Donnerstag, 18. April 2024

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Buch über Martin Luther
Willi Winkler: Der Papst sollte Luther heiligsprechen

Luther war kein Umstürzler, sagt der Publizist Willi Winkler, er wollte die Kirche "konservativ reformieren". Ohne seine Impulse hätte auch die katholische Kirche nicht überlebt, sie "wäre in den Abgrund gesunken in ihrer Korruptheit", so Winkler im Deutschlandfunk. Deswegen sollte Papst Franziskus Martin Luther heiligsprechen.

Willi Winkler im Gespräch mit Andreas Main | 26.08.2016
    Holzschnitt Martin Luthers von 1546, angefertigt vom deutschen Renaissance-Maler Lucas Cranach der Ältere.
    Der Renaissance-Maler Lucas Cranach der Ältere hat unser Bild von Martin Luther geprägt. Hier ein Holzschnitt Martin Luthers von 1546. Cranach malt Luther wieder und wieder - seriell. Wie einen Popstar. (imago / United Archives International)
    Willi Winkler schreibt für die Süddeutsche Zeitung. Vorher war er Redakteur bei der Wochenzeitung "Die Zeit" und Kultur-Chef beim Spiegel. Winkler ist 1957 im bayerischen Sittenbach geboren. Er hat zahlreiche Bücher veröffentlicht: über Bob Dylan, Mick Jagger und die Beatles. Winkler ist aber nicht nur Schriftsteller, Journalist und Literaturkritiker. Er hat auch wichtige Autoren übersetzt - etwa John Updike. Jetzt widmet sich Willi Winkler also dem großen Reformator. Sein Buch, das heute erscheint, hat den Titel: "Luther. Ein deutscher Rebell."
    Das Interview in voller Länge:
    Andreas Main: Dieser Martin Luther ist eine einzigartige Figur. Man muss sich nur anschauen, wer sich in diesen Monaten und Jahres alles mit ihm beschäftigt. Die besten Wissenschaftler fassen ihre Forschungen zusammen und erweitern sie. Schriftsteller nehmen sich seiner an. Und auch Journalisten, etwa eine Edelfeder wie Willi Winkler. Sein Buch, das heute erscheint, hat den Titel "Luther – ein deutscher Rebell". Willi Winkler ist fast 60 Jahre alt, also mit allen Wassern gewaschen. Er war Redakteur der Zeit, Kulturchef beim Spiegel und schreibt heute für die Süddeutsche Zeitung. Ihn begrüße ich im Studio in Hamburg: Hallo Herr Winkler.
    Willi Winkler: Hallo.
    Main: Herr Winkler, was sich bei mir bei der Lektüre besonders eingeprägt hat: Sie bezeichnen Luther immer wieder als einen konservativen Revolutionär. Was ist das "Konservative" an diesem Luther?
    Winkler: Er wollte kein Revolutionär sein. Er wollte nichts verändern. Er wollte zu den Ursprüngen zurück. Er fand, die Kirche, so wie er den Glauben verstand, völlig korrumpiert, völlig verdorben, völlig verweltlicht und weg von allem, was der Geist der Bibel, der Schrift war. Und dass er irgendwie als Bilderstürmer, als Umstürzler oder irgendwo in die Welt hinausgebrochen wäre, das kann man einfach nicht sagen. Er ist nicht in den Tempel wie Jesus und hat die Tische der Wechsler umgestürzt oder so was. Nein, er wollte die Kirche konservativ reformiert haben, so wie sie seiner Meinung nach hätte bleiben sollen, nach dem Wort Gottes oder Jesus.
    "Luther hat die Welt revolutioniert, ohne es zu wissen"
    Main: Dann ist er also ein Revolutionär wider Willen?
    Winkler: So kann man es sagen, natürlich. Er wollte – das ist ja jetzt das Jubiläum – mit den 95 Thesen schlicht eine akademische Diskussion anstoßen, die sich in der Tat auf das Papsttum bezogen hat, nämlich auf die Ablassfrage. Aber er wollte keineswegs den Papst stürzen – was er später dann tatsächlich wollte, als er erkannt hat, dass der Papst für ihn der Antichrist war.
