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Bundestagswahl
Was junge Menschen politisch umtreibt

Bundesweit ist die Wahlbeteiligung bei den bis 30-Jährigen unterdurchschnittlich. Stichprobe in Kiel: Hier engagieren sich viele im Projekt "Alte Mu", geben Deutschunterricht für Flüchtlinge, helfen im Garten. Das Interesse der Jungen an politischen Themen ist da, gut vertreten fühlen sie sich nicht immer.

Von Johannes Kulms | 29.08.2017
    Jens, 34 Jahre, zusammen mit Mathias Semling, 29 Jahre alt, im Grün der "Alten Mu" in Kiel: Wichtig ist, bei Politik mitmachen zu können.
    Jens, 34 Jahre, zusammen mit Mathias Semling, 29 Jahre alt, im Grün der "Alten Mu" in Kiel: Wichtig ist, bei Politik mitmachen zu können. (Johannes Kulms / Deutschlandfunk)
    Ein Ensemble aus mehreren kastenförmigen Gebäuden in der Kieler Innenstadt: Einst hat hier die Kunsthochschule residiert. Vor fünf Jahren zog sie aus Platzgründen um. Zurück blieben leere Seminarräume und Werkstätten. Doch schon bald hielten neue Ideen Einzug – die Alte Mu war geboren.
    Das Projekt lebt heute von der Kreativität und dem Engagement von jungen und alten Kielern: Bier brauen, Möbel aus alten Bettlatten zusammenzimmern, Yoga-Sessions oder Deutschunterricht für Flüchtlinge – Gemüsebeete und Gärten. In einem davon wandert an diesem Nachmittag Jens umher und er rupft das Unkraut.
    "Ich freue mich total, dass es hier in der Alten Mu so einen Ort gibt, wo ich einfach mitmachen kann und an Projekten mitwirken kann, zum Beispiel hier im Garten oder mit Geflüchteten. Und ich finde es immer schade, ganz viele Menschen beschweren sich über Politiker in Berlin und Brüssel und weit weg, dass es nicht gut laufen würde. Und mir ist einfach wichtig, dass ich mitmachen kann."
    Mitmachen ist wichtig
    Der 34-Jährige möchte seinen Nachnamen nicht nennen. Er ist Jurist und arbeitet in der Verwaltung. Seit ein paar Wochen nimmt sich Jens eine Auszeit, will mehr Zeit haben, um die Natur zu entdecken und sich zu engagieren. Er ist Mitglied bei den Grünen und wird auf jeden Fall zur Bundestagswahl gehen. Neben ihm steht Mathias Semling, der bei der Frage noch unentschieden ist und klarmacht:
    "Ich gehe lieber in den Garten!"
    Der 29-Jährige macht derzeit eine Ausbildung zum Permakulturdesigner. Semling versucht das ökologische Gärtnern in Kiel zu etablieren, geht dafür auch als Dozent an Schulen. In die Politiker und die Parteien im fernen Berlin hat er nur wenig Vertrauen. Doch Einrichtungen wie die Alte Mu in Kiel und das Engagement auf lokaler Ebene machen ihm Hoffnung in bewegten Zeiten – zum Beispiel beim Umweltschutz.
    "Vieles verändert sich zum Guten, da vieles sehr, sehr im Argen ist und es ist immer, immer krasser. Und wenn man sieht, wie heftig diese Welt zerstört wird, dann ist das Positive daran, dass immer klarer wird, dass Leute sich im Handeln mehr und mehr nach vorne begeben sollten."
    Geringe Wahlbeteiligung bei jungen Wählern
    72,4 Prozent – so hoch war bei der letzten Bundestagswahl 2013 die Wahlbeteiligung. Bei den 25- bis 30-Jährigen lag sie laut der Bundeszentrale für politische Bildung gerade mal bei 62,4 Prozent. Und die Gruppe der 20- bis 25-Jährigen ließ sich sogar am wenigsten mobilisieren: Nur 60,3 Prozent gingen wählen.
    Fritz Herre, 19 Jahre alt aus Köhn, hat gerade sein Abitur gemacht und fängt in Kürze in Göttingen an zu studieren.
    Fritz Herre, 19 Jahre alt aus Köhn, hat gerade sein Abitur gemacht und fängt in Kürze in Göttingen an zu studieren. (Joachim Kulms / Deutschlandfunk)
    Fritz Herre will auf jeden Fall am 24. September seine Stimme abgeben. Der 19-Jährige hat vor wenigen Monaten sein Abitur gemacht. Bei der schleswig-holsteinischen Landtagswahl im Mai durfte er erstmals wählen.
