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Buch der Zärtlichkeit

Anthologien sind meist die Kinder des Erfolgs: Wenn der erste Roman gelungen ist, die Fangemeinde aufgebaut nach Neuem lange Zähne macht, der Autor tot, seine Schubladen aber übervoll und kein Freund da, Fehlfarben aus dem Handel zu ziehen, dann freut sich der Verleger und stellt die Sammlung auf den Sockel des aufgetürmten Ruhms. Wenn aber einer wie der vor einhundert Jahren geborene Isaac Bashevis Singer nicht anders kann als brillant zu erzählen und seine Bilder, ihre Details, Philosophie und Sprache nahtlos verwoben sind mit seiner Tradition, dann kann man seinen Band aufschlagen, wo man will, er lässt einen erst nach der letzten Zeile wieder los.

Von Jochanan Shelliem | 26.06.2004
    Bei dem Bankett zu Ehren des Literaturnobelpreisträgers 1978 erläutert Singer, warum er sich des Jiddischen also einer aussterbenden Sprache bediene. Erstens, so Isaac Bashevis Singer, liebe er Geistergeschichten und zweitens sei er von der Auferstehung des Jiddischen überzeugt, wobei er umstandslos bekannte, dass er nicht über die leiseste Ahnung verfüge, wie sich das Wunder zutragen können sollte.

    Der am 17. Juli 1904 im Schtetl von Radzymin geborene Rabinersohn und -enkel war wohl in Warschau aufgewachsen, doch Warschau war zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts auch eine jüdische Stadt. Manche Geschichte weist darauf hin, auf das, was man in Polen bis heute an sich selbst verachtet, die Matrioschka-Kultur dieser kleinen Nation, die sich auch heut' so gern kreuzkämpferisch katholisch von allen anderen Traditionen, die in Polen ihre Spuren hinterließen, unbefleckt sähe, doch das ist eine andere Geschichte.

    Viele Geschichten Singers, beschreiben die jüdisch-insularen Welt von Polen mit Schtetl, Hilfslehrer und Rabbiner, Synagoge, Cheder und Elternhaus, manche verweisen, wie Ein Channukka-Abend in Warschau, wo Singer den jüdischen Kosmos in die kleine Odyssee seines Protagonisten einflicht, auf verwandte Schriftsteller aus anderen Kulturen, wie hier Charles Dickens. Ob in Slateh die Geiß, eine seiner bekanntesten Geschichten, in der die gute Geiß den Sohn des Pelzhändlers, der sie traurig zum Metzger bringen soll in einem Schneesturm rettet, weil sie das Heu frisst und der Junge durch ihre Milch und Wärme überlebt und mit Einbruch des Winters das Geschäft des Pelzhändlers wieder floriert, die chassidisch-jüdische Dialektik lebt in den Geschichten Singers - nein, nicht wieder auf - der Autor lebt von ihr, auch wenn er in den Zwanzigern aus der religiösen Welt seiner Familie ausgebrochen ist.

    Bis dahin hatte er die chassidischen Geschichten seiner Großmutter auf dem Dorf von Bilgoraj in dunklen Nächten aufgesogen und den Talmud studiert. Isaak Singer hätte selbstverständlich Rabbiner werden sollen, beschloss aber mit sechzehn seinem Bruder Israel Joseph Singer in die säkulare Welt zu folgen, erst in die Welt des Jiddischen Schriftstellerverbandes, dann zu Zeitschriften, wie dem Globus, den er von 1932 an selbst redigierte, wo sein erster Roman Satan in Goray erschien, wo er die Buddenbrocks ins Jiddische übertrug. 1935 folgte Singer wieder seinem Bruder Joseph, diesmal auf der Flucht vor dem wachsenden Nazismus Polens in die USA.
    In der Entfernung, mit dem Untergang des Ostjudentums und erst recht nach dem Tod seines Vorbildes und Bruders 1944 nahm er den Vornamen seiner Mutter an, aus Bathsheba wurde Bashevis und für die nächsten vierzig Jahre erschienen im jiddischen Vorwärts jede Woche eine Geschichte von ihm.

    Es ist leicht die vorliegenden Erzählungen Singers als Kindergeschichten zu klassifizieren, wenn sie biographische Einblicke in das Schtetl aufweisen, doch zeichnet diese Geschichten etwas aus, das hierzulande fast verloren gegangen ist. Ob Singer von den Ältesten von Chelm, den Dummheiten der jüdischen Schildbürger erzählt, von den Geschäften Schlemihls, ob er Märchen erzählt und die Konfrontation von Rabbinern mit Hexen beschreibt und den Sieg der Taube über alle Tiere auf der Arche Noahs, Singer schriebt nie moralin, der belehrende Blick auf seine lesenden Mitbürger, er ist ihm fremd, darum klingen seine Geschichten so klar und so authentisch. Und als Jude könnte man weinen vor so viel Selbstverständlichkeit. "Was ist denn schon das Leben ?" fragt Reb Falik Naftali, den Geschichtenerzähler. "Die Zukunft ist noch nicht da, und man kann nicht voraussehen, was sie bringen wird. Die Gegenwart ist nur ein Augenblick und die Vergangenheit eine lange Geschichte. Wer keine Geschichten erzählt und keine Geschichten hört, lebt nur für diesen Augenblick und das ist nicht genug." Isaak Bashevis Singer starb am 24. Juli 1991 in Miami. Massel und Schlamassel ist ein Lesebuch, ein jüdisches Kompendium voller Humanismus, Zärtlichkeit und Kraft, mit Erzählungen für jede Wetterlage und den Facetten einer Welt, in der das jüdisch Sein und das Jiddische Leben selbstverständlich gewesen ist - eine Bereicherung ohne Machtpolitik.

    Isaak B. Singer
    Massel und Schlamassel
    Hanser, EUR 17,90