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Buchrezension "Die neuen Dschihadisten"
Die Entzauberung des Islamischen Staates

Ein erfrischend anderes Buch über die Frage, wer die Terrormiliz IS ist und wie ihr begegnet werden könnte, kommt von dem Journalisten und Politologen Peter R. Neumann. Er betrachtet in "Die neuen Dschihadisten" das Phänomen global.

Von Susanne El Khafif | 11.01.2016
    Mutmaßliche Kämpfer des Islamischen Staates hissen die Flagge der Miliz auf einem Hügel bei Kobane in Syrien.
    Mutmaßliche Kämpfer des Islamischen Staates mit ihrer Flagge. (AFP / Aris Messinis)
    Neumann betrachtet das Phänomen global. Er arbeitet mit einem Erkläransatz, der neu ist, bringt eigenes und im Team recherchiertes Datenmaterial mit ein. Er benennt falsche Bilder und Vorurteile, ohne die wirklichen Missstände unter den Teppich zu kehren. Und: Seine Argumentation ist so stringent und schlüssig, dass ein Wegschauen und ein Aussitzen nach der Lektüre eigentlich nicht mehr möglich sein dürften. Soviel vorab und in Kürze: Neumann hat einen Rundumschlag gewagt. Und der ist erstaunlich gut gelungen.
    "Meine These ist, dass die Anschläge in Paris und Kopenhagen Anfang 2015 keine Einzelfälle waren, sondern erste, sehr dramatische Hinweise darauf, was sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten auf den Straßen Europas abspielen wird."
    Eine bedrohliche Zukunft
    Eine These, die sich bewahrheitet. Erst vor wenigen Wochen kamen in Frankreich erneut 130 Menschen zu Tode.
    "Meine Prognose klingt deshalb bedrohlich, weil sie es ist. Doch Panikmache ist genauso wenig meine Absicht wie das Schüren antiislamischer Stimmung. Im Gegenteil. Der "Durchschnitts-Muslim" ist für die Dschihadisten genauso wenig ansprechbar wie der "Durchschnitts-Deutsche" für gewaltbereite Neonazis."
    Neumann stellt den Dschihadismus, den sich die Terrororganisation IS (Islamischer Staat) auf die Fahnen geschrieben hat, in einen historischen Kontext, bezieht sich auf das Wellenkonzept des amerikanischen Historikers David Rapoport: Terrorismus tritt in Zyklen, in Wellen auf, die je eine Generation andauern. Sobald eine Welle abflaut, entsteht sie neu oder wird durch eine andere ersetzt. Terrorismus ist das Produkt einer breit aufgestellten, radikalen, sozialen und politischen Bewegung: Anarchismus, Antikolonialismus, Neue Linke, die religiöse Welle.
    Die Phänomene, die heute ausschließlich dem Dschihadismus, dem islamistischen Terrorismus, zugeordnet und im Nahen und Mittleren Osten verortet werden, hat es also schon vorher und anderswo gegeben: die höhere Sache, der totalitäre Anspruch, die Avantgarde, die Märtyrer und Selbstmordkommandos. Die Gräuel und deren Inszenierung:
    "Die Strategien und Taktiken des Terrorismus haben sich nicht grundsätzlich geändert: Pisacanes Propaganda der Tat, Mosts "einsame Wölfe", Marighellas Strategie der Provokation und Fanons Argument über die befreiende – gar "entgiftende" – Wirkung der Gewalt sind keine Erfindungen des Islamischen Staates."
    IS als die fünfte Welle des Terrorismus
    Neumann spricht dem IS und seinen Dschihadisten, die er einer neuen, nämlich der "fünften Welle" des Terrorismus zuordnet, folgerichtig ab, was sie für sich beanspruchen und vermarkten wollen: das Alleinstellungsmerkmal. Damit nimmt er die Angst, die Angst vor dem Unbekannten, diesen schauerlich-archaischen Gotteskriegern in schwarzem Gewand, die schier aus der Hölle zu kommen scheinen. Neumann entblößt sie, zerstört so ihren Mythos.
