale Rolle. Es ist in gewisser Weise seine eigene Route. Colum McCann wurde 1965 in Dublin geboren, er studierte Journalistik und durchstreifte die Welt als Abenteurer und Journalist. 1995 erschien sein erster Roman "Der Gesang der Kojoten", die Geschichte eines irischen Auswanderers. Seit einigen Jahren ist er selbst ausgewandert und lebt mit seiner Familie in New York. New York ist der Schauplatz vieler seiner Romane. Hier spielt auch die Geschichte von Himmel und Hölle, der Roman "Der Himmel unter der Stadt", der von den Arbeitern erzählt, die in schwindelerregender Höhe Wolkenkratzer errichten und deren Geschichte sich kreuzt mit den Geschichten von denen, die im Schattenreich hausen, in stillgelegten U-Bahnschächten weit unter die Erde und selten das Licht der Stadt erblicken. In New York lässt er seine Romanversion des Tänzers Rudolf Nurejew einerseits erhaben tanzen und andererseits im Schlachthofviertel brutal seine Homosexualität ausleben. In New York balancierte im Jahre 1974 der Franzose Philip Petit auf Drahtseilen zwischen den beiden gerade errichteten Türmen des World Trade Center. Davon handelt sein wunderbarer Roman "Die große Welt". In New York landet auch Lily Duggan.
    "Sie war Anfang 1846 gekommen, hatte die weite Reise von Cork gemacht. 17 Jahre alt. Acht Wochen auf dem Ozean. New York tauchte auf wie ein blutiger Auswurf. Die Sonne ging hinter Lagerhäusern und hohen Gebäuden unter. Am Kai sah sie Männer im Ruin ihrer selbst. Zwischen Schauerleuten, Polizisten und Bettlern ging Lily durch den Hafen. Vom öligen Wasser stieg Gestank auf. Die Zerbrochenheit. Die Nacktheit. Der Schmutz. Sie hatte nur wenige Amerikaner kennengelernt - allesamt im Haus der Webbs in Dublin, allesamt Menschen, die über große Würde verfügten, Menschen wie Frederick Douglass. Doch in New York klebten die Männer an den Schatten. Die Neger hielten sich gebeugt, ja, geduckt. Was für eine Freiheit war das? Einige trugen noch Brandzeichen. Sie hatten Narben. Krücken. Schlingen. Sie ging an ihnen vorbei. Die Frauen im Hafen - weiße Frauen, schwarze Frauen, Mulattinnen - hatten grell geschminkte Lippen. Ihre Rocksäume bedeckten nicht einmal die Knöchel. Es war ganz und gar nicht die Stadt, die Lily sich ausgemalt hatte. Keine schönen Kutschen. Keine Männer mit ordentlich gebundener Fliege. Keine mitreißenden Reden am Hafen. Nur schmutzige Iren, die ihr allerlei Geringschätziges nachriefen. Und die schweigsamen Deutschen. Die lauernden Italiener. Sie ging unter ihnen wie in einem Traum. Kinder in Lumpen aus ungebleichter Baumwolle. Hunde an den Straßenecken. Ein Schwarm Tauben senkte sich vom Himmel herab. Sie wich vor den Schreien der Fuhrleute und den rhythmischen Rufen der Straßenhändler zurück. Zog den Schal um die Schultern. Unter dem dünnen Kleid klopfte ihr das Herz. In Angst vor Dieben ging sie durch die Straßen. Ihre Schuhe waren mit Fäkalien beschmutzt. Sie band die Haube fester. Es begann, zu regnen. Sie bekam Blasen an den Füßen. Die Straßen waren wie ein Fieber. Steine über Steine. Stimmen über Stimmen. Lily eilte weiter. Eine Ratte huschte an ihr vorbei. Sie schlief in einem Hotel an der Fourth Avenue, wo die Wanzen sich unter einem losen Stück Tapete versteckten. An ihrem ersten Morgen in Amerika erwachte sie von den Schreien eines Pferdes, das unter ihrem Fenster mit einem Knüppel geschlagen wurde."