    Natürlich hat er die Welt umgestürzt, aber das wusste er nicht. Und darum habe ich versucht, seine Bedingtheit herauszuarbeiten, also für mich herauszuarbeiten, dass es eben reiner Zufall war. Er wusste nichts über die Machtverhältnisse in der Welt. Er hatte keine Ahnung davon, dass der eine Kaiser alt ist und seinen Enkel zum Nachfolger bestimmen will. Er wusste nicht, dass der Papst – der dann regierende Papst – diesen Enkel um jeden Preis verhindern wollte. Und um jeden Preis ist wirklich buchstäblich zu nehmen, weil Leo X. war es herzlich egal, was Luther treibt, wenn er nur Karl V. als Widersacher des Papstes verhindern kann. Und Luther gerät da rein und nur deswegen, nur wegen dieses Machtvakuums, mit dem er nicht gerechnet hat, kann sich seine Lehre ausbreiten.
    Der Journalist und Buchautor Willi Winkler
    Der Journalist und Buchautor Willi Winkler (dpa / picture alliance / Arno Burgi)
    Main: Es hat in diesem Jahr bereits viele neue spannende Bücher gegeben zu Luther, zur Reformation – wir haben viele vorgestellt –, zu finden auch in unserem Dossier "Luther lesen" auf der Tag-für-Tag Internetseite, auf Deutschlandfunk.de. Die meisten kommen aus der Feder von Theologen, von Historikern, Kirchenhistorikern, Sie sind kein Fachwissenschaftler, Herr Winkler, aber Sie kennen die Wirkung von Medien. An Sie als langjähriger Medienprofi, was können Sie auch heute noch lernen vom Medienmenschen Martin Luther?
    Winkler: Das ist eine große Frage. Also, ich glaube, Luther ist als absoluter Naivling in die entstehende Mediengesellschaft hineingestürmt. Also, dieser berühmte Thesenanschlag, der wahrscheinlich keiner war, bestand ja darin, dass er Thesen verschickt hat, einerseits an die kirchliche Obrigkeit und dann an Kollegen und wollte mit ihnen nur disputieren. Diese Thesen waren auf Latein, das heißt, schon der Bischof konnte sie nicht verstehen, weil der nicht genug Latein konnte. Aber die sind sehr schnell übersetzt worden und daran hat sich das entzündet. Die wurden rasend schnell auf Deutsch dann – gegen seinen Willen – verbreitet.
    "In der Kulturöde von Wittenberg entsteht unsere Medienwelt"
    Diesen Kairos, diesen Augenblick hat Luther ergriffen: 'Jetzt kann ich das, was mich drückt popularisieren, denn das ist ja 'evulgare', ins Volk hineintragen, jetzt finde ich Zuhörer. Also, die Obrigkeit hat kein Interesse, die antwortet nicht mehr auf mich, aber das Volk.' Dann hatte er – man muss sich das eben so vorstellen – in diesem winzigen Wittenberg - mit einer ganz neuen 'Beton-Universität', also vergleichbar wie in den 70er Jahren, sowas auf der Wiese –, hatte er gleich 700 Meter weiter die Druckwerkstatt von Lucas Cranach, von dem Maler, der auch seine Bilder, das Image von ihm kreiert hat. Und Cranach braucht Druckaufträge – also Luther jammert irgendwann darüber: 'Meister Lucas verlangt, dass ich immer mehr schreibe.' Aber Sie müssen sich das so vorstellen: Er sitzt in seiner Zelle, schreibt ein neues Pamphlet gegen den Papst, geht vor, der druckt das sofort und es wird ihm aus der Hand gerissen.
    Die Medienwelt, wie man sie sich heute vorstellen – der eine macht was, der andere reagiert und so weiter –, die beginnt genau auf diesen 700 Metern in Wittenberg. Am Ende der Welt, muss man natürlich dazusagen, dahinter ist das Nichts, also, da ist die Kulturöde. Aber genau da beginnt es, das kann man so unter dem Mikroskop beobachten. Und das fand ich natürlich faszinierend.
    "Luther ist Pop"
    Main: Willi Winkler im Deutschlandfunk, Sie schreiben im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung Buchbesprechungen, Glossen, Filmkritiken und zeitkritische Kommentare. In Ihren Büchern geht es zum Beispiel in einem um die Beatles, dann um Mick Jagger, dann um Bob Dylan. Ist Martinus Luther in gewisser Weise auch Pop?
    Winkler: Ja, ich wusste, dass diese Frage kommt.
    Main: Woher wussten Sie das?
