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Bund-Länder-Beschlüsse
Wissenschaftler kritisieren neue Corona-Strategie deutlich

Die meisten Corona-Beschränkungen werden bis zum 28. März verlängert. Die Bund und Länder haben aber auch Öffnungsschritte beschlossen. Viele Forschende sehen die neue Strategie äußerst skeptisch - und vermissen eine wissenschaftliche Grundlage.

Von Christine Westerhaus | 04.03.2021
Ein Schild weist auf die Maskenpflicht in der Innenstadt hin
Viele Wissenschaftler sehen die neuen Corona-Beschlüsse skeptisch, auch wenn das Masketragen nicht dazugehört (picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild/Martin Schutt)
Zuletzt galt ein Inzidenzwert von 35 als Maßstab für Lockerungen. Das gilt offenbar in der von Bund und Ländern am Mittwoch (03.03.2021) beschlossenen Öffnungsstrategie nicht mehr. In dem mehrstufigen Plan sind Öffnungsoptionen bereits bei einer Inzidenz zwischen 50 und 100 skizziert, flankiert unter anderem von tagesaktuellen Schnell- oder Selbsttests. Viele Forschende sehen das kritisch.
Wie bewerten die Forscher das neue Öffnungsmodell mit den höheren Inzidenzen?
Darüber haben sich viele Wissenschaftler gewundert. Bei einer Reihe angefragter Virologinnen und Epidemiologen herrscht dazu durchweg Ratlosigkeit. Friedemann Weber, Virologe an der Uni Gießen, war sehr überrascht, hat aber dann auch gleich einen schönen Vergleich gebracht. Er meinte, aus einer Tempo-30-Zone wurde plötzlich eine Tempo-100-Zone gemacht. Seine Interpretation: Man orientiere sich nun an einem neuen Inzidenzwert, weil die Regierung einfach dem Druck nachgeben musste.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Auch Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation, die ja für einen möglichst niedrigen Inzidenzwert plädiert, war vom vorgestellten Stufenplan überrascht. Michael Meyer-Hermann vom Helmholtz Institut für Infektionsforschung zeigte sich geradezu entsetzt darüber. Viola Priesemann und Michael Meyer-Hermann sind Befürworter der No-Covid-Strategie, bei der Forschende die Meinung vertreten, dass die Zahl der Neuinfektionen möglichst auf null gesenkt werden sollte.
Wie schätzen die Forschenden die Risiken der neuen Strategie ein?
Michael Meyer-Hermann sagt, dass die Entscheidung für Lockerungen extrem gefährlich seien. Sie würden der neuen Virus-Variante neuen Nährboden geben und zu einer dritten Infektionswelle führen, die dann wieder einen weiteren, womöglich noch härteren Lockdown nach sich ziehen würde. Viola Priesemann sagt, dass diese Öffnungsstrategie nur dann funktionieren kann, wenn extrem gut getestet werde, also auch am Arbeitsplatz. Und sie sagt, dass die Notbremse in diesem ganzen Szenarium ein wichtiges Instrument sei. Die sieht ja vor, das wieder härtere Maßnahmen greifen sollen, wenn die Sieben Tage-Inzidenz an drei aufeinanderfolgenden Tagen auf über 100 steigt. Und das unterstützt auch Virologe Friedemann Weber. Er sagt, dass der vorgestellte Stufenplan mit dieser Notbremse realistisch sei, wenn man zusätzlich Schnelltests einsetze und mit den Impfungen schneller vorankomme als bisher.
Welche wissenschaftliche Basis liegt der aktuellen Öffnungsstrategie zugrunde?
Michael Meyer-Hermann sagt: keine. Das sagt auch der Virologe und Epidemiologe Klaus Stöhr, der eigentlich ansonsten eine andere Meinung vertritt und schon seit langem für Öffnungen plädiert. Er meint, dass es von Anfang an utopisch war, sich an einem Inzidenzwert von 50 zu orientieren. Er hält die Öffnung auch für rein politisch motiviert. Man habe den Menschen einfach entgegen kommen wollen. Warum jetzt aber bestimmte Bereiche schneller geöffnet werden als andere, das habe kaum etwas mit epidemiologischen Überlegungen zu tun. Es gäbe keine wissenschaftliche Evidenz dafür, dass sich Menschen in bestimmten Bereichen des öffentlichen Lebens eher anstecken als in anderen. Er empfiehlt einen Blick in die Nachbarländer, also zum Beispiel Frankreich, Schweiz und Österreich. Dort hätten die Öffnungen sehr gut funktioniert. Und dort habe es eben trotz höherer durchschnittlicher Inzidenzwerte weniger Todesfälle gegeben als in Deutschland.