Donnerstag, 28. März 2024

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Bundesentwicklungsminister Müller
"Hunger ist Mord"

Es sei ein "Alarmsignal", dass die Zahl der Hungernden seit 2015 wieder steige, sagte Gerd Müller (CSU). Dabei sei Hunger besiegbar, so der Bundesentwicklungsminister. Hungerbekämpfung und Klimaschutz müssten Schwerpunkt der europäischen Entwicklungspolitik werden.

Gerd Müller im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 28.12.2019
Reiskörner in der Hand eines Inders, beim Reis dreschen, Uttamapalaiyam, Tamil Nadu, Indien, Asien
"Es besteht die Möglichkeit, alle Menschen auf dem Planeten sattzumachen", so Gerd Müller (CSU) (Valentin Wolf / imago stock&people)
Jürgen Zurheide: Es gibt immer noch Menschen in dieser Welt, die hungern. 800 Millionen sind es, in der Tat 200 Millionen weniger als in den Jahren davor. Aber 800 Millionen, das sind immer noch zu viele. Die Frage ist, was kann man denn dagegen tun? Eigentlich ist es ein Skandal, dass immer noch so viele Menschen hungern müssen, über dieses Thema wollen wir reden. Dazu begrüße ich am Telefon Gerd Müller, den Entwicklungshilfeminister, der jetzt da ist. Guten Morgen, Herr Müller!
Gerd Müller: Ja, guten Morgen!
Zurheide: Herr Müller, der Befund, 800 Millionen Menschen, die hungern, etwas weniger als früher, aber die Zahl bleibt stabil. Wie zufrieden sind Sie?
Müller: Also, wir hatten einen Erfolg weltweit, die letzten 20 Jahre ging die Zahl um 200 Millionen zurück, aber nun gibt es ein Alarmsignal: Seit 2015 steigen die Zahlen wieder. Das kann uns nicht ruhig schlafen lassen, denn Hunger ist Mord. Wir haben und hätten die Möglichkeiten, diese Herausforderung gemeinsam in der Welt zu lösen.
"Hunger ist besiegbar"
Zurheide: Was müsste passieren? Auf der einen Seite ist es sicher das Geld. Wir haben uns ja kürzlich getroffen, da haben Sie die Zahl noch mal genannt. Und ehrlich gesagt, mich haben Sie irritiert, weil es natürlich eine Menge Geld ist, aber nicht so viel, wie man immer denkt. Was müsste zunächst an Geld bereitgestellt werden?
Müller: Hunger ist besiegbar, das Potenzial des Planeten ist vorhanden. Es hängt an verschiedenen Punkten. Erst mal müssen wir feststellen, dass die Lage in den Kriegsregionen natürlich am brutalsten ist. Denken wir heute an Idlib, wo wieder die letzten drei Wochen bis zu 200.000 Menschen auf der Flucht sind. Wovon sollen die Menschen überleben, auch im Jemen und in anderen Kriegsgebieten. Das sind natürlich Regionen, wo Soforthilfe notwendig ist.
Bundesentwicklungsminister Gerhard Müller in einem Gespräch
Deutschland und die EU sind in der Pflicht, sagt Bundesentwicklungsminister Gerd Müller. Aber er sagt auch: "Es ist immer das Wichtigste, dass vor Ort das Signal gegeben wird, wir gehen das Problem an." (imago/Uwe Steinert)
Dann haben wir die Situation in Ländern, wo die Landwirtschaft einfach nicht die Bedeutung hat. Aber Sie haben nach der Zahl gefragt. Die G7 hat ein Versprechen abgegeben, also diese sieben großen Industriestaaten, als in Elmau die Tagung war, bis 2030 500 Millionen Menschen aus dem Hunger herauszuführen.
Und um den Hunger zu besiegen wären nach wissenschaftlichen Berechnungen zusätzlich circa 25 Milliarden Investitionen notwendig bis 2030. Das ist eine hohe, große Zahl, aber ich stelle sie mal in Relation. Die USA haben dieses Jahr allein – allein den Rüstungsetat und allein die USA – um 55 Milliarden erhöht. Also: Es fehlt der politische Wille, diese Ziele gemeinsam in der Welt umzusetzen.