    Winkler: Bei meiner Vorgeschichte unvermeidlich. Aber ich bin trotzdem seriös. Also, ich lege ganz großen Wert darauf, dass dieses Buch jedem wissenschaftlichen Anspruch genügt. Ich habe Neuhochdeutsch zitiert, Frühneuhochdeutsch zitiert, Lateinisch, ich habe nur mit Quellen gearbeitet ... egal.
    Natürlich ist Luther ein Popstar zu seiner Zeit – vor viel größeren Figuren, wie zum Beispiel Erasmus von Rotterdam, gibt es ein Bild von ihm. Das hängt wieder mit dem Maler Lucas Cranach zusammen, der den ersten Kupferstich von ihm fertigt und einen Markt entdeckt. Cranach lebt zum großen Teil davon, dass er unendlich viele Lutherbilder malt. Es entsteht eben die Nachfrage: Wie sieht er denn aus? Man möchte wissen, wie er ist. Und Cranach bildet ihn erst als diesen hageren Mönch ab, dann mit Doktorhut und dann wird er immer fetter. Luther ist ja ein gestandenes Mannsbild am Schluss, er kann vor Kraft nicht mehr gehen, aber sehr gut stehen – er wird denkmalfähig. Und das, das hat alles Cranach abgebildet. Und das ist tatsächlich Pop, das kann man so nennen.
    Main: Sie hören die Sendung "Tag für Tag, aus Religion und Gesellschaft", im Gespräch mit dem Autor Willi Winkler. Herr Winkler, Luther, ein Ex-Mönch, der eine intensive Beziehung zum Teufel pflegt, der Angst vor der Hölle hat, ein Mann, der schwarz-weiß denkt, warum beschäftigt sich ein linksliberaler Intellektueller – wenn ich das so sagen darf – 500 Jahre später mit einer Denkwelt, die Sie ja doch auch als anachronistisch empfinden?
    Winkler: Na ja, sie ist nicht von heute, natürlich ist sie anachronistisch. Aber ich finde das einfach faszinierend. Allein dieses Kräftegleichgewicht, das eben besteht und wieder nicht besteht in Europa, dass von unten her die Türken drohen, dass eben Amerika entdeckt worden ist, dass man nicht weiß, wer Kaiser werden soll. Also, das muss man sich ja mal vorstellen, dass tatsächlich Heinrich VIII., der Vielweiberer, ein Kandidat war für das Amt des deutschen Kaisers, weil der Papst unbedingt den Spanier Karl V. - er nannte ihn 'den Katholiken' - verhindern wollte. Das ist uns alles wahnsinnig fremd, aber ich finde das unglaublich interessant.
    Ich muss sogar auf meine alten Tage einem Sozialdemokraten wie Steinmeier Abbitte tun, wenn der mit der Türkei verhandelt und mit Russland und so weiter – da sieht man alles da schon, wie da ununterbrochen Diplomatie stattfindet um Luther herum. Also insofern ist es überhaupt nicht anachronistisch, sondern ich lebe da drin.
    Main: Sie leben da drin, es steckt unglaublich viel Herzblut in Ihrem Buch, auch massiv Arbeit. Der Anmerkungsapparat und die Literaturhinweise sind allein 50 Seiten lang. Ich erlaube mir dennoch die Bemerkung – ich meine das nicht wertend –, dass selbst Werke von evangelischen Theologieprofessoren, die jüngst erschienen sind, dass die stärker auf Distanz zu Luther gehen als Sie.
    Winkler: Das kann sein.
    Main: Ist das eine eindeutige Parteinahme? Wie ist die motiviert?
    Winkler: Sie haben wahrscheinlich Recht, aber es ist keine eindeutige Parteinahme. Der alte Luther, der große Hassprediger Luther, ist mir natürlich so widerwärtig wie jedem anderen, aber ich finde das ein bisschen schwach, dass gerade die evangelischen Theologen jetzt so demütig werden und immer so ein bisschen vorsichtig mit ihrem Luther auftreten: 'Ja, er war halt doch ... er hatte seine menschlichen Schwächen ...' Ja, Herrgott, Sakrament, natürlich! Es entsteht doch da zum ersten Mal ein Mensch, es gibt doch vorher niemanden! Man weiß doch über niemanden vorher irgendwas. Weiß man irgendwas über Heinrich IV., außer dass er im Schnee in Canossa gekniet hat? Friedrich Barbarossa? Das sind doch alles Erfindungen, der hat den langen Bart. Gut.
