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Bucher: Echte Ganztagsschulen machen Schüler glücklicher

Die neue ZDF-Glücksstudie konstatiert, dass viele Kinder und Jugendliche Schule als Glückkiller Nummer eins empfinden. Nach Ansicht des Erziehungswissenschaftlers Anton Bucher von der Universität Salzburg, der die Studie erarbeitet hat, habe die Schule zwar viel Potenzial in sich, doch lange Unterrichtszeiten und zusätzliche Hausaufgaben nach der Rückkehr aus der Schule raubten den Betroffenen die Lust am Lernen.

Moderation: Dirk Müller | 12.11.2007
    Müller: Noten, Leistungen, Beurteilungen. Das ist nicht alles was zählt in der Schule. Es zählt auch die persönliche Entwicklung, die soziale Kompetenz oder auch ganz einfach, dass sich die Kinder wohl fühlen in der Schule, dass sie spannend ist, dass sie aufregend ist. Genau das allerdings ist wohl auch das Problem, behauptet eine neue Studie der ZDF-Medienforschung, denn je älter die Kinder werden, desto weniger glücklich sind sie in der Schule. Bei den 6jährigen klappt das noch ganz gut, bei den 13jährigen nicht mehr so gut. Verantwortlich für die Studie ist der Theologe und Erziehungswissenschaftler Anton Bucher von der Universität Salzburg. Guten Morgen!

    Bucher: Guten Morgen!

    Müller: Herr Bucher, ist die Schule Brutstätte des Unglücks?

    Bucher: So krass würde ich es nicht sehen. Ich würde sehr positiv formulieren oder positiv wenden, dass die Schule das Potenzial in sich hat, dass die Kinder sich in ihr wohl fühlen könnten. Wir werden am nächsten Donnerstag in Mainz die Ergebnisse der ZDF-Glücksstudie präsentieren. Da bin ich natürlich vorläufig noch zur Verschwiegenheit verpflichtet, aber sagen darf ich, dass die Schule - in der Presseaussendung ist das auch so formuliert worden - nach wie vor der Glückskiller Nummer eins ist. Ich darf aber Bezug nehmen auf eine Studie, die wir vor einigen Jahren im Bundesland Salzburg auch repräsentativ durchgeführt hatten, und da hatten wir festgestellt, dass die Befindlichkeit in der Schule noch geringfügig höher ist als diejenige beim Zahnarzt, aber wesentlich geringer als natürlich in den Ferien, als bei den Freunden, als in der Familie und so weiter.

    Müller: Das hört sich aber so an, als wäre die Schule, als wären die Lehrer, als wäre diese Institution äußerst brutal?

    Bucher: Als brutal würde ich das auch wieder nicht bezeichnen. Vielleicht noch einmal positiv formuliert: Es gibt Schulformen, in denen sich Kinder wesentlich glücklicher fühlen als in der Regelschule. Das sind beispielsweise die ganztägigen Schulen, die wirklich ganztägigen Schulen, wo nicht sechs, sieben, acht Stunden hintereinander einfach Fachunterricht erteilt wird, sondern wo dazwischen Kinder sich auch bewegen können, wo sie kreativen Tätigkeiten nachkommen können. Ich denke vorzugsweise an die Laborschule in Bielefeld, wo die Kinder wirklich sehr, sehr gerne hingehen.

    Noch einmal: Die Schule hat viele Potenziale in sich. Aber wenn es nach wie vor so gehandhabt wird, wie ich angedeutet habe, sechs, sieben Stunden hintereinander Stress und so weiter, keine Erholung dazwischen, dann ist das problematisch. Hinzu kommt ein weiteres. Ein Glückskiller Nummer eins sind auch die Hausaufgaben und auch das wäre ein Vorzug einer ganztägigen Schule, wenn am Nachmittag gezielt einfach individuell Schülerinnen und Schüler betreut würden, so dass wenn die Schule aus wäre dann wirklich auch aus ist und Kinder nicht noch zwei, drei Stunden gelegentlich an den Hausaufgaben sitzen müssten, wo wir ja auch wissen, dass dann im Elternhaus die Betreuung von der sozialen Schicht oder von der Bildungsschicht der Eltern her sehr unterschiedlich ist.

    Müller: Herr Bucher, Sie haben darauf hingewiesen: Diese Studie wird erst am Donnerstag veröffentlicht. Ein paar Dinge können wir ansprechen aus Ihrer Erfahrung, die Sie in den vergangenen Jahren aus anderen Studien heraus erfahren und gewonnen haben. Sie haben zwei Dinge genannt: sechs bis sieben Stunden beispielsweise Lernmarathon ohne große Pausen. Hausaufgaben haben Sie gesagt sind Glückskiller Nummer zwei. Nun sagen ja viele, früher ist das anders gewesen. In den 50er und 60er Jahren hat es nicht diese Infragestellung von Schule gegeben. Können wir davon ausgehen, weil das ja früher auch schon so war, dass es damals schon der Glückskiller schlechthin war?