"Wir können alle Menschen auf der Erde sattmachen"
Zurheide: Ich habe mir noch mal die Zahlen angeguckt. In der Tat, die Rüstungsausgaben sind 1,8 Billionen. Wenn man das gegenüberstellt zur Entwicklungshilfe, da passiert einiges, aber wir wissen, es ist nur ein Bruchteil. Wie entmutigend ist es eigentlich, wenn man diese Zahlen immer wieder wiederholt? Ich erinnere mich, schon während meines Studiums, ich habe Entwicklungstheorie und Politik studiert, haben wir solche Zahlen gehabt. Wir kommen ein bisschen voran, aber wir kommen nicht wirklich voran. Herr Müller, was muss passieren?
Müller: Ich will noch mal sagen, die Möglichkeit besteht, alle Menschen auf dem Planeten sattzumachen.
12. September 2019, Die UN-Flüchtlingsbotschafterin Angelina Jolie unterhält sich mit somalischen Kindern in einem Flüchtlingslager.
Kulturwandel in der Entwicklungshilfe - Keine weißen Retter
Der Schwarze als willenloses Hilfsobjekt, der Weiße als Retter in der Not: Gegen dieses Stereotyp formiert sich in Afrika Widerstand. Unter dem Motto "Keine weißen Retter" setzt sich eine ugandische Initiative für einen Wandel in der Entwicklungshilfe ein.
Zurheide: Ich glaube, wenn ich dazwischengehen darf, das ist, glaube ich, eine wichtige Erkenntnis, denn Wissenschaftler sagen, wir kriegen auch zehn oder elf Milliarden Menschen satt, es geht technisch.
Müller: Ja, es geht technisch. Ich sage mal Folgendes: Wir brauchen Investitionen in die Landwirtschaft. In Indien, aber auch in afrikanischen Ländern beispielsweise, geht bis zu 50 Prozent der Ernte nach der Ernte einfach verloren. Mann muss sich das so vorstellen. Ich war in afrikanischen Ländern, es wird Mais, Reis oder andere Früchte geerntet und einfach auf dem Feld im Freien gelagert. Es regnet und durch Schädlingsbefall ist die Hälfte der Ernte nicht mehr zu gebrauchen.
Deshalb brauchen wir in diesen Ländern, das erste Signal muss aus den Ländern selber kommen, das sage ich den afrikanischen Staatspräsidenten immer wieder, 80 Prozent der Hungernden sind Kleinbauern, das muss man sich vorstellen. Auf dem Land, Investitionen in die Landwirtschaft, das sind zum Teil ganz einfache Dinge, die Ernte nicht im Freien zu lagern, sondern in Silos.
Die effektive Rolle von Innovationszentren
Wir brauchen dann Verarbeitungskapazitäten, also die Ernte, das Getreide zu verarbeiten. Dazu ist auch Innovation nötig. Den Innovationstransfer leisten wir, die Industriestaaten, beispielsweise Deutschland, wir, das Deutsche Entwicklungshilfeministerium. Ich habe sofort, als ich vor sechs Jahren begonnen habe, gesagt, wir müssen 15 Innovationszentren in diesen Ländern aufbauen und den Menschen vor Ort zeigen, wie man diese Ernteverluste vermeiden kann, aber auch, wie man die Produktion steigern kann, das Wissen ist ja vorhanden.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: In Benin, einem westafrikanischen Land, dorthin haben wir nach einem Screening eine Reissorte aus Asien gebracht. Allein diese Reissorte in diesem afrikanischen Land führt jetzt dazu, dass der Ertrag sich von einer auf die andere Ernte verdreifacht hat, von 1,5 Tonnen auf 4,5 Tonnen. Also es ist möglich, mit Wissenstransfer, mit Ausbildung, mit Investitionen in die Landwirtschaft, diese Themen und Probleme in den Griff zu bekommen.
Zurheide: Sie haben es gerade schon angesprochen, es braucht auf der einen Seite mehr Geld von unserer Seite, da werde ich nachher noch mal drauf kommen, aber es braucht natürlich auch Veränderung der Strukturen in den Ländern selbst. Da sind so viele Dinge, gerade haben Sie einige technische angesprochen, aber natürlich: Kriegerische Auseinandersetzungen sind das eine, möglicherweise auch eine Bevölkerungspolitik sind das andere. Was erwarten Sie von den Ländern selbst oder was können die vor allen Dingen tun?
