Donnerstag, 25. April 2024

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Bund Deutscher Kriminalbeamter
"Dieser tragische Fall ist eklatant danebengegangen"

Der Anschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt vor einem Jahr habe viele Mängel bei den Sicherheitsbehörden aufgezeigt, sagte Michael Böhl vom Bund Deutscher Kriminalbeamter im Dlf. Grund sei auch der Föderalismus in Deutschland. Wichtig sei deshalb eine einheitliche Gefährderbeurteilung sowie eine Anpassung des Rechts.

Michael Böhl im Gespräch mit Martin Zagatta | 18.12.2017
    Eine Werbefläche neben der Berliner Gedächtniskirche erinnert an die Opfer des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt.
    Ein Jahr nach dem Terroranschlag am Breitscheidplatz in Berlin (dpa-Zentralbild)
    Martin Zagatta: Morgen, am 19. Dezember, jährt sich der Anschlag vom Breitscheidplatz. Zwölf Menschen hat der Tunesier Anis Amri damals ermordet. Überlebende und die Angehörigen der Opfer fühlen sich von Behörden und auch von der Bundesregierung im Stich gelassen und schäbig behandelt – auch von der Bundeskanzlerin, die sich ein ganzes Jahr Zeit gelassen hat, um die Hinterbliebenen, um die Angehörigen zu treffen. Ein schwieriger Termin also für Angela Merkel.
    Sie haben es in dem Bericht gehört: Die Überlebenden und die Hinterbliebenen fühlen sich nicht nur allein gelassen und sehr schlecht behandelt. Sie sind auch aufgewühlt von den fast wöchentlichen Meldungen über Sicherheitspannen und Fehleinschätzungen, die dem Anschlag vorausgegangen sind. Ist das tatsächlich so? Haben unsere Sicherheitsbehörden auf voller Linie versagt? Und wenn ja, wie ist das zu erklären? – Das kann ich jetzt Michael Böhl fragen vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. Er ist der Vorsitzende des Landesverbandes in Berlin. Guten Tag, Herr Böhl!
    Michael Böhl: Schönen guten Tag.
    Zagatta: Herr Böhl, die Behörden und die Regierung haben im Kampf gegen den Terrorismus versagt. Das sagen die Überlebenden und die Hinterbliebenen der Opfer vom Breitscheidplatz. Können Sie die Wut der Angehörigen nachvollziehen?
    Böhl: Ja selbstverständlich! Wer einmal Opfer einer Straftat geworden ist – und das ist ja hier ein, glaube ich, in Deutschland einmaliger Vorfall gewesen, in dieser Härte und in dieser Brutalität -, der hat natürlich Wut, vor allen Dingen dann, wenn es nicht funktioniert, wenn er Vorstellungen hat, wie es ablaufen müsste, wie es ablaufen sollte. Das ist für uns natürlich verständlich. Das muss man einfach mit einbeziehen.
    Aber die Frage ist, ob wir total versagt haben, ob die Behörden versagt haben. Natürlich müssen wir die Kritik annehmen. Es ist nicht alles so gelaufen, wie es normalerweise laufen sollte. Wir hätten vielleicht aus anderen Bereichen, aus anderen Anschlägen in Frankreich und weltweit lernen können, auch die Frage zu stellen, wie gehen wir denn im Fall einer Katastrophe – und als nichts anderes kann man das in dem Sinne bezeichnen. Schauen Sie, wenn ein Flugzeug abstürzt und Hunderte von Toten da sind, was extrem bedauerlich ist und hin und wieder passiert, könnte genauso ein Anschlag so viele Tote hervorrufen. Warum geht man da nicht genauso mit um?
    Das heißt, in den Abläufen und in den Ermittlungen unterscheidet sich das im Wesentlichen, aber was die Opfer betrifft ist es das gleiche. Menschen sind zu Tode gekommen, nur der Anlass ist ein anderer, und das muss man berücksichtigen.
    "Wir haben unsere Hausaufgaben nicht gemacht"
    Zagatta: Nun ja. Das ist, wenn da technische Pannen vorliegen, vielleicht noch einmal was anderes, dass die Angehörigen dann auch leichter damit zurechtkommen. Aber wir hören ja jetzt von haarsträubenden Versäumnissen. Fast jede Woche gibt es neue Meldungen über Pannen, was da alles schiefgelaufen ist. Deshalb doch noch mal die Frage: Haben die Sicherheitsbehörden ich sage jetzt nicht auf voller Linie versagt, aber haben die Sicherheitsbehörden versagt?