    "War halt schon so ein kleines Erlebnis. Weil sonst war ich immer davon ausgeschlossen, weil man zu jung war. Und das war auch das erste Mal, wo ich mich so wirklich informiert habe über die verschiedenen Parteien."
    Der Teenager sitzt an diesem Morgen am Schönberger Strand, mit dem Auto eine halbe Stunde von Kiel entfernt. Hier um die Ecke ist Herre aufgewachsen, in Köhn, einem 400-Seelen-Dorf. Schon bald wird er nach Göttingen ziehen. Ab Oktober studiert er dort Biochemie.
    "Ich habe mich eigentlich immer mit den Politikern oder zumindest einigen identifizieren können und hatte nie das Gefühl, nicht respektiert zu werden, nicht mitgenommen zu werden."
    Politik steht oft nicht im Mittelpunkt
    Schade findet Herre, dass er nur zwei Jahre lang in der Schule im Fach Wirtschaft und Politik unterrichtet wurde – und das gerade mal einmal pro Woche. Vielleicht ist das auch ein Grund dafür, dass Politik in seinem Freundeskreis zwar durchaus ein Thema ist, aber auch nicht im Mittelpunkt steht.
    Die Umwelt und die Flüchtlings- und Migrationspolitik – das seien derzeit die drängendsten Themen. Bei Nachfragen zur Rente, wo immer weniger junge Menschen für immer mehr ältere einzahlen, gibt Herre sich pragmatisch:
    "Man kann es ja so sehen, dass wenigstens wir überhaupt Rente bekommen, wenn wir in Rente gehen. Und ich finde es auch nicht schlecht, dass wir jetzt die Rente von den älteren Menschen bezahlen. Weil das ja alles aufeinander aufbaut. Und es ist natürlich nicht schön, zu sehen, dass unsere Rente dann sinken würde. Aber man selbst kann halt wenig machen dagegen – außer halt, wählen zu gehen."
    Zurück nach Kiel zu einem Treffen mit Ann-Christin Haase. Bildung sollte für alle da sein, meint die 30-Jährige. Doch genau das ist für sie nur schwer einzulösen. Haase möchte Lehrerin werden, ist aber gleichzeitig auch alleinerziehende Mutter von zwei Kindern:
    "Die Zuverlässigkeit ist halt bei der Kinderbetreuung das Problem. Ich habe jetzt eine Tagesmutter, die war jetzt wirklich schwer krank. Und es gibt sogar eine Ersatztagesmutter. So ist das ganze System aufgebaut, die möchte dann aber nicht so viele Stunden arbeiten. Und ja, dann stehe ich da und rufe bei dem Amt an und dann sagen sie, ja, da können wir nichts machen."
    Keine Zeit für politisches Engagement
    Haase bekommt BAföG, doch das reicht nicht. Für die Kinderbetreuung musste sie letztes Semester einen Kredit aufnehmen. Kein Wunder, dass sich die gebürtige Lübeckerin von der Politik allein gelassen fühlt.
    "Vielleicht einfach, weil die Entscheidungen auf ganz anderen Ebenen getroffen werden. Heißt nicht unbedingt, dass Volksentscheidungen jetzt besser sind oder dass es eine bessere Demokratie ausmacht. Aber wir wählen halt alle vier Jahre und damit ist das dann ja auch irgendwie entschieden, nicht? Also, ich fühle mich da nicht unbedingt gut vertreten."
    Den Begriff Politikverdrossenheit findet Haase trotzdem unpassend, auch was ihre Generation angeht. Mehrere Jahre war sie SPD-Mitglied, ehe sie später wieder austrat. Ihr Bild von Politikern bleibt unterm Strich positiv:
    "Ich denke nicht, dass das unbedingt nur Leute sind, die Geld kassieren wollen und möglichst wenig arbeiten. Ich habe schon das Gefühl, die machen das aus Leidenschaft, die wollen was erreichen. Und es sind halt manchmal einfach die Möglichkeiten, die es ihnen nicht ermöglichen so."
    Fürs politische Engagement fehlt ihr die Zeit, sagt Haase. Sie möchte gerne in Kiel ihr Studium abschließen. Und Jugendlichen später als Lehrerin Politik näher bringen.