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Buh-Rufe in Salzburg

Bei den Salzburger Festspielen hat Regisseur Dimiter Gotscheff eine derart aktuelle Interpretation des Molière-Stücks "Tartuffe" geboten, dass er ausgebuht wurde. Die Inszenierung zeigt, wie viel Sprengkraft in der Religion stecken kann, wenn sie als Antwort auf Sinnlosigkeit und gesellschaftliche Leere wirkt.

Von Karin Fischer | 30.07.2006
    "Jeder hat hier sein Päckchen zu tragen, aber Dorine hat sieben Pakete, macht aber nix, denn Dorine macht alles clean, alles sauber wie mit Zauber... Und mein Boss, der hat ein Schloß, denn mein Boss der hat viel Moos... da kommen sie... jetzt geht’s los."

    Sie wird als "Polackenschlampe" beschimpft, stammt aber aus Bulgarien wie ihr Regisseur: Dorine spricht Dialekt, ist aber glasklar im Kopf wie sonst keiner. Das Hausmädchen weiß, worum es geht: um die Aufenthaltsgenehmigung beispielsweise, um nichts weniger als ihre Existenz bei der Familie des Orgon, die jetzt aufreizend langsam, Luftschlangen blasend, die Bühne betritt. Snobismus und Dekadenz pur, in Pelz, Nadelstreifen, High Heels oder Tennishosen. Und dann geht es richtig los: mit einer Konfetti-Kanonade aus zehn Rohren.

    Luftschlangen tanzen in Bögen durch die Luft, Glitzerpapier segelt bis in den Zuschauerraum, bald ist die Bühne von einem dichten bunten Teppich übersät, der zweierlei kann: die Umgebung für den glamourösen Luxus darstellen, der hier waltet; und ab und an als Fußfesseln für die Schauspieler dienen. Diese Familie watet tief im Sumpf einer degenerierten Gesellschaft, versinnbildlicht Bühnenbildnerin Kathrin Brack, die sich in Gotscheffs "Kampf des Negers und der Hunde" an der Berliner Volksbühne schon einmal als Meisterin des Konfettiregens erwies und auch für das "Iwanow"-Bühnenbild komplett aus der Nebelmaschine verantwortlich war. Jetzt in Salzburg: wieder ein starker, ansonsten völlig leerer Raum. Nach diesem Anfang kann eigentlich nichts mehr schief gehen.

    Geht auch nicht. Gotscheff hat einen radikal zeitgenössischen "Tartuffe" auf die Bühne gebracht, an dem fast exemplarisch nachzuvollziehen ist, was zum Beispiel von Botho Strauß vor nicht allzu langer Zeit in einem "Spiegel"-Essay analysiert wurde: wie viel Sprengkraft in der Religion stecken kann, wenn sie als Antwort auf Sinnlosigkeit und gesellschaftliche Leere wirkt. Daneben wird sichtbar, wie hilflos und unfähig eine abgestorbene, verwöhnte Wohlstandsgesellschaft auf fundamentalistischen Bibelterror reagiert - selbst wenn er von Tartuffe nur vorgespielt ist. Norman Hacker gibt den Parasiten als immer kontrollierter Machtmensch im braunen Straßenanzug. Und wir erleben ein starkes Paradoxon, das alltäglich vorkommt: wie selbst die Bibel verbal militarisiert werden kann.

    "Du sagst, du bist reich, aber ich sage dir, du bist arm, elend und bloß. Ich bin der Anfang und das Ende, ich gebe dir.... umsonst!"

    Der affizierte Hausherr, Peter Jordan, wirkt wie gehirngewaschen und weichgespült in seinem Selbsterfahrungstrip mit der Religion. Unter der Oberfläche von Leintuch-Toga und Sandalen aber lauert noch die Eiseskälte des ehemaligen Geschäftsmanns. Die bigotte Großmutter (Angelika Thomas als Pernelle singt berückend) bringt die Sache auf den Punkt. "Tartuffe ist ein Mensch, an den zu glauben lohnt!", sagt sie - der allerdings ungeniert "die Interessen des Himmels" zitiert, um seine eigenen voranzutreiben. Und wer das frisst, dem kann man auch die Sache mit den 70 Jungfrauen einreden. So ist das vermutlich mit dem Terror: er ernährt sich parasitär von Dummheit und gesellschaftlicher Gewalt. Tartuffe ist verschlagen, doppelzüngig, böse; dennoch ist er gleichzeitig der einzig Aufrechte dieser Inszenierung, mit Ausnahme vielleicht von Schwager Cléante, den Helmut Mooshammer als zum Scheitern verurteilter Vertreter der Vernunft vorstellt. "Ich fürchte, das Vermögen könnte in falsche Hände fallen", antwortet ihm Tartuffe auf seine Moralpredigt. Da hat Orgon bereits seinen Sohn enterbt und dem religiösen Heuchler freiwillig seine Tochter, sein Geld und sein Haus vermacht. Und der Regisseur lässt wissen: Er hat ja recht, der Mann! Das beweist schon der Inhalt der gefährlichen "Kassette", die Gasprom-Aktien und Fotos vom letzten Kuba-Urlaub enthält.

    Dimiter Gotscheff arbeitet fast symbolistisch: "Oh happy Day" steht für evangelikale Erweckungszeremonien; die Figuren greinen, stöhnen oder stammeln wie regredierte Psychopathen; auf der großen Bühne sind sie wie zu Gruppenbildern drapiert. Das Ensemble ist vor allem in den Frauenfiguren nicht ganz so stark wie sonst, aber auch das hat Vorteile: Wer keine Birgit Minichmayr auf der Bühne hat, braucht dort keine Volksbühnen-Exzesse zu feiern.

    Außer der Bibel stehen noch Heiner Müller, Lao-Tse oder Christian Morgenstern Pate für Gotscheffs Diagnose, die sich nicht für Figuren-Psychologie, sondern für Zustände interessiert. Molières Happy-End, der Fürst, der als deus ex machina rettend eingreift, fehlt naturgemäß. Stattdessen spricht Tartuffe Verse aus Heiner Müllers "Exkurs über den Schlaf der Metropolen":

    "GRAS SPRENGT DEN STEIN DIE WÄNDE TREIBEN BLÜTEN
    DIE FUNDAMENTE SCHWITZEN SKLAVENBLUT
    RAUBKATZENATEM WEHT IM PARLAMENT"

    Und noch mal wandelt sich das Bild: Tartuffe ist mehr als religiöser Fanatiker, machthungriger Erpresser oder politischer Terrorist: Er ist der wahre Apokalyptiker, eine Kassandra im Wolfspelz, die der Gesellschaft ihren eigenen Untergang prophezeit. Eine Analyse, die der Salzburger Festspielgemeinde nicht gefallen konnte. Der Regisseur wurde mit Buhrufen überhäuft. An diesem Ort kann das ruhig als Bestätigung seiner Diagnose gewertet werden.