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Bundesverfassungsgericht zu Hartz IV
"Urteil wird zu mehr Rechtsunsicherheit führen"

Zwar begrüßte Sozialwissenschaftler Stefan Sell im Dlf die Begrenzung der Hartz-IV-Sanktionen durch das Bundesverfassungsgericht. Doch das Urteil strotze vor unbestimmten Rechtsbegriffen. Auf die Mitarbeiter der Jobcenter käme damit eine Menge Mehrarbeit zu - sie müssten jeden Einzelfall stärker abwägen.

Stefan Sell im Gespräch mit Mario Dobovisek | 05.11.2019
Richter des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts sitzen zu Gericht
Hartz IV-Sanktionen dürften nur das allerletzte Mittel sein, meint der Sozialwissenschafter Stefan Sell (picture alliance / dpa / Uli Deck)
Mario Dobovisek: Am Abend habe ich darüber gesprochen mit Stefan Sell. Er ist Sozialwissenschaftler an der Hochschule Koblenz und dort intensiv mit Arbeitsmarktfragen befasst. – Das Bundesverfassungsgericht habe ein sehr weises und ausgewogenes Urteil gefällt, kommentiert Arbeitsminister Hubertus Heil heute. Ich habe Stefan Sell gefragt, ob er sich seiner Meinung anschließen kann.
Stefan Sell: Na ja. Ich würde das jetzt etwas analytischer versuchen auszudrücken. Da muss man vielleicht etwas kritisch anmerken: Das Bundesverfassungsgericht macht sich ein bisschen einen schlanken Fuß. Das Urteil strotzt vor Formulierungen mit Begriffen wie "die Jobcenter können", "die Jobcenter dürfen" - also unbestimmte Rechtsbegriffe, die dazu führen werden, dass jetzt für die Jobcenter, für die Mitarbeiter dort eine Menge Mehrarbeit kommt, weil sie in jedem Einzelfall zwar mehr Möglichkeiten haben abzuwägen, aber das heißt natürlich auch, sie müssen viel mehr dokumentieren, nachhalten, falls die Betroffenen dann in Widerspruch und Klage gehen. Das wird ein Stück weit zu mehr Rechtsunsicherheit führen, weil jetzt noch mehr als heute schon, wo wir eine starke Streuung haben zwischen den Jobcentern, was die Sanktionen angeht, werden wir sehen, dass es noch mehr darauf ankommt, an welchen Sachbearbeiter kommen Sie, in welcher Region leben Sie.
Dobovisek: Aber Fakt ist: Wir haben jetzt erst mal einen Deckel. Mehr als 30 Prozent dürfen den Regelleistungen nicht abgezogen werden – mit der Einschränkung, dass es bei jüngeren Hartz-IV-Empfängern anders aussieht. Ist das zumindest erst mal ein erster Schritt für ein gerechteres Hartz IV, zumindest aus Sicht der Betroffenen?
Sell: Ja, auf alle Fälle, wobei man die Einschränkung machen muss: Wenn denn der Gesetzgeber jetzt den Ball nutzt, der hier aus Karlsruhe geschossen wurde, und das SGB II, das Hartz-IV-Gesetz entsprechend verändert, …
Dobovisek: Das Sozialgesetzbuch.
Sell: Genau! Dann wäre das eine Möglichkeit, wenn er auch die anderen Fälle nimmt, die Terminversäumnisse und so weiter, und dort eine einheitliche Neuregelung schafft. Denn das ist klar, das zeigen auch die Forschungsbefunde: Diese 60 Prozent oder gar 100 Prozent Sanktionierung, die gehen einfach nicht. Die wirken im Regelfall nicht so – das beklagt auch das Gericht in seiner Urteilsbegründung , dass keine wirklich überzeugenden Wirkungsbefunde vorgelegt wurden, dass die dann zu einer Verhaltensänderung führen.
"Wir verlieren ganz viele junge Menschen, die dann teilweise obdachlos werden"
Dobovisek: Weil diese Fälle, ich nenne es mal so, Fälle, die betroffenen Menschen ohnehin verloren sind?
Sell: Ja, das ist natürlich auch eine Typfrage. Nehmen Sie zum Beispiel die jungen Menschen. Da wissen wir: Ein kleiner Teil lässt sich tatsächlich durch die harten Sanktionen auf den "rechten Weg" wieder setzen. Aber wir verlieren ganz viele junge Menschen, die sich dann abmelden, die teilweise obdachlos werden, die bei keiner Behörde mehr aufschlagen, die auch in die Kleinkriminalität rutschen und so weiter, erheblich negative gesellschaftliche Folgen. Und bei den Sanktionen, die die meisten Fälle darstellen, Meldeversäumnisse, da sollten wir nicht vergessen, dass dort auch oft Menschen sind – ich will das nicht entschuldigen, sondern versuchen zu erklären -, die zum Beispiel wegen psychischer Erkrankungen oder wegen totaler Überschuldung kein amtliches Schreiben mehr aufmachen, völlig panisch reagieren und dann auch noch mit Sanktionen belegt werden.
