Donnerstag, 28. März 2024

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Buddhismus
"Die Tibeter müssen sich von den alten Klischees lösen"

Die "Tibet-Lüge" hat der Journalist Oliver Schulz sein Buch genannt. "Der Zugang zu Tibet ist von vornerein von Missverständnissen geprägt gewesen", sagte er im Dlf. Das halte bis heute an. Der Westen, aber auch der Dalai Lama seien gefangen in der großen Erzählung von Gewaltlosigkeit und Sanftmut.

Oliver Schulz im Gespräch mit Susanne Fritz | 07.06.2017
    Der Dalai Lama im Mittelpunkt. Rechts von ihm die US-Demokratin Nancy Pelosi auf Indienbesuch
    Der Dalai Lama im Mittelpunkt, rechts von ihm die US-Demokratin Nancy Pelosi zu Besuch in Dharamsala (AFP / Lobsang Wangyal)
    Susanne Fritz: Herr Schulz, Sie haben ein Buch über Tibet geschrieben mit dem Titel "Die Tibet-Lüge", darin räumen Sie tüchtig auf mit dem Bild, das viele Menschen über Tibet haben. Worin bestehen die gängigen Klischees im Westen?
    Schulz: Die gängigsten Klischees, was Tibet angeht, sind, dass es im alten Tibet soziale Gerechtigkeit gegeben hätte. Pazifismus ist ein gängiges Klischee, es wird davon ausgegangen, dass es eine nach außen hin friedliche Staatsform gewesen ist. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist ein Standard-Klischee, was Tibet betrifft und ebenso wird im Westen davon ausgegangen, es hätte eine ökologisch gesinnte Gesellschaft gegeben.
    Fritz: Woher stammen all diese Klischees, die wir im Westen von Tibet haben?
    Schulz: Der Zugang zu Tibet ist von vornerein von Missverständnissen geprägt gewesen, wenn man so will. Die ersten, die nach Tibet kamen, waren die Jesuiten im 16. Jahrhundert. Sie sind damals davon ausgegangen, dass sie verstreute Christengemeinden dort finden würden. Auf diese folgten dann - vor allem wichtig, was die Verklärung angeht - die Literaten des 20. Jahrhunderts, die dort so etwas wie ein Paradies auf Erden verorteten. Der Begriff des Shangri-La ist in dieser Zeit entstanden. Es gab die Theosophen, das ist eine neo-religiöse Organisation gewesen, die ebenfalls im 20. Jahrhundert Tibet für sich entdeckte und das Land sozusagen als ein Hort universeller Weisheit darstellte. Dann folgten weitere: die Vertreter des New Age, Philosophen wie C.G. Jung und so weiter. Das setzt sich bis in die Gegenwart fort.
    Fritz: Wie ist es nun wirklich gewesen, was weiß man über Tibet? Inzwischen ist klar, dass Tibet vor der Besetzung durch China eine feudale Gesellschaft war. Wie muss man sich das Leben der Menschen früher in Tibet vorstellen?
    Schulz: Naja, wenn man jetzt vor allem Zentral-Tibet betrachtet, dann ist es so, wie Sie sagen. Es gab eine Form des Feudalismus, es gab eine drastische Strafgesetzordnung, es herrschte eine Elite, eine geistliche und weltliche Elite über den Rest des Volkes. Das waren sicherlich keine angenehmen Zustände.
    "Eine Geschichte der militärischen Eroberungen"
    Fritz: Ist der Buddhismus tatsächlich in der Geschichte Tibets immer so friedlich gewesen, wie wir das denken?
    Schulz: Pazifismus ist ein wichtiger Teil meines Buches, damit setze ich mich wesentlich auseinander. Es ist keinesfalls so gewesen, die tibetische Geschichte selbst ist eine Geschichte auch der militärischen Eroberungen. Nachdem der Buddhismus sich durgesetzt hat, gab es viele Auseinandersetzungen zwischen Klöstern und verschiedenen Glaubensrichtungen. Es war durchaus so, dass der Glaube den Krieg legitimiert hat, es gibt auch Menschen, die sagen, es gibt eine Form des Dschihad im tibetischen Buddhismus. Natürlich zunächst gedacht als ein geistiger Weg, den man zu gehen hätte, aber der auch als Erklärung, Legitimation für Krieg herhalten kann.
