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Buchrezension "Codename Caesar"
Jede Leiche erhält drei Nummern

Herausgerissene Augen, eingeschlagene Zähne, Spuren von Schlägen mit Stromkabeln - das zeigen die Leichenbilder eines ehemaligen syrischen Militärfotografen mit dem Deckname Caesar. Die französischen Journalistin Garance Le Caisne hat den Exil-Syrer in Europa aufgespürt. Caesar schaffte es, 50.000 Bilder ins Ausland zu schmuggeln, die die staatliche syrische "Todesmaschinerie" belegen.

11.04.2016
    Ein Mann liest das Buch "Codename Caesar" von Garance Le Caisne. Eine Recherche über die Foltermethoden des syrischen Regimes. Baschar al-Assad Syrien Militärfotograf
    "Codename Caesar" beschreibt die Methoden in syrischen Foltergefängnissen (AFP/Florian David)
    Dieses Buch zu lesen ist eine Qual. Immer wieder muss man es zur Seite legen. Die beschriebenen Grausamkeiten sind so unfassbar, dass man sie kaum ertragen kann. Und dieses Buch der französischen Journalistin Garance Le Caisne ist eine Anklageschrift gegen das syrische Regime von Präsident Baschar al-Assad. Le Caisne erzählt die Geschichte eines früheren syrischen Militärfotografen, Deckname Caesar. Seit Ausbruch des Bürgerkrieges 2011 bestand seine Aufgabe vor allem darin, die entstellten Toten aus den syrischen Foltergefängnissen abzulichten, wie er erzählt.
    "Zu Beginn trug jede Leiche einen Namen. Nach einer Weile, es müssen ein paar Wochen oder Monate gewesen sein, hatten sie keine Namen mehr, bloß Nummern. In der Leichenhalle des Krankenhauses von Tischrin zog ein Soldat sie aus den Kühlschränken und legte sie auf den Boden, damit sie fotografiert werden konnten, bevor sie zurück in die Kühlschränke kamen."
    50.000 Folterbilder aus Syrien geschmuggelt
    Caesar ging seiner Aufgabe bis zu seiner Flucht aus dem Land vor drei Jahren gewissenhaft nach – kopierte die Bilder jedoch gleichzeitig heimlich und schmuggelte sie hinaus – auf USB-Sticks, die er im Gürtel oder Schuhabsatz versteckte. Ein lebensgefährliches Unterfangen. Mithilfe von Mitstreitern schaffte er mehr als 50.000 Bilder ins Ausland – um der Gerechtigkeit Willen, wie er sagt. Die Bilder sind die Dokumente der staatlichen syrischen "Todesmaschinerie", wie Le Caisne schreibt. Die Leichen zeigten Spuren von Folter und Gewalt, die sich kaum beschreiben ließen. Der Militärfotograf Caesar litt massiv unter dem, was er täglich erlebte.
    "Nie zuvor hatte ich so etwas gesehen. Vor der Revolution folterten die Mitglieder des Regimes, um an Informationen zu kommen. Heute foltern sie, um zu töten. Ich habe Kerzenspuren gesehen. Einmal war der Abdruck einer Heizplatte zu erkennen, wie man sie benutzt, um Tee zu erhitzen. Man hatte einem Gefangenen Gesicht und Haare damit verbrannt. Manche hatten tiefe Schnitte, herausgerissene Augen, eingeschlagene Zähne, Spuren von Schlägen mit Starterkabeln. Es gab Wunden, die voller Eiter waren, als hätten sie sich infiziert, weil man sie lange nicht versorgt hatte."
    Ebenso unfassbar ist, mit welcher Akribie die syrische Staatsbürokratie Buch über die Leichen führt. Jede Leiche erhält gleich drei Nummern, die festgehalten werden. Caesar musste die Fotos ausdrucken, ordnen, auf Aktendeckel kleben und abheften. So entstand in einer grausamen Routine ein Archiv des Terrors. Für Caesar das Ergebnis eines Staates, der von Geheimdiensten kontrolliert wird.
    "Wie in den einstigen Ostblockstaaten wird in Syrien jede Information festgehalten, jedes Dokument archiviert. Ein Staat, der jedem seiner Untertanen misstraut, neigt dazu, alles und jeden zu klassifizieren, um abweichendem Verhalten vorzubeugen. In Syrien traut innerhalb des Regierungsapparats keiner dem anderen über den Weg (…) In den Hafteinrichtungen des Geheimdienstes sterben Gefangene durch Verhungern oder unter der Folter? Das ist geheim, aber aktenkundig und beurkundet. Mit Totenscheinen, auf denen von einem natürlichen Tod die Rede ist."