    Böhl: Ich würde nicht von Versagen reden. Ich würde sagen, wir haben unsere Hausaufgaben nicht gemacht in verschiedenen Bereichen. Aber deswegen haben wir auch Untersuchungsausschüsse, oder die Politik hat Untersuchungsausschüsse völlig zurecht einberufen, um zu klären, wie konnte das überhaupt passieren. Es sind momentan ja viele Sachen, wo wir als Experten, als Ermittler, als Kriminalisten schauen und sagen, wie ist das für uns erklärbar, wie kann das funktionieren. Ich sage mal das Stichwort Föderalismus. Wie können wir denn in der heutigen Zeit jeder in seinem Land herumwursteln - das sage ich jetzt mal so salopp -, dass wir nicht zu einem gemeinsamen Ergebnis kommen. Da sind die Hausaufgaben tatsächlich nicht gemacht worden.
    Das hatte der Bund Deutscher Kriminalbeamter auch in der Vergangenheit immer angemahnt. Aber offensichtlich ist das bei der Politik nicht so deutlich angekommen, und das scheint Herr de Maizière auch erkannt zu haben. Nur das hilft den Opfern jetzt herzlich wenig, aber wir müssen einfach offen damit umgehen. Wir müssen aber auch so fair sein und sagen, wir gucken uns die Situation mit den Fachleuten gemeinsam an, und dann muss man sich am Ende die Frage stellen, ist es tatsächlich eine Panne, oder war es unabwendbar. Ich denke jetzt nur an die vielen Fälle, die wir verhindert haben, die Terroranschläge, die verhindert wurden. Darüber wird relativ wenig berichtet. Das ist auch gut so; wir wollen den Tätern ja nicht in die Hände spielen. Aber da haben wir unsere Aufgaben gemacht und dieser eine Fall, dieser tragische Fall, der ist eklatant danebengegangen.
    Defizite bei den Sicherheitsbehörden ausschalten
    Zagatta: Sie sprechen jetzt den Föderalismus an, diese offenbar ungenügende Zusammenarbeit zwischen den Behörden der einzelnen Bundesländer. Das was man bis heute weiß, ist das für Sie der Hauptgrund, dass das so schiefgelaufen ist, oder was sagen Sie als Fachmann?
    Böhl: Ich glaube, dass es ein wesentlicher Bestandteil der Tatsache ist, dass wir nicht die Leistung erbringen konnten, die man von uns erwartet und für die wir eigentlich aufgestellt sind, nämlich für Sicherheit zu sorgen in Deutschland. Aber es ist nicht nur Deutschland. Wir haben erkannt, dass es europaweit, ja sogar weltweit von bedeutsamem Interesse ist, wie man Erkenntnisse erlangt und sie dann auswertet und wie man damit umgeht. Wenn wir noch nicht mal eine einheitliche Gefährderbeurteilung haben, wie jeder Gefährder zu beurteilen ist und wie dann mit ihm umgegangen werden muss, muss er rund um die Uhr begleitet werden, reicht es aus, wenn wir ihn nur videoüberwachen, reichen andere Maßnahmen beispielsweise aus, wenn die von den Ländern unterschiedlich wahrgenommen werden, dann haben wir ein Defizit und das muss ausgeschaltet werden.
    Es gibt aber immer wieder Vorkommnisse, die wir nicht voraussehen können, die dann erst später zur Kenntnis kommen, und dann haben wir meistens das Nachsehen, dass wir die nicht mehr einfließen lassen können. Deswegen sage ich noch mal: Man muss auch in der besonderen Situation fair sein und sagen, wir müssen das alles auf den Tisch bringen und gucken, wo sind tatsächlich Fehler gemacht worden oder wo war es tatsächlich unausweichlich, dass wir so gehandelt haben.
    Zagatta: Jetzt ist immerhin ein ganzes Jahr schon vergangen. Sind wir denn heute besser gewappnet für so was?
    Böhl: Ich glaube, auf jeden Fall besser gewappnet als zum Zeitpunkt des Anschlags vor einem Jahr. Natürlich! Aber es ist ja so, dass wir nicht einfach als Polizei so handeln können, wie wir es gerne wollen. Ich sage mal Stichwort Personaleinsparung, Materialeinsparung. Bedauerlicherweise hat dieser Anschlag erst die Initialzündung ausgelöst bei der Politik, jetzt das zu investieren, was der BDK schon seit Jahren gefordert hat, und wir müssen auch sehen, dass wir nicht nur in Personal und Material und Erkenntnisse investieren, sondern wir müssen auch das Recht anpassen. Und da, sage ich mal, ist es etwas zähflüssig in der deutschen Politik, wie wir letztendlich das Handwerkszeug an die Ermittler, an die Polizei geben, die uns eigentlich schützen soll.
    Zagatta: Herr Böhl, das ist die eine Frage. Auf der anderen Seite waren doch offenbar so viele Erkenntnisse da und es hat an der Zusammenarbeit gehapert. Ist das wirklich dann das entscheidende Problem?