    Es gab zum Beispiel auch den Widerstandskampf, die Guerillas, die gegen die Chinesen gekämpft haben. Das ist lange von der tibetischen Exilregierung mehr oder weniger vertuscht worden. Es ist eben auch so, dass mittlerweile als sicher gelten kann, dass der Dalai Lama den Pazifismus von Mahatma Gandhi übernommen hat, das ist keine originär tibetische Gesinnung.
    Fritz: Das andere Klischee, das in der westlichen Welt kursiert, ist das vom harmonischen Verhältnis der Tibeter zur Natur und zu den Tieren. Ist das ebenso wenig wahr?
    Schulz: Ich glaube, wenn man das in ein Verhältnis setzen will, dann ist da vielleicht noch mehr dran. Immerhin war es ja so, dass die Tibeter in einer geschlossenen Ökonomie gelebt haben, sie waren darauf angewiesen, die Ressourcen zu schonen. Andererseits gibt es zum Beispiel für den Raubbau an den Wäldern in Ost-Tibet massive Beispiele, die Quellen geben da einiges her. Und es ist auch hierzulande verbreitet zu meinen, die Tibeter hätten ein geradezu zartes Verhältnis gegenüber den Nutztieren und Wildtieren. Das ist einfach nicht der Fall, wer sich im tibetischen Alltag umguckt, wird genau das Gegenteil erleben.
    "Die Tibeter haben im Grunde diese Klischees aufgegriffen"
    Fritz: Also Ihrer Ansicht nach ist Tibet eine Projektionsfläche für alle möglichen auch romantisch verklärten Vorstellungen. Doch wenn man den Dalai Lama hört, glaubt man doch wieder an das gewaltfreie, harmonische, tief vom Buddhismus geprägte Land. Inwiefern hat der Dalai Lama dazu beigetragen, dass wir so über Tibet denken?
    Schulz: Das verrückte ist ja, dass die Tibeter im Grunde diese Klischees aufgegriffen haben. Sie sind von den Chinesen geflohen und wurden dann mit diesen Klischees konfrontiert und in den 80er-Jahren wurde aus diesen Klischees tatsächlich eine PR-Kampagne konstruiert, mit der westliche Fürsprecher gewonnen werden sollten für die tibetische Sache. Und das ist der Grund, warum der Dalai Lama oder Vertreter der tibetischen Exilregierung diese Klischees weiter verbreiten, diesen Tibet-Kitsch weiter in die Öffentlichkeit streuen. Da ist nicht viel dran, aber es dient einem bestimmten Zweck.
    Fritz: Und dieser Zweck ist welcher? Also man will die westliche Öffentlichkeit für sich gewinnen, um dann politische Ziele durchzusetzen?
    Schulz: Das hat durchaus, wie man so salopp sagt, gefunzt. Also in den 80er-Jahren hat man diese Kampagne gestartet und kurz darauf sprossen ja Tibetinitiativen aus dem Boden. Oder die Unterstützung beispielsweise der Grünen, das fing mit Petra Kelly an, geht jetzt bis Claudia Roth. Das ist fast schon tradiert. Insofern hat es was genützt. Sie hatten effektiv natürlich am Ende keinen politischen Erfolg mit dieser Kampagne, aber jetzt kommen sie nicht mehr raus aus der Sache.
    Fritz: Was würden Sie denn sagen, braucht Tibet heute, um sich der Moderne öffnen zu können, ohne gleichzeitig die eigene Kultur und Religion zu verlieren. Was muss geschehen in Tibet?
    Schulz: Die Tibeter müssen sich lösen von diesen alten Klischees. Es gibt ja Leute, die sagen, dieses Klischee vom Shangri-La ist festgefroren. Es hat die tibetische Kultur und die tibetische Gesellschaft festgefroren, sie müssen sich jetzt davon lösen. Wie man so etwas genau macht, kann ich ehrlich gesagt, auch nicht erklären, aber sie sollten vielleicht den Leuten zuhören, die Alternativen aufzeigen.
    Fritz: Das heißt, Sie würden sagen, die Klischees haben Tibet wirklich geschadet?
    Schulz: Das glaube ich durchaus, ja. Insgesamt haben diese Klischees und die Verbreitung dieser Klischees sicherlich nicht zu einer dynamischen Entwicklung der tibetischen Gesellschaft und Kultur beigetragen, ganz im Gegenteil.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Oliver Schulz: Die Tibet-Lüge: Von der Macht der Mythen und dem Scheitern des Dalai Lama. Vito von Eichborn. 130 Seiten, 12,95 Euro.