Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Buch über Boko Haram
Den "geraubten Mädchen" ganz nah

Die Terrorgruppe Boko Haram entführt, vergewaltigt und versteckt Tausende Frauen im Sambisa-Wald. Der "Zeit"-Journalist Wolfgang Bauer hat mit Frauen gesprochen, denen die Flucht aus dieser Hölle gelungen ist. In seinem Buch "Die geraubten Mädchen. Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas" versammelt er Geschichten voller Tod, aber auch voller Leben.

Von Alexander Göbel | 23.05.2016
    In Abuja, Nigeria, erinnern Demonstranten an die Entführung von 270 Schulmädchen in Chibok vor einem Jahr.
    In Abuja, Nigeria, erinnern Demonstranten an die Entführung von 270 Schulmädchen in Chibok. (Archiv) (picture alliance / dpa / )
    Tief im Nordosten Nigerias, in den kaum zugänglichen Sumpfgebieten des Sambisa-Walds, versteckt die Terrorgruppe Boko Haram unzählige Frauen und Kinder, die sie aus den Dörfern der Region entführt hat. Wer diesem Wald entkommt, ist für immer gezeichnet.
    "Sie haben mir nur meinen Namen gelassen. Alles andere haben sie mir genommen. Ich bin jetzt jemand anderes. Das spüre ich. Ich bin jetzt jemand, den ich nicht kenne."
    Sadiya, 38 Jahre alt. Die Marktfrau war neun Monate im Sambisa-Wald gefangen. Sie wurde gefoltert, vergewaltigt, zwangsverheiratet, musste als Sklavin arbeiten, ist schwanger von ihrem Peiniger. Sadiya ist eine von über siebzig Frauen, die der "Zeit"-Journalist Wolfgang Bauer im Norden Nigerias interviewen konnte. Frauen, die Unvorstellbares erlitten haben.
    "Der Mann, den ich heiraten musste, hieß Ali. (…) Ich tat alles, was der Mann von mir wollte. Wenn Du nicht mit ihnen schlafen willst, melden sie Dich dem Emir. (...) Ich kenne eine Frau, die sich weigerte, Sex zu haben. Ich habe gesehen, wie sie (..) wenig später ihre Leiche wegtrugen."
    Schmerzhaft, manchmal kaum erträglich sind die Berichte dieser Frauen. Auch deshalb, schreibt Wolfgang Bauer, "weil sie uns zeigen, wie beschränkt unser eigener Blick immer noch ist. Wie eng der Ausschnitt unserer Wahrnehmung. Wie kümmerlich unser Verständnis von dieser Welt und von dieser Zeit, die wir die 'unsere' nennen."
    Mit seinem Buch leistet der Autor einen wichtigen Beitrag, um den Ausschnitt der Wahrnehmung deutlich zu weiten. Über die Protokolle der entführten Frauen nähert sich Wolfgang Bauer schrittweise dem Phänomen Boko Haram: diesem mysteriösen Netzwerk, das sich binnen weniger Jahre gewandelt hat - von einer kleinen radikalislamischen Sekte zu einem internationalen Terrornetzwerk. Es hat bis heute eine Blutspur mit weit mehr als 20.000 Opfern hinterlassen, ein Kalifat ausgerufen und bedroht längst auch Nigerias Nachbarn Kamerun, Tschad und Niger. Ihr vielfach totgesagter Anführer Abubakar Shekau hat dem Islamischen Staat die Treue geschworen und taucht immer wieder in abartigen Bekennervideos auf.
    Mitten im Horror von Boko Haram
    Die bittere Armut in Nigerias Norden trotz des Ölreichtums, die massive Korruption, Staatsversagen, Terror gegenüber ethnischen und religiösen Minderheiten, zynische Interessenpolitik – das sind nur einige der Zutaten für die Entstehung von Boko Haram. Wolfang Bauer analysiert, wie die Terrorgruppe zwischenzeitlich ein Fünftel der nigerianischen Staatsfläche erobern und zu einem nur schwer besiegbaren Gegner werden konnte. Man erfährt viel über die Bewegung, die Dörfer und Städte überrennt, die mit Selbstmordattentätern - und kleinen Attentäterinnen – Hunderte Menschen auf einmal umbringt. So nahe, wie der Autor den geflüchteten Frauen und Mädchen kommt, so nahe kommen wir ihnen als Leser – wir reisen mit ihnen in den Sambisa-Wald. Mitten in den Horror von Boko Haram.