    Die Erb- und Ursünde des Christentums: Judenhass
    Aber Luther ist ein Mensch, der vor einem dasteht. Natürlich hat er zu viel gegessen, zu viel getrunken und was das Unerträglichste ist, das ist natürlich sein Judenhass. Wiederum muss man sagen, das unterscheidet ihn überhaupt nicht von seiner Umwelt, das ist, sagen wir mal, die Erb- und Ursünde des Christentums: der Judenhass. Aber dass die Evangelen jetzt irgendwie so vorsichtig und immer so defensiv auftreten, statt sich zu freuen, dass es mal einen Heros gab, dass jemand wirklich in Worms vor dem Kaiser steht und sagt: 'Egal, wie mächtig du bist, egal, wenn du mich köpfen willst, ich höre nur auf mein Gewissen!'
    Main: Also muss ein bayerischer Katholik daherkommen und den Furor und den heiligen Zorn des Helden Martin Luther teilen?
    Winkler: Ja, warum nicht?!
    Luther als Erfinder des Individuums
    Main: Abschließend nochmal hin zu Ihrem Helden. Sie arbeiten ja vor allem auch die Modernisierungsschübe heraus, die von Luther und von der Reformation ausgehen. Wenn wir uns unser Leben heute anschauen, was ist aus Ihrer Sicht die wichtigste Innovation, die wir diesem Theologen verdanken, der uns so fern und so nah erscheint?
    Winkler: Er ist sicher nicht der Einzige, aber doch der Wichtigste, auf den wir uns berufen können in dem Sinne, dass wir Individuen sein können, dass wir als jeder Einzelne das Recht zur Selbstbestimmung haben, zur Äußerung, zur Meinungsfreiheit.
    Main: Gewissensfreiheit.
    Winkler: Was bei ihm Gewissensfreiheit ist. Ohne ihn - was weiß ich, was ohne ihn wäre? - aber in dem Sinne ist er der Vorläufer der Aufklärung, die er – das muss man aber immer dazu sagen – gleichzeitig wieder um 200 Jahre verzögert hat durch seine freiwillige Knechtung unter die Fürstenherrschaft. Aber mit ihm in seiner Zeit, in seinem Auftreten entsteht das Recht, ein Individuum zu sein. Also, er ist tatsächlich das, was die Renaissance, was die Humanisten wollten. Damit hatte er überhaupt nichts zu tun, aber er wird es durch sein Auftreten.
    Heiligsprechung Luthers
    Main: Im Nachwort Ihres Buches gibt es dann eine Idee, die mich wirklich fasziniert, von der ich aber fast vermute, dass Sie die nicht ganz ernst meinen: Sie empfehlen Papst Franziskus, er möge doch jetzt nun endlich Martin Luther heiligsprechen.
    Winkler: Richtig.
    Main: Warum?
    Winkler: Es bleibt ihm doch nichts Anderes übrig, wenn man ehrlich ist. Wenn man Gewissenserforschung betreibt, muss man doch sagen: Ohne einen Widerständler, ohne einen Aufrührer, ohne einen Revoluzzer wie Luther, hätte die katholische Kirche gar nicht überlebt, die wäre einfach in den Abgrund gesunken in ihrer Korruptheit. Aber sie musste sich erneuern: Es ist das Barockdrama entstanden, es sind die Jesuiten entstanden. Da muss man doch irgendwann mal seine Dankbarkeit zeigen. Und jetzt wäre eine gute Gelegenheit.
    Main: Zu einem Heiligsprechungsprozess gehören allerdings auch Wunder. Welche wären das, die Sie bei Martin Luther feststellen?
    Winkler: Es ist das Wunder, dass er sich durchsetzen konnte gegen alle Mächte dieser Welt und gegen den Teufel, mit dem er auf eine sehr ungesunde Art verschwistert, verbrüdert, verbandelt war. Ein Rosenwunder kann ich nicht bieten oder irgend so einen Blödsinn oder ein Blutwunder oder irgendwas Wandlungsmäßiges. Aber dieser Mann ist ein Wunder für sich.
    Main: Die Reformation wird 500 Jahre alt, und Willi Winkler hat sich mit einem ihrer Protagonisten beschäftigt, mit Martin Luther. Sein Buch "Luther – ein deutscher Rebell" erscheint heute im Verlag Rowohlt Berlin, hat 640 Seiten und kostet knapp 30 Euro. Willi Winkler, danke für Ihre Einblicke in eine so fremde Welt. Danke für dieses Gespräch.
    Winkler: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.