    Böhl: Ja, natürlich! Wenn Sie keine Erkenntnisse bekommen oder wenn Sie die Erkenntnisse zugespielt bekommen, …
    Zagatta: Aber die waren doch da!
    Böhl: Die Frage ist ja, wo waren sie denn. Wer hatte denn von diesen Erkenntnissen tatsächlich Kenntnis? – Wenn Sie beispielsweise in einem Land eine Datenbank haben und dort Erkenntnisse sammeln, ist die Frage, wenn Sie mehrere Datenbanken verknüpfen könnten, würden Sie ein Ergebnis bekommen, was dazu führt, dass Sie sofort reagieren. Wenn jeder auf seinen Erkenntnissen sitzen bleibt und dieses gemeinsame Terror-Abwehrzentrum vielleicht nicht in die Lage versetzt wird, richtig zu reagieren – das kann ich von hier aus jetzt nicht beurteilen, ob es so gewesen ist; dazu haben wir Untersuchungsausschüsse -, dann haben wir ein Riesenproblem. Das heißt, wir müssen alle Erkenntnisse auf den Tisch packen und sie müssen zentral analysiert werden. Das muss passieren, das passiert jetzt auch, aber leider zu spät.
    Neues Analysesystem soll mögliche Gefährder besser beurteilen können
    Zagatta: Jetzt gab es gerade am Wochenende auch Hinweise, dass Amri den Anschlag schon bei seiner Einreise nach Deutschland, weit im Vorfeld also geplant hat, dass man seine Kommunikation mit dem Islamischen Staat mitbekommen habe. Und da gibt es jetzt die Vermutung, man sei nicht eingeschritten, weil er habe als Lockvogel dienen sollen, um Hintermänner zu erwischen. Was ist da aus Ihrer Sicht dran?
    Böhl: Ich weiß aus polizeitaktischem Vorgehen, dass man durchaus jemanden, wie man so schön sagt, an der langen Leine lässt, um zu schauen, wo die Hintermänner sind, gibt es Mittäter, die, wenn er die Tat nicht ausführen kann, für ihn einspringen, Erkenntnisgewinnung. Aber die Erkenntnisgewinnung ist dann obsolet, muss sofort aufhören, wenn man sich sicher ist oder relativ sicher sein kann, dass ein Anschlag in Vorbereitung ist. Ich kann das aber auch an dieser Stelle nicht von hier aus beurteilen, welche Erkenntnisse zu dem Zeitpunkt vorgelegen haben, zumal er ja auch mehrfache Identitäten hatte, und das ist auch wieder eine Frage, wie gehen wir mit diesen vielen unterschiedlichen Identitäten um – ein Themenpunkt, wo wir sagen, das muss zentral erfasst werden. Hier müssen wir besser werden, die Personen im Vorfeld zu identifizieren, ob Herr X oder Herr Y derjenige ist, der tatsächlich den Anschlag ausführen will. Sonst laufen wir den falschen Leuten hinterher.
    Zagatta: Jetzt lesen wir ja auch heute, Polizei und Bundeskriminalamt sollen jetzt über ein neues Analysesystem verfügen, um mögliche Gefährder besser beurteilen zu können. Wie hilfreich ist das, oder sind das jetzt Meldungen zum Jahrestag des Anschlags, um die Öffentlichkeit zu beruhigen?
    Böhl: Nein, ich glaube nicht. Das kann ich mir nicht vorstellen. So arbeitet das BKA nicht und wir sind dabei, dass man sagt, beispielsweise halbjährlich oder jährlich guckt man sich die Situation an, was hat uns das gebracht, in welcher Situation befinden wir uns mit diesem Programm, ist es weiterentwicklungsfähig, reicht das jetzt aus, wie können wir damit umgehen. Es ist für uns ein großes Hilfsmittel, weil wir personell nicht in der Lage sind, das händisch zu leisten, und insofern sind die dort aufgeworfenen Parameter eine große Unterstützung für uns, weil wir dann schon mal eine Vorgruppierung vornehmen können. Und ich glaube, das BKA ist da ganz gut aufgestellt und wird das auch weiter bearbeiten.
    Jetzt könnte man natürlich spekulieren, hätten wir das vorher gehabt, wäre dann der Amri-Anschlag nicht ausgeführt worden. Wissen Sie, das sind Spekulationen. Auf die würde ich mich jetzt auch nicht einlassen wollen. Wir müssen von dem Status quo ausgehen und schauen, dass wir mit den Mitteln, die wir zur Verfügung haben, einen bestmöglichen Schutz ausführen. Hundertprozentigen Schutz gibt es leider nicht. Das kann uns alle treffen.
    Zagatta: Michael Böhl vom Bund Deutscher Kriminalbeamter. Er ist der Vorsitzende des Landesverbandes dort in Berlin. Herr Böhl, ich bedanke mich für das Gespräch.
    Böhl: Ich danke Ihnen!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.