Regierungen vor Ort müssen handlungsbereit sein
Müller: Es ist immer das Wichtigste, dass vor Ort das Signal gegeben wird, wir gehen das Problem an. Es ist ja nicht so, dass die Potenziale nicht da wären. Ich nehme mal Äthiopien, wo ich vor Kurzem war. Äthiopien war vor Jahrzehnten die Kornkammer Afrikas. Und auch heute ist es so, die Potenziale am Boden, am Wasser sind vorhanden. Die Regierungen müssen das Signal geben, wir investieren in Landwirtschaft und lösen das Problem Hunger.
In Äthiopien ist das der Fall, in anderen Ländern nicht, wenn ich zum Beispiel an den Tschad denke. Also, das entscheidende Signal müssen die Afrikaner oder Indien, wo die Hauptschwerpunkte des Hungers sind, selbst geben. Dann brauchen sie unsere Unterstützung, und dazu gehört nicht nur Technikausbildung, Technologietransfer, es gehört auch eine aktive Familienplanung mit dazu.
Denn die Frage stellt sich diesen Ländern überall: Gewinnt der Storch oder der Pflug? Was meine ich damit? Täglich, auch heute, wächst die Weltbevölkerung um 230.000 Menschen. Das heißt, im Jahr jetzt, im vergangen Jahr 2019, ist die Weltbevölkerung einmal um Deutschland, um sage und schreibe 83 Millionen, gewachsen. Und 90 Prozent des Wachstums erfolgt in afrikanischen Ländern, in Indien, in Entwicklungsländern. Diese Menschen müssen jedes Jahr zusätzlich ernährt werden. Gewinnt der Storch oder der Pflug?
Familienplanung ist wichtig. In einem Land wie dem Niger werden pro Frau immer noch sieben Kinder geboren, das bedeutet meistens Elend, Not und Hunger. Wir haben aber auch andere Länder, ich nenne Bangladesch. In Bangladesch gab es vor 30 Jahren noch fünf Kinder pro Frau, heute zwei Kinder. Also, Familienplanung wird dort durch eine weibliche Staatspräsidentin massiv vorangebracht, und das führt auch dazu, dass Armut und Hunger begrenzt wird.
Mit 25 Milliarden Euro den Hunger besiegen
Zurheide: Das heißt, in den Ländern sehen wir, dass hier und da eben was passiert. Jetzt kommen wir zurück zu der Frage, die ich vorhin schon mal hatte: Wo nehmen Sie noch die Hoffnung her, dass wir vielleicht in 2020 etwas deutlichere Signale haben und dass wir die Trends verändern, nicht nur mehr bei Rüstung, sondern eben auch mehr an Verantwortung bei uns, dass wir es tun müssen, das Wort Klimawandel haben wir jetzt noch nicht behandelt, liegt, glaube ich, auf der Hand.
Müller: Hunger ist begrenzbar und lösbar. Es gibt doch kein größeres Ziel, als diesen Skandal zu beenden, dass beispielsweise am heutigen Tag 10.000 Kinder sterben. Deshalb werden und müssen wir im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Mitte des Jahres beginnt, dieses G7-Ziel aufgreifen, diese Vorgaben der Politik dürfen nicht nur auf dem Papier stehen, bis 2030 500 Millionen aus absoluter Armut zu führen.
Ja, ich gehe sogar einen Schritt weiter, es ist eine großartige nicht Vision, sondern Möglichkeit, mit relativ wenig Geld, 25 Milliarden zusätzlich, von der G7 eingesetzt, den Hunger auf der Welt zu besiegen. Das muss das Ziel, das gemeinsame EU-Ratsziel für die nächsten zehn Jahre sein, Hungerbekämpfung und Klimaschutz in Entwicklungsländern zum Schwerpunkt der europäischen Entwicklungspolitik zu machen.
Und das muss im Siebenjahresprogramm der europäischen Finanzplanung natürlich niedergelegt sein. Wir brauchen eine eigene Förderlinie, wir brauchen auch neue Handelsabkommen, einen neuen EU-Afrika-Vertrag. Und das muss man auch dann ernst meinen, nicht nur aufs Papier schreiben, dann können wir durch ein großartiges Ziel der Weltgemeinschaft in zehn Jahren den Hunger besiegen.
Zurheide: Herr Müller, ich bedanke mich für das Gespräch!
Müller: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.