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Bulgariens Tor nach Europa

Der Jugendstil und Klassizismus von Russe erinnert ungemein an Wien. Die Stadt war schon immer ein wichtiger Hafen und ein Grenzfluss. Aber außer den Schiffen haben momentan junge Menschen kaum eine Perspektive.

Von Daniel Kehr und Werner Lange | 25.11.2012
    Morgendliches Treiben am Tsentralna Gara, dem Zentralbahnhof der bulgarischen Hauptstadt Sofia. Menschentrauben mit riesigen Taschen und selbstgeknoteten Gepäckballen. Es geht nach Varna am Schwarzen Meer, nach Plovdiv in die oberthrakische Tiefebene und nach Bukarest im benachbarten Rumänien. Das ist unsere Richtung, wir wollen an die Donau. Unser Ziel: die bulgarische Grenzstadt Russe. Die alte Skoda-Lok müht sich mit dem rund 500 Meter langen Zug ab. Wir öffnen die quietschende Abteiltür: zerschlissene braune Ledersitze. Unter dem verschmierten Fenster kleine Klapptische, halb aus der Verankerung gerissen. Unsere Mitreisenden: drei junge Studenten, wie wir auf dem Weg nach Russe:

    "Das ist eine sehr schöne Stadt an der Donau. Es gibt eine Menge alter Gebäude dort, die architektonische Wunder sind und der Fluss ist sehr wichtig für Transport und Wirtschaft. Es ist die Verbindung zwischen Bulgarien und Rumänien und anderen Ländern. Die im Moment einzige Brücke zwischen Bulgarien und Rumänien befindet sich genau in Russe. Im nächsten Jahr wird wahrscheinlich eine weitere Brücke eröffnet, aber für den Moment ist es der Ort über den der komplette Verkehr zwischen Bulgarien und Rumänien geht. Russe ist die Stadt in Bulgarien, in der viele neue Dinge passiert sind: Zum Beispiel war in Russe die erste Bahnstation, der erste Aufzug in ganz Bulgarien war in Russe, das erste Kino war in Russe. Viele Dinge waren hier zuerst. Dies ist die Stadt von Elias Canetti, dem bulgarischen Literatur-Nobelpreisträger."

    Tor nach Europa heißt Russe für die Bulgaren. 300 Kilometer im Expresszug liegen vor uns. Die erste Stunde geht es parallel zur Iskar, die plötzlich zu einem großen Strom wird. Am Horizont: die Gipfel des Balkangebirges.

    Es geht durch enge Täler, direkt neben den Gleisen: eine Herde Wildpferde, die den Zug verfolgt. Ein Stück weiter steile Abhänge, kein Meter neben der Strecke. An den wenigen Haltestellen wird der Zug immer voller und uns wird klar: Unter Express verstehen die Bulgaren etwas anderes als wir. Erst nach geschlagenen fünf Stunden ist Russe endlich erreicht.

    Der Bahnhof in Russe gleicht einer riesigen Kathedrale. Hier endete einst zeitweise der legendäre Orient-Express. Links: groß angelegte Arkaden mit einem Dutzend längst geschlossener Ticketschalter. Viel zu viele für die wenigen Fahrgäste, die sich in der gewaltigen Halle verlieren.

    Draußen: drei Flaggen. Das Stadtwappen, das bulgarische Weiß-Grün-Rot und der Sternenkranz der EU. Dahinter ein vielspuriger Boulevard, nicht sehr einladend. Aber fünf Taximinuten Richtung Innenstadt präsentiert sich ein ganz anderes Russe.

    Wir sitzen in einem Café am Svoboda-Platz, dem Platz der Freiheit, dem Zentrum der Innenstadt von Russe. Hinter uns: Art-Nouveau-Häuser. Vor uns eine kleine Parkanlage mit riesigen Fontänen, in denen Kinder sich Abkühlung verschaffen. Keine Autos, das Zentrum ist Fußgängerzone.

    Vorbei an Jugendstil und Klassizismus, der ungemein an Wien erinnert, laufen wir die wenigen Meter hinunter zur Donau. Wir sind auf Spurensuche nach den Anfängen dieser Stadt, die in der Geschichte viele Namen trug. Sexaginta Prista war in römischen Zeiten ihr erster – "Stadt der 60 Schiffe". Die Donau war damals wie heute Grenzfluss. Mindestens doppelt so breit wie der Rhein in Köln, am Ufer hohe Bäume, ein steiler Hang zum Wasser, Familien beim Picknick, die Kinder baden.

    Nur keine Spur von dem historischen Hafen, der einst Namensgeber war. Auch Vyrban Vyrbanov, Archäologe am historischen Museum, muss passen:

    "Leider wissen wir nichts über den ursprünglichen römischen Hafen. Außer, dass die Sexaginta Prista ihren Namen von diesem Hafen hat, wissen wir nichts darüber, da die Überbleibsel des Hafens am Ende des 19. Jahrhunderts, Beginn des 20. Jahrhunderts zerstört wurden und ein neuer Hafen gebaut wurde."