Dobovisek: Nun muss man das aber trotzdem relativieren, weil dem Jobcenter reicht ja oftmals einfach eine plausible Erklärung.
Sell: Ja, aber da kommt es drauf an. Wenn Sie einen Jobcenter-Mitarbeiter haben, der dafür offen ist, dann ja. Aber es gibt – das zeigen auch die Statistiken – enorme Sanktionierungsunterschiede zwischen einzelnen Jobcentern, die nicht dadurch erklärbar sind, dass in dem einen nun deutlich schlechtere Hartz-IV-Empfänger sind, die alle nicht wollen. Das hängt auch dann sehr stark von der Haltung und von der Einstellung ab, die vor Ort in einem bestimmten Jobcenter vorherrschen.
Dobovisek: Dann machen wir es mal konkret. Wann sind denn aus Ihrer wissenschaftlichen Perspektive Sanktionen sinnvoll?
Sell: Es gibt ja die Grundpositionen, die sagen, generell kann man ein Existenzminimum nicht wirklich noch kürzen. Diese Position wurde heute verfassungsrechtlich abgeräumt. Aber ich persönlich bin der Meinung: Wenn man Sanktionen einsetzt, dann darf das A wirklich nur das allerletzte Mittel sein, und hier ist das Urteil durchaus hilfreich. Es darf auch über 30 Prozent auf keinen Fall hinausgehen. Wir reden ja hier über das Existenzminimum, was dann noch mal gekürzt wird. Und dann muss es zeitlich befristet sein.
Das hatten wir auch früher in der Sozialhilfe. Vor Hartz IV gab es auch diese Möglichkeit. Da hat man dann aber gesagt damals: Wenn jemand drei Monate oder länger sein Verhalten nicht ändert, dann ist das zwar schlimm und man kann sich darüber ärgern, aber das sind A so wenig Fälle und B, man wird diese Fälle wahrscheinlich auch durch 50 oder 60 Prozent Sanktionen nicht lösen können. Das muss ein System ein Stück weit aushalten und man muss versuchen, andere Zugänge zu den Leuten zu finden. Wenn Sanktionierung, dann als letztes Mittel und nicht in der Größenordnung. Wir hatten im vergangenen Jahr 900.000 neue Sanktionen, die verhängt wurden, oder Sanktionen überhaupt, die verhängt wurden, und das ist natürlich schon eine erhebliche Zahl. Die müsste man auf alle Fälle deutlich reduzieren können.
"Bei den Reformen im bestehenden System gibt es starke Widerstände"
Dobovisek: Den Sozialdemokraten hängen die Hartz-Reformen ja weiter schwer wie Blei an den Beinen. Gerne wollen die Genossen das Gewicht abwerfen und fordern längst eine Abkehr von Hartz IV. Jetzt könnte man das Urteil ja zum Anlass nehmen, darüber noch mal ernsthaft nachzudenken. In welche Richtung sollte es denn gehen?
Sell: Wir müssen auf dem Boden bleiben. Die anstehende gesetzliche Neuregelung des Sozialgesetzbuches II wird schon gar nicht so einfach sein. Natürlich wird man die konkreten Vorgaben des Verfassungsgerichts umsetzen können, aber schon bei der von mir angesprochenen Sondergruppe der unter 25-Jährigen, wo übrigens alle, fast alle Beteiligten sagen, das hätten wir schon längst entschärfen müssen, das ist kontraproduktiv in der Gesamtwirkung, selbst die Bundesagentur fordert das, da gab es in der Vergangenheit deswegen keine Bewegung, weil Bayern und die CSU da massiv Widerstand geleistet hat. Und ich kann mir vorstellen, wenn der Bundesarbeitsminister jetzt eine Korrektur notwendigerweise auf den Weg bringt, dass genau an der Stelle auch innerhalb der GroKo schon ein Grundsatzstreit entbrennt, weil die CSU hier und auch Teile der Union Widerstand leisten werden bei einer Verbesserung der Situation auch für die jungen Menschen im Hartz-IV-Bezug. Sie sehen schon: Bei den Reformen im bestehenden System gibt es sehr, sehr starke Widerstände und auch Lähmungskräfte.
Darüber hinaus eine Reform, da würde ich ganz pragmatisch sagen, und das ist ja heute erst mal gar nicht angesprochen worden logischerweise, da würde es vor allem um die Höhe von Hartz IV gehen. Denn dort gibt es tatsächlich von vielen Fachleuten die berechtigte Kritik, dass eine ehrliche, echte Berechnung der Bedarfe zu höheren Hartz-IV-Sätzen führen würde, wenn man das machen würde, und darum müsste es eigentlich bei einer anstehenden Hartz-IV-Reform gehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.