    Keine Aufsteigersagen, kein Fortschrittsepos, keine Lily-Duggan-Dynasty
    In fast allen seinen Romanen spielt die große, die wahre Geschichte eine Rolle. Doch es geht nicht um Geschichtsunterricht. In gewisser Weise irrealisiert Colum McCann sogar die Geschichte, zersetzt ihre Logik, erodiert ihre Ordnung, er führt die Mächte der Kontingenz, des Unableitbaren, gegen sie ins Feld, setzt die Energien wirren Sinns frei. Frederick Douglass selbst ist seiner Geschichte entlaufen, hat die Vorsehung, den Aufmarsch des Faktischen überschritten. Eine Kette wundersamere Fügungen hatte ihm Möglichkeiten zugespielt. Er hat sie ergriffen. Alles an seiner Karriere war unwahrscheinlich, am Ende hat er sich selbst als diese Unwahrscheinlichkeit hervorgebracht. Und in seinem Roman gibt McCann diesen Funken weiter, ausgerechnet an Lily Duggan, das völlig ungebildete 17-jährige Dienstmädchen, das von Freiheit, von Sklaverei und Humanismus keinen Schimmer hat. Und sie wird später begreifen, dass die Befreiung der amerikanischen Sklaven keineswegs bloß eine Angelegenheit brillanter Sonntagsreden vor wohlhabenden und wohlmeinenden Philanthropen war. Es wurde ein langer, blutiger, zermürbender Kampf, ja ein Krieg, in dem sie ihren Sohn verlor. Lily wurde auch keine glühende Abolitionistin. Die Vereinigten Staaten, in der sie Zuflucht suchte, waren kein Märchengebiet, sondern hartes, fast ungenießbares Brot. Es geht nur um den einen Punkt, da Menschen das Korsett ihrer Umstände sprengen, einfach, um weiterzugehen, um an die Luft zu kommen. Doch McCann ist weit davon entfernt, eine Aufsteigersaga zu erzählen. Lily Duggans Weg war schwer. Und wir spüren jeden Moment, sie hätte vielfach scheitern können.
    "Sie war 48. Sie lebte jetzt seit mehr als 30 Jahren in diesem Land. Sie war Amerikanerin geworden. In welchem wirbelnden Augenblick hatte sie innegehalten und sich, ohne es zu bemerken, in eine andere Richtung gewandt? Zu welchem Zeitpunkt hatte ihr Leben seinen Sinn enthüllt? Sie konnte es nicht sagen. Sie war ein einfaches Mädchen gewesen, ja. Ein Dienstmädchen. In einem Haus voller schwieriger Dinge. Sie hatte seltsame Gespräche gehört. Über Demokratie, Glauben, Sklaverei, Güte, das Empire. Es waren Dinge, die sie nicht ganz begriffen hatte, doch sie hatten auf ein Anderswo gedeutet. Und so bin ich fortgegangen. Ich wusste nicht, wohin. Ich hatte keinen Plan, Jon. Ich bin einfach fortgegangen."
    Dieser Roman hat einen Sog, entwickelt eine Spannung, dass man gelegentlich fast über diese hinreißende Prosa hinwegliest. Als müsste es am Ende eine Auflösung geben, eine in eherne Worte gefasste Weisheit, als wollte man sich mit einem Schluck aus der Erkenntnispulle beruhigen über so viel losgelassenes Leben. Man darf es vorwegnehmen: Es gibt des Rätsels Lösung nicht. Es gibt nur einen dunklen Zusammenhang zwischen jener Lily Duggan, die 1845 als 17-jährige Frederick Douglass begegnet, ihrer Tochter, ihrer Enkeltochter und ihrer Urenkelin Hannah, die am Ende der Geschichte nahe Belfast lebt und um ihren Sohn trauert, der von der nordirischen Rebellen erschossen wurde. Und mit Hannah endet die von Lily Duggan vor über 150 Jahren gegründete Reihe weiblicher Nachfahren.