    Terror aber bleibt Terror. Und, so der Autor, die "neuen Dschihadisten" seien mehr als nur Wiederholung. Sie verübten Terror im Zeitalter der Globalisierung.
    "Was in Syrien und im Irak passiert, hat unmittelbare Konsequenzen für die Sicherheit in Europa. Im Nahen Osten betreiben die Dschihadisten ein Staatsbildungsprojekt, auf das ihre Gegner bislang keine Antwort gefunden haben. Und in Europa besteht die Gefahr der Polarisierung – einer Auseinandersetzung nicht nur zwischen Terroristen und dem Staat, sondern ein Hochschaukeln der Extreme, das den sozialen Frieden - und damit die Demokratie insgesamt - bedroht."
    Der zweite Teil des Buches widmet sich der Terrororganisation Islamischer Staat selbst, ihrem Ursprung und Charakter, ihren Methoden, ihren Stärken, Schwächen und Widersprüchen, die, so der Autor, über ihre Zukunft entscheiden werden.
    "Der Islamische Staat ist ein Möchtegern-Weltreich, das die ganze Welt zum Feind erklärt und – gleichzeitig – überall auf der Welt Unterstützer findet."
    Informationen über die Szene
    Neumann gibt wertvolle Informationen: Über die Szene, die Gegenkultur der Salafisten, aus der sich die Dschihadisten rekrutieren. Über die Auslandskämpfer, ihre Herkunft und Motivation. In weniger als vier Jahren, schreibt er, seien fast 21.000 Ausländer nach Syrien und in den Irak aufgebrochen, Kämpfer aus mehr als 90 Staaten, rund 20 Prozent allein aus Westeuropa. Neumann bezeichnet letztere als die "loyalsten Truppen" des IS, sie täten sich bei Gräueltaten und Kriegsverbrechen hervor, denen sich einheimische Kämpfer verweigerten, weil sie zum Zeitpunkt ihres Anschlusses an den IS bereits hochgradig radikalisiert seien.
    "Wir können nicht länger ignorieren, dass die jungen Männer Produkte unserer Gesellschaft sind. Ihre Radikalisierung begann nicht im syrischen Raqqa oder dem irakischen Mossul, sondern in Dinslaken, Portsmouth und Nantes."
    Das Buch "Die neuen Dschihadisten" ist anders, überzeugend anders. Und das muss es sein, will es sich mit diesem amöbenartigen Etwas, das überall und doch kaum greifbar ist, auseinandersetzen – das nach vorne schnellt, sich genauso schnell wieder zurückzieht, sich immer wieder teilt und trotzdem wächst – dabei die Schwächen seiner Gegner erkennt und skrupellos für sich verwendet.
    Neumann ist diesem Etwas auf der Spur. Und es gelingt ihm, den Leser dabei mitzunehmen. Er überzeugt mit Inhalt und Form. Neumann hat ein Sachbuch geschrieben, das eine breite Leserschaft ansprechen dürfte - trotz des so schweren, komplexen Themas.
    "Ein neuer, umfassender Ansatz ist nötig – und hierzu gehört neben den traditionellen Instrumenten der äußeren und inneren Sicherheit ein strategischer und glaubwürdiger Ansatz in den Bereichen Prävention, Intervention und Deradikalisierung."
    Peter R. Neumann kritisiert: das unzureichende Problembewusstsein der Deutschen, den Mangel an Koordination, den bürokratischen Überbau. Er fordert stattdessen Pragmatismus, Offenheit, Kooperation, Internationalität. Und einen nationalen Präventionsplan für Deutschland – so, wie ihn bereits viele Staaten erfolgreich aufgelegt haben, dem sich Bund und Länder jedoch noch immer verweigern. Doch Neumann kritisiert nicht nur, er macht auch Angebote, gibt Hilfestellung, wie der Gefahr begegnet werden kann. Sein Buch "Die neuen Dschihadisten" ist Aufklärung, Weckruf und Handlungsanleitung zugleich.
    Buchinfos:
    Peter R. Neumann: "Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus", Econ 2015