Freitag, 29. März 2024

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Bundeskanzlerin bei "Anne Will"
"Merkel war ausgezeichnet in den ihr gesetzten Grenzen"

Angela Merkel habe einen sehr glaubwürdigen Auftritt bei "Anne Will" abgeliefert, zumindest was ihre eigene Überzeugung angehe, sagte der Politologe Jürgen Falter im DLF. Sie habe wiederholt, dass sie ihre Meinung bezüglich der Flüchtlingsfrage nicht ändere. Allerdings glaubt Falter ihre Aussagen nicht, wonach es keinen Plan B gebe.

Jürgen Falter im Gespräch mit Rainer Brandes | 29.02.2016
    Prof. Jürgen Falter, Politikwissenschaftler, Universität Mainz
    ürgen Falter, Politikwissenschaftler an der Universität Mainz, auf einem Foto aus dem Jahr 2012. (picture alliance / Erwin Elsner)
    Tobias Armbrüster: Angela Merkel will an ihrem Kurs in der Flüchtlingskrise festhalten. Das hat sie gestern in einem langen Interview in der ARD noch einmal deutlich gemacht. Sie will weiter eine europäische Lösung und sie lehnt Grenzschließungen weiterhin ab. Das heizt natürlich die Debatte in Berlin weiter an. Die Stimmung in der Koalition, die ist ja ohnehin gereizt, weil sich Vizekanzler und Finanzminister übers Wochenende einen Schlagabtausch geliefert haben in der Frage, ob es jetzt auch mehr Geld für die einheimische Bevölkerung geben müsse.
    Am Telefon ist jetzt der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Falter, einer der besten Kenner der deutschen Parteienlandschaft. Schönen guten Tag, Herr Falter.
    Jürgen Falter: Guten Tag, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Falter, lassen Sie uns zunächst bei diesem Auftritt gestern von Angela Merkel in der ARD bei Anne Will bleiben. Wie haben Sie diesen Auftritt verfolgt? Hat es die Kanzlerin ihren Kritikern da noch einmal so richtig gezeigt?
    Falter: Ja Gott, sie war ausgezeichnet in den ihr gesetzten Grenzen. Das heißt, sie hat argumentiert, sie hat wiederholt gesagt, ich ändere meine Meinung nicht, weil ich vollkommen davon überzeugt bin. Aber die Kritiker hat das natürlich nicht überzeugt, denn sie hat ja keinen Plan B vorgelegt. Sie hat ja nicht gesagt, was passiert, wenn ich nicht reüssiere, wenn es mir nicht gelingt, die europäischen Partner auf meine Seite zu ziehen. Das ist ja die Gretchenfrage, vor der sie dann stehen wird. Und wenn sie keinen Plan B hätte, was sie ja verneint hat, dann wäre sie eine schlechte Kanzlerin. Selbstverständlich muss sie etwas in der Schublade haben für den Fall, dass es nicht so geht, wie sie es eigentlich gerne hätte.
    Armbrüster: Das heißt, Sie nehmen ihr das nicht ab, dass sie keinen Plan B hat?
    Falter: Auf gar keinen Fall. Sie selbst hat vielleicht keinen Plan B, aber der Innenminister hat einen Plan B. Die anderen Ministerien müssen einen Plan B haben. Das muss dann auch mit den Ländern abgesprochen werden, denn sonst steht man dort plötzlich vor einer Situation, es geht nicht, wie ich es mir vorgestellt habe. Soll es denn so weitergehen, wie es jetzt der Fall ist? Das will doch niemand haben.
    "Für mich war der Auftritt sehr glaubwürdig, was ihre eigene Überzeugung angeht"
    Armbrüster: Dann war dieser Auftritt aber insgesamt eher unglaubwürdig, oder?
    Falter: Für mich war er sehr glaubwürdig, was ihre eigene Überzeugung angeht. Gar keine Frage. Das hat sie ausgezeichnet gemacht in meinen Augen. Aber er ist nicht glaubwürdig, wenn sie beispielsweise sagt, es geht nur so, wie ich mir das vorgestellt habe, anders geht es nicht. Und was ist, wenn es dann doch nicht anders geht?
    Armbrüster: Dann lassen Sie uns kurz bei diesem Gedanken bleiben. Was sind denn diesem Interview zufolge Merkels Grundüberzeugungen?