    "Sie köpften die Männer mit langen Schwertern. Sie drückten sie nieder. Einer hielt sie fest, der andere schnitt. Es dauerte sehr lange. (…) Sie hielten die Köpfe dann hoch, sodass wir sie alle sehen konnten, und warfen sie auf die Straße. Blut spritzte aus den Rümpfen. Die Körper zitterten. Wenn alles Blut heraus ist, hört der Körper auf zu zittern. (…) Ich kannte sie alle. Der Mann meiner ältesten Tochter war einer von ihnen. Er hieß Musa. Vor uns knieten außerdem: Haruna, Abdullah, Baba, Mai, Goro. Ich kann Dir auch die anderen Namen sagen."
    Den Opfern des Terrors zuhören
    Dieses Buch ist im wahrsten Sinne eine Zumutung. Warum sollen wir uns das antun, statt abzuwinken? Was ändert es, wenn wir wissen, was im Norden Nigerias vor sich geht?, fragt Wolfgang Bauer. Es ändert alles. Aus mehreren Gründen. Erstens ist angesichts der Globalisierung auch der Terror grenzenlos und klopft an unsere Haustür. Zweitens hat die Globalisierung einige Ursachen dieses Terrors begünstigt. Und drittens können wir, wie Bauer schreibt, diesen Terror nur dann wirklich und erfolgreich bekämpfen, wenn wir den Opfern zuhören: den Frauen.
    "Das Kind, das der Boko-Haram-Kämpfer mir im Wald gemacht hat, bekam ich vor drei Monaten. (...) Ich liebe das Kind nicht. Ich weiß, sein Vater hat die Verbrechen begangen, das Kind ist unschuldig. (…) Aber was für ein Mensch soll das Kind werden? Ich schaue es oft an und denke, ich muss doch was fühlen für dieses Kind. Aber ich fühle nichts. Ich hätte es töten sollen."
    Der Publizist Wolfgang Bauer
    Der Publizist Wolfgang Bauer (dpa / picture-alliance / Karlheinz Schindler)
    Nichts ist abstrakt in diesem Buch, alles konkret. Die Opfer sind mehr als nur Chiffren und Zahlen. Die Frauen haben Namen, sie haben Gesichter, die uns auf eindringlichen Porträt-Fotos von Andy Spyra anblicken. Und vor allem haben sie Geschichten, die sie ohne Pathos erzählen. Der Autor nimmt sich Zeit. Manche Interviews dauern mehrere Tage. Wolfgang Bauer versammelt Geschichten voller Tod, aber gleichzeitig auch voller Leben. So werden aus vermeintlich eindimensionalen Opfern, wie sie allzu häufig in Afrika-Reportagen vorkommen, wieder Menschen mit Würde. Wir lernen die Frauen kennen. Ihren Alltag, die Schule, die Familienstrukturen, die ethnische Vielfalt der Region, die Spiritualität. Aber die Frauen reden auch offen über Liebe, über Glück, Hoffnung – und Träume. Aus all dem hat Boko Haram sie herausgerissen.
    "Eine nach der anderen wurden wir verheiratet. Eine nach der anderen haben sie dafür aus unserer Kammer herausgeholt. Nach einiger Zeit haben sie sogar eine Zehnjährige an einen Kämpfer verheiratet. Ich habe ihren richtigen Namen vergessen."
    Wolfgang Bauer ist Zeuge geworden
    Deswegen ist die Beschreibung extremer Gewalt in diesem Buch wichtig und dient keinem Selbstzweck. Wolfgang Bauer ist Zeuge geworden. Seine Zeugenschaft enttabuisiert die Gewalt, weil sie – um mit der Publizistin Carolin Emcke zu sprechen – sagbar ist: eine reale Gewalt, mit der die Mädchen sonst alleine bleiben würden. Sie können sich nur befreien, indem sie darüber sprechen. Sie überwinden die eigene "Entsubjektivierung", um nicht bloß als gedemütigte, geschlagene, entmenschlichte Wesen weiterleben zu müssen. Es ist Wolfgang Bauers großes Verdienst, den "geraubten Mädchen" zugehört zu haben. Und ein ebenso großes, uns das zuzumuten.
    Wolfgang Bauer: "Die geraubten Mädchen. Boko Haram und der Terror im Herzen Afrikas."
    Suhrkamp Verlag 2016, 19,95 Euro.