    Die Verantwortlichen sind sich ihrer Sache sehr sicher, wie Caesar glaubt:
    "Die Sicherheitsdienste leben in dem unerschütterlichen Gefühl der völligen Straffreiheit ihres Tuns. Dass man sie eines Tages für ihren Machtmissbrauch zur Rechenschaft ziehen könnte, kommt ihnen keinen Augenblick in den Sinn. Sie wissen, wie einflussreich die Kräfte sind, die das Regime stützen."
    Erinnerung an die Nazi-Verbrechen
    Die Autorin Le Caisne ist in ihrem Urteil eindeutig. Sie sieht in den Fotos erdrückende Beweise gegen das Regime. Le Caisne erinnert das Ausmaß der Gewalt und das Verhalten der syrischen Regierung an die Verbrechen der Nazis. "Nummern, Fotos, ausgemergelte Körper. Was man sieht, hat man schon einmal gesehen. Caesars Fotos und das, was sein Bericht an den Tag bringt, lassen mich an die Judenvernichtung denken, an die Shoah. Auch wenn es der Geschichte und der Rechtsprechung überlassen bleibt, über die Verbrechen des syrischen Regimes zu befinden."
    Fast 120.000 Menschen sind seit 2011 laut Schätzungen von Menschenrechtlern in syrischen Gefängnissen verschwunden. Le Caisne lässt auch ehemalige Häftlinge zu Wort kommen, die freigelassen wurden. Ihre geschilderten Horrorerlebnisse geben ein klares Zeugnis von den unmenschlichen Verhältnissen in den Haftanstalten – wie sie auch der Syrer Abu al-Laith erlebte:
    "Nach drei Tagen Misshandlung wird Abu al-Laith in eine winzige lichtlose Kammer gesteckt, in der er sich kaum rühren kann. Er spürt etwas, das gegen ihn drückt, tastet mit der Hand und erkennt einen Körper. Dann zwei, drei. Ineinander verkeilt, kalt. Kein Atemzug, aber ein atemberaubender Gestank. Auf seinen Schenkeln bewegt sich etwas, es kribbelt. Maden? Der Mann fängt an zu schreien. Er brüllt. Heult. Die Leichen machen ihm Angst."
    Bildbeweise bisher ohne politische Folgen
    Baschar al-Assad bestreitet zwar die Echtheit der Fotos. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch haben jedoch keinen Zweifel an ihrer Authentizität. Das FBI erklärte nach der Sichtung einer Auswahl der Fotos, die Bilder seien nicht manipuliert. Caesar darf sogar vor dem Auswärtigen Ausschuss des US-Kongresses aussagen. Doch politisch sind die Bilder bislang folgenlos geblieben – was die Autorin Le Caisne stark enttäuscht. Caesar hat jedoch noch Hoffnung, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.
    "Ich habe Syrien verlassen, um die syrische Sache voranzubringen. Wir haben die Früchte, die wir gesät haben, noch immer nicht geerntet. Nach all den Gefahren, die wir auf uns genommen haben, weiß ich noch immer nicht, ob die Erntezeit je kommen wird. Wir haben viel getan in der Hoffnung auf diese Ernte. Damit das Regime und alle anderen Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden. Das wird die Ernte sein."
    Bis heute lebt der ehemalige Militärfotograf in großer Angst davor, entdeckt zu werden. Er hält sich irgendwo im Norden Europas versteckt. Le Caisnes Leistung besteht auch darin, ihn mit Beharrlichkeit aufgespürt und sein Vertrauen gewonnen zu haben – sodass er sich von ihr interviewen ließ. Aus dem Buch ist Le Caisnes Empathie mit den Opfern herauszulesen. Trotzdem schreibt sich nüchtern – die Fakten reichen aus, um den Horror zu schildern. Das Ergebnis ist ein eindringliches Buch, dass jedem Leser im Gedächtnis blieben wird. Und dass die internationale Gemeinschaft daran erinnert, mit welcher Art von Regime sie es in Syrien zu tun hat.
    Garance Le Caisne: Codename Caesar. Im Herzen der syrischen Todesmaschinerie. C.H. Beck Verlag, München 2016. 249 Seiten, 17,95 Euro.