    Bucher: Das ist natürlich schwierig zu sagen, weil mir da keine Daten vorliegen. Aber ich könnte mir das durchaus vorstellen, dass es so war, und zwar auch deswegen, weil früher der Erziehungsstil generell ein anderer gewesen ist. Nicht nur in den Familien; da kann man ja sagen, da ist aus den traditionellen Gehorsamshaushalten ein Verhandlungshaushalt geworden und früher war es in der Schule sicherlich wesentlich autoritärer.

    Müller: Und aus diesem Verhandlungshaushalt und aus diesem Verhandlungsregime sind jetzt unglückliche Schüler geworden?

    Bucher: Ja oder anders gesagt, es sind vielleicht Kinder, die zu Hause mehr mitbestimmen können, die partizipieren können an einem Verhandlungshaushalt. Die kommen dann in eine Institution, die noch eher traditionell, nach traditionellen Werten strukturiert ist. Traditionelle Gehorsamswerte und so weiter sind in der Schule nach wie vor ausgeprägt. Im Großen und Ganzen bin ich aber auch zuversichtlich, dass der Interaktionsstil in den Schulen historisch betrachtet auch wesentlich kindgemäßer geworden ist. Ich erinnere mich an eine Statistik von einem schwäbischen Lehrer. Der hat im 19. Jahrhundert gelebt und der hat Buch geführt, wie Viele Watschen, Ohrfeigen er verteilt hat und wie viele Kopfnüsse. Bei den Kopfnüssen ist er in seiner Berufskarriere auf mehr als eine Million Stück gekommen. Das gibt es Gott sei Dank nicht mehr, aber noch einmal positiv formuliert: ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass die Schule das Potenzial in sich hat, das Wohlbefinden der Kinder zu heben. Erwiesenermaßen ist es so, dass Kinder, wenn es ihnen gut geht, einfach mehr, effizienter und auch schneller lernen.

    Müller: Herr Bucher, ich versuche einmal gegenzuhalten aus der Sicht von konservativen Eltern oder konservativen Großeltern, die andere Erfahrungen gemacht haben. Da gibt es ja häufig das Argument, die Schüler sind zu verwöhnt, die sind zu anspruchsvoll. Ist das so?

    Bucher: Ich kenne diesen Diskurs und das wird in der Bundesrepublik ja auch wieder intensiver diskutiert mit dem Lob der Disziplin, vom früheren Direktor der Schlossschule in Salem angesprochen oder angestoßen worden. Diesbezüglich würde ich meinen, natürlich ist Disziplin auch wichtig, aber aus der Glücksforschung wissen wir auch wieder, dass Kinder, wenn sie sich wohl fühlen, wenn es ihnen gut geht, in der Regel auch disziplinierter sind, in der Regel altruistisch, moralischer, freundlicher, sozialer und so weiter sind. Nur solch äußeren Zwang auszuüben, das löst auch bei Schülerinnen und Schülern zurecht Widerstand aus.

    Etwas schien mir auch sehr wichtig zu sein. Es ist vielleicht auch ein bisschen eine altmodische Kategorie. Das ist diejenige der Begeisterung. Wenn ein Lehrer wirklich begeistert ist, dann steckt er damit auch Schülerinnen und Schüler an. Andererseits haben Lehrer auch zu Unrecht immer wieder gegen negative Stereotype "die angeblich faulen Lehrer, die viel zu viel Ferien hätten" anzukämpfen. Das ist natürlich sowohl für die Lehrerinnen und Lehrer als auch für die Schülerinnen und Schüler wenig förderlich.

    Müller: Welche Verantwortung tragen die Eltern?

    Bucher: Die Eltern tragen letztlich sowieso die Letztverantwortung. Sie haben die primäre Erziehungspflicht und es ist erwiesenermaßen ja auch so und das wird jetzt immer wieder diskutiert, dass die Eltern viele Erziehungsaufgaben an die Schulen delegieren würden. Das finde ich höchst problematisch, weil die Schule niemals die Prägekraft und das Erziehungspotenzial hat, wie es die Eltern haben. Letztverantwortlich - davon bin ich als Vater von sechs Kindern zutiefst überzeugt - sind einfach nach wie vor die Eltern, wobei natürlich die Voraussetzungen der Eltern gerade was die Bildungslaufbahn ihrer Kinder anbelangt sehr unterschiedlich sind. Und wir wissen ja auch, dass sowohl die Bundesrepublik als auch Österreich zu denjenigen Ländern gehören mit der größten Ungleichheit in den Bildungschancen.

    Müller: Schule kann unglücklich machen.

    Bucher: Schule kann unglücklich machen!

    Müller: Das sagt der Salzburger Theologe und Erziehungswissenschaftler Anton Bucher. Vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Bucher: Auf Wiederhören!