    Ein paar Meter weiter: eine riesige Ausgrabungsstätte. Früher stand hier einmal ein Hotel. Heute sind nur noch die Abrisslinien am benachbarten Gebäude zu erkennen. Wie in einem Ameisenhaufen geht es in der Grube zur Sache. Eine neue Stützkonstruktion muss her.

    "Wir machen hier Ausgrabungen und wir haben einige Teile, kleine, aber wichtige Teile entdeckt. Wir haben den Schrein, den Tempel des Apollo entdeckt."

    Aber warum die "Stadt der 60 Schiffe"? Vyrban klärt uns auf:

    "60 Schiffe waren nötig, um den Fluss mit einer Legion zu überqueren. Jedes Schiff hatte Kapazitäten für 100 Personen. Das bedeutet, die Römer überquerten die Donau mit einer Legion, um dort den Sieg davon zu tragen."

    Im Mittelalter gerät die Stadt, wie ganz Bulgarien, unter osmanische Herrschaft. Rustschuk heißt Russe in dieser Zeit. In der türkischen Periode erblüht die Stadt, wird wichtigstes Handels- und Kulturzentrum, größte Metropole des besetzten Bulgariens. Daran ändert sich nichts bis zum Ende des 19. Jahrhunderts.

    Mit der Unabhängigkeit Bulgariens 1878 wird in Russe der österreichisch-ungarische Einfluss immer größer. Davon legt der Stadtkern Russes bis heute Zeugnis ab. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts läuft die Hauptstadt Sofia der ehemaligen römischen Siedlung an der Donau den Rang ab.

    Mit dem Sozialismus entsteht beiderseits der Grenze, in Russe wie auch in der rumänischen Zwillingsstadt Giurgiu, ein Zentrum der chemischen Industrie, eines der größten im gesamten Ostblock. Die Kehrseite: massive Umweltprobleme, wie sich Yevgeni Dimov erinnert.

    "In den 80er-Jahren stellte diese Fabrik militärische Gase her. Und von dieser Fabrik kam sehr viel hierher. Die Produkte der Fabrik waren für das Militär des Ostblocks. Das war ein großes Problem. Viele Leute begannen, große Treffen diesbezüglich abzuhalten und diese Treffen nahmen ihren Anfang in Russe."

    Ausgangspunkt der bulgarischen Freiheitsbewegung, die im November 1989 zum Sturz der Kommunisten führt. Mit den luftverpestenden Chemiefabriken ist schnell Schluss.

    "Ohne Ostblock kein Militär und dadurch keine Fabrik."

    Statt beißender Chemieschwaden heute Luft wie im Kurort. Gut 20 Jahre nach der Wende ist der Tourismus der wichtigste Wirtschaftszweig: die Flusskreuzfahrtschiffe aus Ungarn, Österreich und sogar Deutschland, die an den zahlreichen Anlegern fest machen, wie Reedereimitarbeiter Atanas Lokmadzhiev erzählt.

    "Leider funktioniert wegen viel Industrie, die in der Stadt war, nicht so, wie vor 20 Jahren. Aber trotzdem: Verbunden mit der Donau ist es die größte Touristikindustrie, die in der Stadt entwickelt ist. Das ist die Donau und die Passagierschiffe, die uns besuchen."

    20.000 Touristen im Jahr. Allerdings bleiben die wenigsten über Nacht an Land. Das muss sich ändern, glaubt Atanas, will Russe alte wirtschaftliche Stärke wiedererlangen.

    "Die perfekte Sache als Zukunft für Russe wäre, wenn irgendeine Möglichkeit kommt, den Flughafen von Russe wieder zu eröffnen. Wenn das geschafft ist, dann heißt es: Russe hat die Brücke, den Fluss, die Züge und den Flughafen. Das wäre schön."

    Doch noch ist es nicht soweit. Leidtragende sind vor allem die jungen Leute. Außer auf den Schiffen haben sie hier kaum eine Chance auf einen Job. Es wird Abend. Mit der Sonne geht auch die brütende Hitze und die Luft wird angenehmer. Theodora und Ivo, beide Anfang 20, nehmen uns mit ins Nachtleben von Russe – in eine Salsaschule.

    "Ich bin geboren in der Nähe von Russe und ich lebe hier eigentlich schon immer. Ich war vier Jahre in Deutschland."

    Viele Jugendliche suchen ihr Glück im Ausland. Nicht immer einfach, das Leben in einem fremden Land: Theodora musste sich in Deutschland erst an ihr neues Umfeld gewöhnen. Als Rezeptionistin arbeitete sie in einem Hotel in Frankfurt am Main.

    "Am Anfang war es sehr schwer für mich, da ich alleine in einem anderen Land war und die Sprache nicht gesprochen habe. Es war sehr schwierig nur mit meinem Englisch und meinem Französisch."

    Salsa ist sehr populär, nicht nur in Russe, sondern in ganz Bulgarien. In den Tanzschulen: große Gruppen junger Leute. Sie lernen den südamerikanischen Tanz bis hin zur Perfektion. Theodora erklärt uns, was es damit auf sich hat.

