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Buch von IW-Chef Hüther
Deutschlands neue Führungsrolle in der Welt

Durch seine ökonomische Stärke ist Deutschland in den vergangenen Jahren eine Schlüsselrolle in Europa und der Welt zugefallen. Wie mit dieser neuen Stellung umgehen? Damit beschäftigen sich die Bücher von Michael Hüther und Stephan Bierling – mit überraschenden Analysen der deutschen Geschichte.

Von Wilfried Dolderer | 22.09.2014
    Porträt von Michael Hüther
    Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (picture alliance / dpa / Karlheinz Schindler)
    Europas unverzichtbare Nation: Das Kompliment an die Deutschen kam von einem, dem man es nicht unbedingt zugetraut hätte. Ein polnischer Außenminister vertritt schließlich ein Land, das mit deutscher Machtentfaltung viele schlechte Erfahrungen gemacht hat. Umso dringlicher die Mahnung, die Radosław Sikorski Ende November 2011 an sein Publikum in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik richtete: Deutsche Macht sei weniger zu fürchten als deutsche Tatenlosigkeit. Deutschland dürfe sich seiner Führungsverantwortung nicht verweigern.
    Sikorskis Appell liegt fast drei Jahre zurück. Er hat aber offenbar nachhaltig genug geklungen, dass das Echo jetzt bei so unterschiedlichen Autoren wie Stephan Bierling und Michael Hüther zu hören ist. Bierling ist Professor für internationale Politik und transatlantische Beziehungen in Regensburg. Er hat über die US-Außenpolitik seit 1917 geschrieben, über den Irak-Krieg und die Außenpolitik der Bundesrepublik seit 1949. Jetzt legt er eine Darstellung der Außenpolitik des vereinten Deutschland vor, in der Sikorskis Appell das Vorwort eröffnet. Auch Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, beruft sich auf den polnischen Gewährsmann. Von Bierling unterscheidet ihn ein programmatisch anmutender Anspruch. Er hat ein Plädoyer geschrieben für die Rückbesinnung auf den Wert des Nationalstaats als einer europäischen Erfindung.
    "Europa ist auf das Selbstbewusstsein seiner Nationen und die Handlungsfähigkeit seiner Nationalstaaten angewiesen. Die Zukunft Europas wird in der Verknüpfung der Nationalstaaten durch ein Netz des Friedens und der Freiheit liegen und nicht in einer politischen Union."
    Als Euroskeptiker will sich Hüther keineswegs verstanden wissen. Vielmehr als Vertreter einer realistischen Europa-Sicht. Er wendet sich gegen jene, die den Nationalstaat für historisch erledigt erklären. Für ein verstaubtes Gebilde aus dem 19. Jahrhundert, das in der Geschichte genug Schaden angerichtet habe und am besten schnellstmöglich supranational zu entsorgen sei.
    Deutschland ist für Hüther eine junge Nation
    "Es ist politisch opportun, so ein Bild an die Wand zu malen eines europäischen Bundesstaates, und ich frag dann immer nach, was das heißen soll. Was ist das? Welche Souveränitätsverteilung haben wir? Wer bestimmt worüber? Wo ist der öffentliche Raum, der zu gestalten ist, von welchem Souverän? Da gibt's in der Regel keine Antworten."
    Der Bürgergesellschaft einen öffentlichen Raum zu schaffen, in dem sich der demokratische Diskurs entfalten kann, gerade das hingegen ist für Hüther die Funktion und besondere Qualität des Nationalstaats, den er als Produkt der europäischen Aufklärung würdigt. Er sei damit "grundsätzlich und einzigartig" der Ort demokratischer Legitimität. Hier liegt der Autor auf einer Linie mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das im Prozess der europäischen Integration wiederholt um der Demokratie willen angemahnt hat, die nationalen Souveränitätsrechte zu wahren. Dass der Nationalstaat unverändert das passende Organisationsprinzip für die Volkssouveränität sei, sieht Hüther nicht zuletzt durch den Umbruch in Mittel- und Osteuropa nach 1989 belegt. Erneut habe sich damals erwiesen, dass individueller Freiheitsdrang und der Ruf nach nationaler Selbstbestimmung zusammengehören. Aus Sicht des Ökonomen widerspricht Hüther überdies der landläufigen Auffassung, dass durch die Globalisierung nationale Eigenheiten unvermeidlich eingeebnet würden.
