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Bundestagswahl
Keine Konfrontation

Hitzige Marktplatz-Reden und konfrontative Kandidatenduelle: Fehlanzeige. Bisher ist vom Wahlkampf in Deutschland nicht viel zu spüren, obwohl in knapp sieben Wochen ein neuer Bundestag gewählt wird. Woran liegt das?

Gesprächsleitung: Michael Köhler, Deutschlandfunk | 09.08.2017
    Wahlplakate der CDU mit Bundeskanzlerin Angela Merkel und der SPD mit Spitzenkandidat Martin Schulz sind am 09.08.2017 vor dem Kaufhaus des Westens oder KaDeWe zu sehen.
    Im September wird gewählt, so richtig Wahlkampf-Euphorie ist aber noch nicht zu spüren. (dpa / picture alliance / Christina Peters)
    Die Parteien agieren im Wahlkampf konfliktscheu, darin war sich die Runde schnell einig. Die Ursachenforschung gestaltet sich allerdings schwieriger.
    Der Soziologe Harald Welzer meint, dass diese Konfliktvermeidungs-Strategie nicht dem Willen der Bevölkerung entspricht, die politisch aktiv ist, wieder in Parteien eintritt und sich bei pro-europäischen Demonstrationen engagiert. "Wir haben in der deutschen Gesellschaft eine Repolitisierung, während sich die politische Klasse, bei allem womit sie sich die Finger verbrennen könnte, zurückhält, um keine Wähler zu verprellen."
    Das hat zur Folge, dass selbst "Wahlkampfgeschenke, die mit Schleifchen und Geschenkpapier auf dem Tisch liegen", wie der Abgasbetrug der deutschen Autobauer, nicht offensiv angegangen würden, meint Welzer. Und zwar weder von der Regierung noch von der Opposition.
    Kein scharfes Profil
    Ein weiterer Grund für die fehlende Wahlkampf-Euphorie: Die politische Polarisierung hat nach dem Mauerfall und dem Ende des Kalten Krieges nachgelassen. Parteien wie SPD, CDU und die Grünen würden inzwischen konservative und linke Positionen abdecken, meint Hugo Müller-Vogg. "Das sind keine Volksparteien mit scharfem Profil mehr, keine monolithischen Blöcke ", ergänzt der Publizist. Im Gegenteil: "Die SPD weiß noch immer nicht, ob sie auf die Hartz-Reformen von Schröder stolz sein soll, die CDU steht für Rente mit 63 und die Frauenquote und bei den Grünen wollen einige mit der Union koalieren."
    Zu viel politischer Krach und Radau sei allerdings nicht gut, sagt die Journalistin Hilal Sezgin, vielmehr brauche es zukunftsfähige Ideen, mit denen man die Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen könne. Die großen Fragen wie der Klimawandel, Gerechtigkeit in der Welt und die Flüchtlingskrise liegen auf der Hand, aber "wir verdrängen das so gut es geht. Es gibt Themen die wirklich brennen, aber wir schütten noch ein bisschen Sand drauf und hoffen, dass die Flamme nicht rauskommt." Lösungen müssten her, fordert Sezgin und lässt das Argument von Müller-Vogg, dass manche Themen die Menschen einfach nicht interessierten, nicht gelten.
    Der ehemalige F.A.Z.-Herausgeber Müller-Vogg bleibt aber dabei: Wähler und Politiker wollen eher wissen, was mit den deutschen Arbeitsplätzen in den nächsten Jahren passiert und nicht, wie die Welt in zwölf Jahren aussieht.
    Die Kanzlerin, die für etwas steht
    Hitzig diskutiert wurde auch über die Rolle von Angela Merkel im aktuell noch ruhigen Wahlkampf. Für den Soziologen Harald Welzer ist die Kanzlerin ein gutes Beispiel für eine Politikerin, die für etwas steht. "Angela Merkel hat ein politisches Standing, eine Kontur, die sich in ihrer Regierungszeit sogar noch weiterentwickelt hat", das würden die Wählerinnen und Wähler, die Verlässlichkeit wollten, schätzen. Und das zeige auch, dass es trotz oft gegenteiliger Behauptungen noch Politiker gibt, die Haltung verkörperten.
    "Die Kanzlerin ist eindeutig von Umfragen getrieben", meint hingegen Hugo Müller-Vogg, das sei kein Zeichen von Stärke im Wahlkampf. "Die 'Ehe für alle' hat Angela Merkel lange abgelehnt und dann nur zur Abstimmung freigegeben, weil es eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung so wollte". Trotzdem ist auch für den Publizisten klar: Das Grundvertrauen in die Kanzlerin, die nicht viel Aufsehen macht, ist da.
    Die Regierung mit Ideen herausfordern
    Genau deswegen hätten die Menschen in Deutschland auch das Recht, nicht zur Bundestagswahl im September zu gehen und unpolitisch zu sein, legt Müller-Vogg provozierend nach. Die Bürger könnten sich schließlich darauf verlassen, dass jemand wie Angela Merkel für sie da sei und die Sachen in die Hand nimmt.
    Eine Aussage, die heftigen Widerspruch erntet. Die Bürger sollten unbedingt im September abstimmen, so Welzer. Und auch für Sezgin ist klar: "Die Menschen, die mehr von der Politik erwarten, sollten wählen gehen." Dann hätten auch die kleinen Parteien die Chance, ins Parlament einzuziehen und ihre eigenen Ideen und Argumente einzubringen. "Nur von der Seite können Anstöße kommen, die die Regierungsparteien fordern."
    Vielleicht werden die nächsten Wahlkämpfe dann wieder etwas lebendiger.
    Es diskutieren:
    Hugo Müller-Vogg, Publizist
    Hilal Sezgin, Journalistin und Autorin
    Harald Welzer, Soziologe