    "Salsa ist sehr leidenschaftlich. Du kannst, wenn du tanzt, alles vergessen. Du hast nicht nur einen Partner, du tanzt mit jedem. Wenn ich Salsa tanze, dann vergesse ich meine Probleme, ich vergesse alles. Das ist meine wahre Leidenschaft. Ich liebe es!"

    Weiter geht es in einen bulgarischen Folkloreclub. Eine Mischung aus Restaurant und Diskothek: Shopska-Salat und traditionelle Eintöpfe, flaschenweise Slivoviz und Weißwein für die Damen. Die Musik: live gespielt von einem Duo. Getanzt wird im Kreis, Hand in Hand, jung neben alt. Volksmusik ist hier lebendig, generationsübergreifend, erzählt Ivo.

    "Beim bulgarischen Tanz gibt es immer mehrere Schritte hintereinander, die sich immer wiederholen. Alle halten sich an den Händen und normalerweise tanzt man im Kreis. Wenn ich Musik höre, fange ich an zu tanzen."

    Auch Ivo hat Probleme mit der momentanen Jobsituation in Russe. Obwohl er augenblicklich eine Anstellung hat, ist seine Zukunft ungewiss.

    "Ich bin Kellner in einer Bar in der Innenstadt. Sie ist in der Nähe der Donau. Aber das ist nur für den Sommer."

    Um der Arbeitslosigkeit nach dem Sommer zu entgehen, schmiedet Ivo bereits Pläne. Selbst auszuwandern, um einen Job zu finden, will er nicht ausschließen.

    "Ich werde versuchen, einen Job zu finden. Ich würde gerne nach England gehen, da ich dort Freunde habe."

    Theodora hat diese Entscheidung bereits getroffen. Dies ist ihr letzter Abend in Russe. Noch in der Nacht wird sie die Reise nach England antreten. Wieder wartet ein Job an einer Hotelrezeption auf sie.

    "Um drei Uhr nachts werde ich nach Rumänien fahren, mit dem Auto. Hier zur Donau, dann müssen wir nach Bukarest fahren. Dann muss ich drei Stunden warten, weil mein Flug um sechs Uhr morgens ist. Dann muss ich wieder drei Stunden am Flughafen warten und dann zwei Stunden mit dem Auto von London nach Bristol fahren."

    Nach einer kurzen Nacht folgen wir Theodora Richtung Bukarest. Wir wollen zur Brücke der Freundschaft, der einzigen Verbindung zwischen Bulgarien und Rumänien über die Donau hinweg. Mit dem Taxi vorbei an Industrieruinen und heruntergekommenen Autotunneln, die Sonne brennt unbarmherzig. Vier Kilometer vor der Stadt: das "Tor zu Europa", ein Monstrum aus Stahl, zwei Etagen, unten für Züge, oben für Autos, fast drei Kilometer lang. An der Zollstation: Hunderte Autos, stickige Luft, lautes Motorengeräusch, lange Schlangen. Obwohl die Donau nur zwei EU-Staaten voneinander trennt, schleicht sich bei uns ein Gefühl von Grenze zwischen zwei zerstrittenen Nachbarn ein. Menschen stehen zwischen den Autos und unterhalten sich. Alle warten darauf, dass es weitergeht.

    Die Grenzpolizisten haben ein scharfes Auge auf jeden, der mit uns spricht. Nach einigen Minuten werden wir des Platzes verwiesen. Schließlich finden wir doch noch einen Beamten, der mit uns sprechen will: durch das Fenster in seinem winzigen Zollhäuschen.

    "Dort können sie sehen, wann die Brücke gebaut wurde: 1952 bis 1954. Sie verbindet den Balkan mit dem Rest von Europa. Das hier ist eine Zoll- und Brückenmautstation. Es kostet zwei Euro für die kleinen Autos und das ist alles."

    Zwei Euro, die hier gleich von der Grenzpolizei einkassiert werden. Bei dem Autoaufkommen an der Brücke summiert sich das zu Millioneneinnahmen für beide Länder.

    Von den Millionen fließt aber zum Ärger der Autofahrer nur ein winziger Bruchteil in den Erhalt der Brücke. Plötzlich kommt der Vorgesetzte und herrscht seinen Mitarbeiter an. Unser Gespräch wird abrupt beendet.

    "Ich darf eigentlich keine Interviews geben. Außerdem sind wir hier sehr beschäftigt. Tut mir leid."

    Nach einer halben Stunde Schlange stehen ist auch unser Taxi an der Grenzstation angekommen. Wir steigen wieder ein und der Fahrer umkurvt die ersten Schlaglöcher. Der Wind, 30 Meter über der Donau, zieht uns durch die offenen Fenster ins Gesicht, als wir auf der Hälfte der Überfahrt von einem Schild gegrüßt werden. In großen Buchstaben ist neben der EU-Fahne zu lesen: "Romania". Ein letzter Blick auf das malerische Russe hinter uns und im nächsten Moment verlassen wir Bulgarien durch das "Tor nach Europa".