    Falter: Die Grundüberzeugungen sind mehrere, die zusammenkommen. Es ist erstens ein humanitäres Ideal, wir müssen helfen, und das ist ja auch völlig unbestritten, dass man die Menschen nicht einfach zugrunde gehen lassen kann. Ihr zweiter Punkt ist, das geht nur innerhalb einer europäischen Perspektive: Wir müssen Europa zusammenhalten, die Europäer müssen zusammenstehen, wir können das nur gemeinsam leisten, und zwar nach innen, indem wir - hat sie nicht so ausgesprochen - Kontingente aufnehmen, indem wir gerecht verteilen, nach außen, indem wir die Grenzen sichern, und das Vorletzte ist, das geht nur mit der Türkei zusammen, und das letzte, wir müssen die Fluchtursachen im eigentlichen Sinne bekämpfen, aber das ist etwas sehr Langwieriges.
    Armbrüster: Sie sprechen da jetzt von großen Worten. Humanismus ist gefallen. Ist das jetzt eine etwas andere Angela Merkel, die wir da in diesen Tagen erleben? Ist das eine Angela Merkel, die sich verabschiedet hat von der Politik der kleinen Schritte, die sie ja einmal geprägt hat?
    Falter: Ja, in diesem Falle ganz eindeutig, indem sie nämlich den großen Schritt gemacht hat im September. Die Grenzen nicht zuzumachen, ist nicht der große Schritt, sondern eine quasi Einladung damit auszusprechen, dass alle Mühseligen und Belasteten der Welt zu uns kommen können, wenn es nötig ist. Das hat sie vermutlich nie so gemeint, aber es ist so verstanden worden. Und dann plötzlich stand sie vor der Situation, mit kleinen Schritten im eigentlichen Sinne geht es nicht, hier brauchen wir einen großen Plan und wir brauchen einen großen Wurf. Mit diesem großen Wurf macht sie sich abhängig von anderen. Das war bisher immer das, was sie zu vermeiden suchte. Sie ist abhängig von den europäischen Partnern, sie ist abhängig von der Türkei und sie ist abhängig von der Weltpolitik im Nahen Osten.
    Armbrüster: Haben Sie das gestern bei diesem Auftritt irgendwie gesehen, dass sie sich da abhängig fühlt, dass sie möglicherweise merkt, dass sie da in einer neuen, etwas ungewohnten Rolle steckt?
    Falter: Nein, das ist mir nicht aufgefallen. Sie glaubt so fest an ihren Plan, so habe ich das verstanden, dass sie gar nicht merkt, oder zumindest das nicht zeigen will, dass da bestimmte Axiome dahinter stehen, bestimmte Annahmen, die erfüllt sein müssen, wenn der Plan aufgehen muss, und er kann nur aufgehen, indem andere mitmachen. Das hat sie nicht gezeigt, dass da die eigentliche Schwäche ihres Plans liegt, auf das Wohlwollen, auf die Interessenwahrnehmung der anderen angewiesen zu sein.
    Armbrüster: Dann muss das alles für ihre Kritiker gestern wie ein ziemlicher Affront gewirkt haben?
    Falter: Ich bin völlig sicher, dass sie niemanden überzeugt hat, der die AfD deswegen wählen möchte beispielsweise, weil er mit der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung nicht einverstanden ist. Ich bin auch völlig sicher, dass in der CSU niemand überzeugt worden ist. Überzeugt worden sind alle davon, das ist eine Frau, die führen will, das ist eine hervorragende Kanzlerin, aber sie sagt uns nicht ganz genau, wie sie uns wohin führen will.
    Armbrüster: Wir haben gestern Abend wie auch schon in vielen anderen Berichten in den vergangenen Wochen immer wieder von entscheidenden Terminen in der kommenden Zeit gehört. Zum Beispiel der EU-Gipfel in einer Woche, der sich noch einmal mit der Flüchtlingssituation in Europa beschäftigen soll. Aber wir haben da natürlich auch die drei Landtagswahlen Mitte des Monats in Baden-Württemberg, in Rheinland-Pfalz und in Sachsen-Anhalt. Wie wichtig sind diese beiden Termine, diese beiden Tage für die weitere Zukunft von Angela Merkel?
