Dienstag, 16. April 2024

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Buchrezension "Die große Angst"
Detailreiches Psychogramm der polnischen Nachkriegsgesellschaft

Extremismus und Terror sind gegenwärtige Bedrohungen und sie sind prägende Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Damals wie heute lösen sie Unsicherheit und Angst aus. Der polnische Historiker Marcin Zaremba betrachtet die Angst wissenschaftlich. Er beschäftigt sich dazu mit Polen in den Jahren 1944 bis 1947.

Von Johanna Herzing | 04.04.2016
    Die Freude über das Kriegsende, über die Befreiung vom Nazi-Terror, in Marcin Zarembas Werk ist sie nur von kurzer Dauer. Das Jahr 1945, so ist in seinem Buch zu lesen, war in Polen ein Jahr der Feste, der Hochzeitsfeiern, des Karnevals. Nie wieder, so schreibt der Historiker, habe man so oft auf den Straßen, auf den Plätzen, in den Parks getanzt wie damals. Ziemlich genau eineinhalb Seiten lang lässt Zaremba die Menschen feiern, bevor er sie für die restlichen 499 Seiten seines Buches durch ein tiefes und trostloses Tal von Elend, Trauer und Gewalt begleitet.
    "Die polnische Gesellschaft geht aus diesem Krieg völlig traumatisiert hervor. Da ist der vollkommene Wandel der gesellschaftlichen Strukturen: Es gibt keine Eliten mehr. Es gibt keine gesellschaftlichen Autoritäten. Alkoholismus grassiert und dann der hohe Grad an Verängstigung, ausgelöst durch den Krieg. Die Menschen hören quietschende Reifen und denken sofort, die Gestapo kommt. Die Angst sitzt ihnen einfach im Nacken. Und dieser Zustand hält in Polen für sehr, sehr lange Zeit an. Außerdem gibt es eine enorm hohe Gewaltbereitschaft. Der Krieg hat aggressives Verhalten gefördert und verstärkt. Er war eine Schule der Aggression und Intoleranz."
    In der Wahrnehmung vieler Polen, so Zaremba, habe der Krieg im Mai 1945 auch gar nicht aufgehört – sowohl in psychischer Hinsicht als auch, was ihre tatsächlichen Lebensumstände anbetrifft. Die unmittelbaren Nachkriegsjahre: in Polen eine Zeit der Unsicherheit, der Anarchie, des gesellschaftlichen Chaos. Die alten politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen sind zerstört, eine neue staatliche Ordnung ist noch nicht etabliert. Das Gefühl der Straflosigkeit schafft neue Opfer: Vergewaltigungen, Lynchmorde, Raubüberfälle, antisemitische Pogrome.
    Dazu Not, wo immer man hinblickt: Obdachlose, Kriegsinvaliden, Waisenkinder. Menschen, die in Erdlöchern hausen und gefrorene Kartoffeln essen, Säuglinge, die an Hunger und Krankheit sterben. Dazu der Terror umherziehender Banden von Plünderern, Banditen und verschiedenen Partisanengruppen.
    "Die Gesellschaft würde ich zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht als solche bezeichnen, sondern vielmehr als eine Art Brei, eine Masse angesichts des gesellschaftlichen Zerfalls. Die Polen durchleben in dieser Zeit ganz unterschiedliche Ängste und Sorgen. Das fängt schon damit an, dass sie gar nicht wissen, in welchem Land sie eigentlich leben werden, ob das ein kommunistisches Land sein wird oder nicht, ob es eine Kollektivierung der Landwirtschaft geben wird oder eine allgemeine Verstaatlichung selbst kleinster Betriebe?"
    Doch damit nicht genug: "Es gibt zu der Zeit enorme Wanderungsbewegungen. In Polen sind Millionen von Menschen unterwegs: Rückkehrer aus den Konzentrationslagern, Zwangsarbeiter aus dem Westen oder auch Soldaten. Dazu die Gebietsverluste östlich des Flusses Bug. Die Menschen wissen nicht, wohin und welches Schicksal ihnen bevorsteht. Dazu kommen Hunger, ansteckende Krankheiten, aber auch politische Angst, weil sich das neue Regime seine Macht mit unglaublicher Gewalt sichert. Man kann sagen, wir haben es in dieser Zeit mit einem Bürgerkrieg zu tun. Und das hat große Angst und Unruhe ausgelöst."
    Nicht weniger als eine gesellschaftliche Revolution habe in jenen Jahren stattgefunden, so Zaremba. Im Vergleich zur Vorkriegszeit sei die bis dahin multiethnische Bevölkerung Polens um fast ein Viertel verringert gewesen: Da waren die vielen Kriegstoten, aber auch die Überlebenden, die das Schicksal in alle Welt verstreut hatte. Die gut ausgebildete Mittelschicht sei im Krieg ausgelöscht worden. Zurück blieb eine Gesellschaft von überwiegend armen, ungebildeten Menschen, konservativ und traditionell geprägt, voller Ängste und mit einem starken Gefühl der Deprivation. Die Lehren des Kriegs, Demoralisierung, Angst, Hunger und Not sieht Zaremba auch als Schlüsselfaktoren in Bezug auf die antisemitischen Pogrome im Nachkriegs-Polen. Schätzungsweise 650 bis 750 Juden kosteten sie das Leben.
    "Man kann diese Pogrome nicht verstehen ohne Augenmerk auf das, was sich während des Zweiten Weltkriegs abgespielt hat und den psychosozialen Kontext der Nachkriegszeit, also der Zeit der "Großen Angst". Bis zu einem gewissen Grad sind die Pogrome eine Manifestation der damaligen Ängste und Befürchtungen. Zweifellos haben sie ihre Wurzeln auch im Antisemitismus der Vorkriegszeit, der durch die deutsche Propaganda während des Kriegs noch verstärkt wurde. Aber das ist eben nicht der einzige Auslöser für die Pogrome."
    Mit "Die große Angst" hat Marcin Zaremba ein detailreiches Psychogramm der polnischen Nachkriegsgesellschaft vorgelegt. Ungeschminkt zeigt er ihre Rohheit und Grausamkeit, ihren Egoismus, die Fokussierung auf das eigene Überleben. Und das damit einhergehende Desinteresse am Leid der Anderen. Auch den, wie er sagt, "gefallenen Soldaten" schenkt Zaremba Aufmerksamkeit, denjenigen Partisanen der polnischen Heimatarmee, die nicht den Weg in die Gesellschaft zurückfanden und die stattdessen zu Dieben und Mördern wurden. Eine Tatsache, die im heroischen Geschichtsbild der derzeitigen polnischen Regierung und der rechtsgerichteten Kreise im Land keinen Platz hat. Dabei verstellt der Ansatz ja keineswegs den Blick auf die eigentlichen Ursachen dieses Panoramas der Gewalt, Angst und Not. Ist Marcin Zarembas Werk doch zugleich eine Analyse der Langzeitfolgen der nationalsozialistischen Verbrechen und Unmenschlichkeit.
    Buchinfos:
    Marcin Zaremba: "Die große Angst. Polen 1944 - 1947: Leben im Ausnahmezustand", Ferdinand Schöningh Verlag, 629 Seiten, Preis: 49,90 Euro