Donnerstag, 25. April 2024

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Bundeswehreinsatz in Afghanistan
"Afghanistan steht an einem schwierigen Scheidepunkt"

Afghanistan brauche wieder militärische Unterstützung der internationalen Gemeinschaft im Kampf gegen die Taliban, sagte Adrienne Woltersdorf, Afghanistan-Expertin der Friedrich-Ebert-Stiftung, im DLF. Genauso wichtig sei aber die politische Unterstützung: Hier könne Deutschland sehr viel mehr tun. Keines der afghanischen Probleme sei nur in Afghanistan zu lösen.

Adrienne Woltersdorf im Gespräch mit Jochen Spengler | 30.09.2015
    Das Bild zeigt viele schwerbewaffnete Soldaten in Tarnuniformen und Helmen auf bzw. vor der Ladefläche eines Militär-Lastwagens.
    Spezialeinheiten der afghanischen Armee bereiten sich auf eine Gegenoffensive gegen die Taliban zur Rückeroberung der Stadt Kundus vor. (AFP / Nasir Waqif)
    Jochen Spengler: Der Fall von Kundus hat hierzulande eine Debatte über den geplanten Abzug der Bundeswehr vom Hindukusch ausgelöst. Der Kampfeinsatz der internationalen Truppen war vor einem Jahr beendet worden, aber derzeit befinden sich noch rund 850 deutsche Soldaten in der Hauptstadt Kabul und in Masar-e Scharif, das nur 150 Kilometer entfernt von Kundus liegt. Ihre Aufgabe: die Ausbildung von afghanischen Soldaten. Soll diese Ausbildungsmission nun verkürzt, verändert oder verlängert werden? Braucht es gar wieder Kampftruppen in Afghanistan?
    Am Telefon ist eine Kennerin Afghanistans: Adrienne Woltersdorf. Sie ist Referentin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung und war von 2011 bis 2015 die Leiterin des Stiftungsbüros in Afghanistan. Guten Tag, Frau Woltersdorf.
    Adrienne Woltersdorf: Guten Tag!
    Spengler: Der Fall von Kundus könnte als Symbol gelten für das Versagen der deutschen und internationalen Afghanistan-Politik. War der Einsatz der Bundeswehr Ihrer Ansicht nach prinzipiell ein Fehler?
    Woltersdorf: Nein, das denke ich auf keinen Fall, und ich glaube, man muss auch davor warnen, nun die Vorkommnisse in Kundus übermäßig zu politisieren, als sei nun sozusagen Kundus der Schlusspunkt einer ganz langen Intervention. Diese Verkürzung, die wird einfach nicht der Komplexität der Lage in Afghanistan gerecht. Die Bundeswehr und die NATO insgesamt haben sicherlich Fehler gemacht während der nunmehr über zehn Jahre währenden Einsätze. Da hat es unterschiedliche Strategien gegeben, Strategiewechsel. Das ist nicht immer mit sehr langer Hand und weit vorausschauend geplant gewesen. Und diese Probleme, die wir nun in Kundus sehen, beziehungsweise diese jetzt in der Tat recht unübersichtliche und auch schreckliche Situation, die hat sich ja schon vor ungefähr ein, zwei Jahren angekündigt, als immer deutlicher wurde, dass Kundus eine sehr, sehr problematische Region ist, …
    Spengler: Frau Woltersdorf, ich dachte, das wäre eine ganz sichere Region da im Norden. So hieß es jedenfalls immer.
    "Kundus ist ein Wahnsinnserfolg für die Taliban"
    Woltersdorf: Das war es lange Zeit, aber vor allen Dingen im letzten Jahr ganz eindeutig kamen immer mehr Berichte zutage für diejenigen, die in Afghanistan waren, dass Kundus ein sehr problematisches Umfeld hat. Nicht nur leben dort verschiedene Ethnien, es gibt wirklich zunehmend ethnische Spannungen, sondern auch mit Anwesenheit von Milizen, bewaffneten Milizen - auch das ist ja ein immer wiederkehrendes Thema in der Interventionsgeschichte -, die von keiner Zentralgewalt mehr kontrolliert werden können.
    Spengler: Und daran konnte die Bundeswehr auch nichts ändern?