    Falter: Wenn es Angela Merkel nicht gelingen sollte, am 7. März, eine Woche vor der Wahl, vor den drei Landtagswahlen irgendein Signal tatsächlich zu bekommen, dass es auf der europäischen Ebene vorangeht, dann ist das ein verheerendes Signal für die Landtagswahlen. Dann wird die CDU vermutlich noch schlechter abschneiden, als sie jetzt bereits in den Umfragen steht, und das wird Wasser auf die Mühlen der Kritiker sein. Und wenn sie bei den Landtagswahlen das erleben sollte, dann ist das sicherlich eine enorme Schwächung ihrer Position auch in der CDU. Da werden dann die Messer gewetzt werden. Da wird an den Stuhlbeinen gesägt werden. Allerdings gibt es neben Wolfgang Schäuble keine überzeugende Alternative zu Angela Merkel, sodass das möglicherweise sie aussitzen kann. Aber geschwächt würde sie sein.
    "Im Augenblick sitzt sie noch sehr sicher im Sattel. Aber man merkt ja, es brodelt im Untergrund"
    Armbrüster: Dann muss man tatsächlich die Frage stellen: Wie sicher sitzt sie noch in ihrem Sattel, wenn es solche Signale in den kommenden Tagen nicht geben sollte?
    Falter: Im Augenblick sitzt sie noch sehr sicher im Sattel. Aber man merkt ja, es brodelt im Untergrund. Es ist ja nicht nur die CSU. Es sind viele Landesverbände vor allen Dingen, die in den Landtagswahlen jetzt beteiligten. Es sind viele Kommunalpolitiker, die absolut nicht zufrieden sind mit der Politik der Bundesregierung und Angela Merkels. Und wenn das dann in Erfolglosigkeit bei Wahlen münden sollte, dann wird es tatsächlich, sagen wir mal, enger werden, als es jetzt der Fall ist. Dann ist nicht völlig sicher, ob sie wirklich das Ende der Legislaturperiode in dieser Form übersteht, schon deswegen auch, weil es ja erhebliche Konflikte mit dem Regierungspartner gibt, wo man sich ja schon so beschimpft in der Zwischenzeit, wie das zwischen FDP und CSU mal in der letzten Legislaturperiode der Fall war.
    Armbrüster: Sehen Sie denn, Herr Falter, irgendjemanden in der Union, der sich schon jetzt warmläuft für die Zeit nach Merkel, für eine Zeit, die möglicherweise früher anbrechen könnte, als man das bisher angenommen hat?
    Falter: Wenn Julia Klöckner erfolgreich sein sollte bei der Wahl, wenn sie Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz werden würde, dann wäre sie eine mögliche Nachfolgerin für Angela Merkel, aber vermutlich mit einem Interimskanzler namens Wolfgang Schäuble. Eine andere Konstellation kann ich im Augenblick eigentlich gar nicht sehen.
    Armbrüster: Jetzt wurde, Herr Falter, diese ganze Flüchtlingsdebatte erweitert um eine weitere Diskussion. Da ging es am Wochenende vor allem um die Frage, ist es möglich, dass die Politiker mit den vielen Flüchtlingen auf einmal vergessen, dass es auch viele Einheimische gibt, die eigentlich Hilfe und die mehr Geld brauchen, zum Beispiel im sozialen Wohnungsbau, und aus deren Sicht könnte es sein, dass Flüchtlinge auf einmal bevorzugt werden. Ist das ein ernst zu nehmendes Argument? Ist das ein ernst zu nehmender Streit, den wir da erlebt haben zwischen Sigmar Gabriel und Wolfgang Schäuble?
    Falter: Das ist eine ernst zu nehmende Angst, eine ernst zu nehmende Besorgnis derer, die sich eventuell zu kurz gekommen fühlen, obwohl das objektiv im Augenblick falsch ist. Diese Bundesregierung hat sehr viel getan an allen möglichen Fronten. Da hat Angela Merkel ja auch darauf hingewiesen. Aber wenn es tatsächlich zu Einschränkungen kommen sollte, wenn Steuern erhöht werden sollten, wenn Infrastrukturmaßnahmen zurückgefahren werden sollten, wenn gespart wird, dann sind natürlich diejenigen, die am ärmsten dran sind, tatsächlich diejenigen, die auch am stärksten davon betroffen sein werden. Insofern muss man diese Sorgen ernst nehmen. Aber durch kurzfristige Programme, glaube ich, wird man da auch nicht besonders viel lösen.
    Armbrüster: … sagt hier bei uns im Deutschlandfunk der Mainzer Politikwissenschaftler Jürgen Falter. Vielen Dank, Herr Falter, für Ihre Einschätzungen.
    Falter: Gerne.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.