    "Globalisierung heißt, das wird in der öffentlichen Wahrnehmung gerne verdrängt, immer auch, dass sich Spezialisierungsmuster herausbilden. Das heißt nämlich nicht Gleichheit. Sondern das heißt, dass die, die besondere Kompetenzen haben, die auch besonders ausprägen können.Und das ist nur, glaube ich, für jeden erkennbar auch ein Hinweis, dass Globalisierung genauso eine Differenzierungsgeschichte ist."
    Deutschland ist für Hüther eine junge Nation, deren Geschichte nicht mit König Heinrich I. im zehnten Jahrhundert, auch nicht mit der Reichsgründung 1871, sondern eigentlich erst 1990 beginnt. Erst mit dem Zusammenschluss der beiden deutschen Nachkriegsstaaten habe die "verspätete Nation" Anschluss an das prototypische Modell nationalstaatlicher Entwicklung gefunden, das Hüther von England und Frankreich repräsentiert sieht.
    Wie nimmt Hüthers "junge", Sikorskis "unverzichtbare" Nation ihre Rolle in Europa und der Welt wahr? Das ist das Thema Stephan Bierlings, der die Antwort im Titel seines Buches vorwegnimmt: Vormacht wider Willen. Und durchaus kritisch bilanziert:
    "Deutschland ist ein risikoscheuer, post-militärischer Handelsstaat, der sich auf die EU konzentriert, friedliche Mittel der Krisenbewältigung präferiert und Führungsaufgaben ablehnt. Ob dies ausreicht, die Euro-Zone zusammenzuhalten, die europäische Peripherie zu stabilisieren und die Gefahren zu minimieren, die sich aus Staatszerfall und islamischem Terrorismus ergeben, kann bezweifelt werden."
    Diskussion über einen deutschen "Export von Sicherheit"
    Bierling bietet eine klar strukturierte Übersicht der wesentlichen Themen deutscher Außenpolitik seit der Wiedervereinigung. Der Bogen spannt sich vom zweiten Golfkrieg 1990/91 bis zum aktuellen Konflikt um die Ukraine. Die Darstellung gliedert sich nach den Kanzlerschaften Helmut Kohls, Gerhard Schröders und Angela Merkels. Und innerhalb dieser drei Hauptteile nach einem festen Schema. Äußere Sicherheit, Europa, die Beziehungen namentlich zu Russland, China, den USA, schließlich der Umgang mit globalen Herausforderungen wie Klimawandel oder Menschenrechte. Den normativen Maßstab bezieht Bierling von Bundespräsident Joachim Gauck, der zum Tag der Deutschen Einheit im vergangenen Jahr sagte:
    "Ich mag mir nicht vorstellen, dass Deutschland sich groß macht, um andere zu bevormunden. Aber ich mag mir genauso wenig vorstellen, dass Deutschland sich kleinmacht, um Risiken zu umgehen."
    Gemessen daran, fällt das Urteil durchwachsen aus. In der Frage, wie sich die Deutschen zu der Anforderung verhalten sollen, künftig auch zum "Export von Sicherheit" beizutragen, klafft seit zwei Jahrzehnten zwischen Elitendiskurs und Mehrheitsstimmung ein unüberbrückbarer Gegensatz. Die von Schröder bekundete Bereitschaft zu "Risiken, auch im Militärischen" sei unter Merkel wieder dem innenpolitischen Opportunismus geopfert worden. Der deutsche Auftritt in Afghanistan nicht weniger als Guido Westerwelles Mantra von der "Kultur der Zurückhaltung" grenzt für Bierling an Verweigerung der Bündnissolidarität. Europa bescherte den Deutschen ein fast tragisches Paradox. Die Entscheidung für den Euro entsprang dem aufrechten Willen zu europäischer Selbsteinbindung. Doch es kam anders.
    "Die Krise verlangt der Bundesrepublik das ab, was sie seit ihrer Gründung unter allen Umständen vermeiden wollte: führen zu müssen (...) Ihre schiere ökonomische Stärke hat sie in der Wirtschafts- und Währungspolitik gegen ihren Willen und ohne ihr Betreiben zum Schlüsselland in Europa gemacht."
    Eine Bilanz nach 25 Jahren, wenn auch aus unterschiedlichen Blickwinkeln, das ist das beide Autoren verbindende Anliegen. Was sich in dieser Zeit verändert habe, sei nicht zuletzt der Blick von außen, meint auch Hüther:
    "Die Forderung, dass dieses Deutschland sich einbringen möge, mit seinen positiven Kräften, mit seinen Potenzen, wird immer deutlicher artikuliert. Es wird in den letzten Jahren auch deutlicher in Deutschland selbst gesehen."
    Lesenswerte und anregende Beiträge zu dieser Debatte sind beiden Autoren gelungen.
    Die Bücher:

    Michael Hüther: Die junge Nation. Deutschlands neue Rolle in Europa. Murmann Verlag, 296 Seiten,19,90 Euro.

    Stephan Bierling: Vormacht wider Willen. Deutsche Außenpolitik von der Wiedervereinigung bis zur Gegenwart. C.H. Beck Verlag, 304 Seiten, 16,95 Euro.