    Woltersdorf: Nein. Die Bundeswehr hatte ja in dem Sinne keine polizeilichen Wirkungen. Außerdem hat das mit den noch immer recht schwachen Institutionen Afghanistans zu tun. Das ist eine sehr, sehr komplexe Mischung. Das alleine kann die Anwesenheit der Bundeswehr, hätte sie auch nicht komplett kontrollieren können, und natürlich dient nun die Blaupause des Rückzugs, ist für die Taliban natürlich eine Steilvorlage, um sich jetzt auch zu beweisen. Man muss natürlich zugeben, Kundus ist ein Wahnsinnserfolg für die Taliban. Die haben das sehr geschickt geplant, gut getimt und haben damit natürlich jetzt vor allen Dingen auch einen großen Pluspunkt bei ihren Anhängern und auch weltweit in den Medien erlangen können durch diese sehr geschickte Aktion.
    Spengler: Ehe wir auf die konkrete Situation in Kundus zurückkommen, lassen Sie uns noch mal ganz kurz zurückblicken auf die Geschichte. Sie haben von gravierenden Fehlern gesprochen. Was waren denn die gravierendsten Fehler der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan?
    Woltersdorf: Die gravierendsten Fehler waren sicherlich diese recht deutliche Kurzatmigkeit der USA, eben des wichtigsten und größten und auch machtvollsten NATO-Partners. Nachdem 2003 der Krieg im Irak begann, hat man sich recht drastisch abgewandt von Afghanistan. Man wähnte dort die Mission quasi auch für beendet. Die Taliban waren in der Tat in die Knie gezwungen, sehr geschwächt, und man hat durch die lange Abwesenheit, sozusagen diese Ignoranz, was weiterhin sich in Afghanistan tat, den Taliban drei, vier Jahre Luft verschafft, in denen sie sich neu gruppieren und auch wieder erstarken konnten. Das haben die Taliban sehr intensiv genutzt, sicherlich nicht ganz ohne auch Hilfe von außen, und das ist ein sehr, sehr großer Fehler gewesen. Damals gab es Angebote der Taliban, sich an politischen Kompromissen oder politischen Gesprächen zu beteiligen. Das hat damals auch Präsident Karzai nicht nur abgelehnt, sondern auch die USA hatte wenig Interesse. Das Motto war, wir reden nicht mit Terroristen. Das war ein ganz entscheidender Fehler.
    "Wir haben es mittlerweile auch mit dem Phänomen IS in Afghanistan zu tun"
    Spengler: Wo waren denn die Taliban die ganze Zeit? Sie haben gesagt, sie haben sich zurückgezogen, haben die Zeit genutzt, vier Jahre genutzt. Jetzt sind sie auf einmal stark da. Wo waren sie und wie stark sind sie jetzt?
    Woltersdorf: Nun, genau wie stark die Taliban sind, das ist eine ganz schwierige Angabe, denn die Taliban, das sind mittlerweile auch sich aufsplitternde Fraktion, Gruppen. Wir haben es mittlerweile auch mit dem Phänomen IS in Afghanistan zu tun, außerdem sehr viele islamistische Kämpfer aus den zentralasiatischen Republiken.
    Spengler: Darf ich da noch mal einhaken, Frau Woltersdorf?
    Woltersdorf: Ja, gerne.
    Spengler: Weil es immer geheißen hat, dass die eigentlich spinnefeind seien, Taliban und Islamischer Staat. Stimmt das noch, oder arbeiten die in einer Art friedlicher Koexistenz nun zusammen?
    Woltersdorf: Ich glaube, auch das kann man nicht so einheitlich beantworten. Grundsätzlich sind sie Konkurrenten, auch mit sehr unterschiedlichen Zielsetzungen. Die Taliban wollen wirklich nur die Herrschaft in Afghanistan, IS träumt von einem Kalifat. Aber es ist schon ganz eindeutig, dass Taliban, die vielleicht enttäuscht waren von der eigenen Taliban-Führung, oder die selbst gerne in der Hierarchie mehr aufsteigen wollten, sozusagen die Underdogs der Taliban haben sich zum Teil sehr medienwirksam IS angeschlossen. Und es gibt natürlich auch Unzufriedenheit mit den Taliban selber, sprich von anderen, vielleicht jüngeren Afghanen, die sich radikalisieren wollen, weil sie so enttäuscht sind von dem Zustand ihres Landes, die sich auch lieber mittlerweile dem IS anschließen, der ja doch medial eine sehr starke Wirkung entfaltet auch in Afghanistan.
    Spengler: Gibt es denn überhaupt noch die Chance der afghanischen Regierungstruppen, die Taliban zurückzudrängen, nicht nur aus Kundus, vielleicht aus der ganzen Provinz, oder sehen Sie die Chance gar nicht mehr?