    "Transatlantik" erzählt keine Aufsteigersaga, kein Fortschrittsepos, keine Lily-Duggan-Dynasty. Der Roman handelt von einem dunklen und betörenden Zusammenhang. Dabei haben Lilys Nachkommen nur bedingt Ähnlichkeit mit ihr. Und sie genießt auch nicht die Verehrung einer heiligen Stammmutter. Der Roman handelt vom rätselhaften Zusammenhang reichlich heterogener Menschen an den verschiedensten Orten. Nur eines ist ihnen gemeinsam: Mit verwirrender Leichtigkeit pflegen sie ihre Stammesgebiete zu verlassen.
    "Es gibt Zeiten, da hat die Vergangenheit eine besondere Resonanz. Und wir hören Schwingungen, die normalerweise nicht im wahrnehmbaren Bereich liegen. Unser Tomas fühlte sich sehr geborgen im Geflecht der Verbindungen. Er saß in unserem Haus in der Malone Road bei seiner Großmutter und hörte ihren Geschichten zu. Eines Tages wollte er ein mathematisches Modell seiner Herkunft erstellen: Neufundland, Holland, Norwegen, Belfast, London, St. Louis, Dublin. Eine Zickzacklinie bis zu Lily Duggan. Ich fragte ihn, wie das Diagramm wohl aussehen würde, und er dachte einen Augenblick nach und sagte dann, es könnte vielleicht aussehen wie ein Nest in einem Baum vor einem im Zeitraffer dahinjagenden Hintergrund. Damals verstand ich nicht, was er meinte, doch heute finde ich dieses Bild unglaublich schön: die von überall herangebrachten Zweige, Grashalme und Blätter, all dieses verflochtene Nistmaterial, die Jahre, die vergehen - Katholik, Brite, Protestant, Ire, Atheist, Amerikaner, Quäker -, und über den Himmel dahinter rasen die ganze Zeit Wolken."
    Schwebender Zusammenhang zwischen vier Generationen
    Auf 380 Seiten überqueren wir dutzendfach in lesender Andacht den Atlantik. Zu verschiedenen Zeiten, mit wechselnden Reisenden und unter unterschiedlichsten Bedingungen, in den stickigen Kojen eines Auswandererschiffes, im Lärm brüllender Motoren und fast zu Eis erstarrt an Bord einer Vickers Vimy, dann als Erster-Klasse-Passagier eines Jumbojets umhegt von aufmerksamen Stewardessen. Aus dramatischen Aufbrüchen wurden Routinetrips. Die Welt war groß, die Welt ist immer noch groß und die Globalisierung keine Erfindung unserer Tage.
    Colum McCann hat die grandiose Fähigkeit, die Komplexität bestimmter Momente mit atemberaubender Präzision zu entfalten, um dann - wie im Gegenzug - den Gang ganzer Jahrzehnte auf ein paar Seiten zusammenzufassen. Und so entsteht die Geschichte von vier Generationen, immerhin fast 200 Jahre. Keine Einheit der Zeit, keine Einheit des Ortes und doch hat McCann diesen vier Generationen einen schwebenden Zusammenhang zurückgegeben.
    Wir leben in Zeiten, die uns pausenlos zu größerer Flexibilität animieren. Wir sollen Bindungen abstreifen, Bindungen an Personen, Orte, Gewohnheiten, Erwartungen, Überzeugungen. Nur so könnte das Neue geschehen. In diesem Sinne wäre das Personal dieses Romans immer schon hypermodern gewesen. Doch irgendwann hört man auf, Bindungen abzustreifen, dann wird man Ahne, Abkömmling von noch älteren Ahnen, Vorfahre der Nachkommen, dann wird man zu einer Geschichte, die hoffentlich verdient, erzählt zu werden.
    "Die Rücksichtslosigkeit unserer Fantasie fasziniert mich noch immer. Die Tunnel unserer Existenzen kreuzen sich, brechen in den seltsamsten Augenblicken zum Tageslicht durch und reißen uns dann wieder ins Dunkel. Wir kehren zu den Existenzen jener zurück, die vor uns da gewesen sind, und bewegen uns - es ist verwirrend - auf einem Möbiusband, bis wir schließlich zu uns selbst heimkehren."
    Buchinfos:
    Colum McCann: "Transatlantik", Roman, Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren, Rowohlt, Reinbek 2014, 381 Seiten, Preis: 22,95 Euro