    Woltersdorf: Ich denke, die Chance ist da. Es ist sicherlich, es wird ein sehr schwieriger Weg. Eigentlich hat sich die afghanische Armee in den letzten Monaten recht gut behauptet. Für die afghanische Armee kommt aber erschwerend hinzu: nicht nur, dass ihr tatsächlich das notwendige schwere Gerät fehlt, dass man immer noch nicht selbstständig Luftstreitkräfte kommandieren kann, sondern dazu die USA benötigt. Aber es ist vor allen Dingen auch das politische Vakuum in Kabul, was die ganze Situation sicherlich auch noch mal sehr begünstigt hat, die wir jetzt sehen. Denn durch diese etwas unglückliche Kompromissregierung, die in Kabul seit einem Jahr versucht, die Dinge in den Griff zu bekommen, ist einfach in der Armee auch ein Loyalitätskonflikt entstanden. Man weiß nicht mehr genau, wem man nun genau dient. Das Ganze entwickelt sich ja entlang ethnischer Konfliktlinien und das hat sowohl Polizei als auch andere Sicherheitskräfte und auch die Armee geschwächt und sicherlich auch die Wirkung der Wirkungsmacht, der Zentralregierung noch mal zusätzlich geschwächt. Die war eh schon nicht sehr stark in den vergangenen Jahren. Das alles trägt dazu bei.
    "Afghanistan ist kein hoffnungsloser Fall"
    Spengler: Muss in dieser Situation die internationale Gemeinschaft wieder zum Kampfeinsatz zurückkehren, insbesondere auch die Bundeswehr?
    Woltersdorf: Ich befürchte ja, denn Afghanistan steht an einem schwierigen Scheidepunkt. Ich glaube, wir können uns das gar nicht leisten, dieses Land nun aufgrund, sagen wir mal, sehr langwieriger politischer Debatten hier im Augenblick alleine zu lassen. Die größte Last liegt dabei sicherlich bei den USA, die immer noch mit fast 10.000 Mann vor Ort ist, die auch kämpfen. Die Bundeswehr hat ja nur eine beratende und ausbildende Truppe vor Ort von knapp 850 Mann. Ich denke aber, was genauso wichtig ist wie weiterhin militärische Unterstützung, ist vor allen Dingen die politische Unterstützung, und ich glaube, dass Deutschland hier sehr viel mehr tun kann. Außenpolitisch muss Deutschland, aber auch Europa insgesamt sich viel mehr auch in der Region entscheiden, denn keines der afghanischen Probleme ist nur in Afghanistan zu lösen. Dazu wird die Region gebraucht, für wirtschaftlichen Aufbau, für Frieden, Stabilität. Das geht nicht ohne Einflussnahme, konstruktive Einflussnahme auf Länder wie Pakistan, Zentralasien bis hin zum Iran. Diese Länder sind dringend benötigt, um Frieden in Afghanistan zu schaffen.
    Spengler: Letzte Frage, Frau Woltersdorf. Ist Afghanistan ein hoffnungsloser Fall?
    Woltersdorf: Nein! Afghanistan ist kein hoffnungsloser Fall. Denn wie gesagt, das Land steht an einem Scheidepunkt. Es ist dort viel aufgebaut worden, auch wenn das jetzt gerne vergessen wird in diesen schwierigen Stunden um Kundus. Aber Afghanistan ist nicht mehr das gleiche Land wie das, was ich 2004 persönlich kennengelernt habe, wo wirklich alles zerstört war. Mittlerweile gibt es in Afghanistan wirklich gut funktionierende Städte. Viele Menschen haben jetzt eine Ausbildung. Das ist schon ein ziemlich großes Potenzial, was da entstanden ist. Aber ein solcher Einsatz, eine solche Intervention, wie ihn sich die internationale Gemeinschaft 2002 dann vorgenommen hat, das muss allen klar sein, das ist eine sehr langfristige oder erfordert ein sehr langfristiges Engagement, und zwar auch sehr viel politisches Engagement. Man kann diese Länder, wo 30 Jahre Bürgerkrieg herrschte, nicht innerhalb von zehn Jahren stabilisieren, sondern uns muss klar sein, das ist eine Langzeitaufgabe. Wir stehen jetzt vor dem Dilemma, die westlichen Länder haben sich in Syrien lange nicht engagiert. Also wir sehen deutlich: Ein Ignorieren der Probleme in diesen Ländern ist keine Lösung für uns. Die Probleme kommen dann sehr schnell zu uns.
    Spengler: Das war Adrienne Woltersdorf, Afghanistan-Expertin der Friedrich-Ebert-Stiftung. Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Woltersdorf.
    Woltersdorf: Danke schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.