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Cages "Europeras" in Braunschweig
Wenn der Zufall Regie führt

Keine Aufführung der "Europeras" des amerikanischen Komponisten John Cage gleicht der anderen. Zwar erklingt bei der Opernaufführung Bekanntes von Gluck bis Puccini, doch werden Musik, Bühnenbild und Requisiten jeden Abend per Zufallsgenerator neu zusammengesetzt.

Von Agnieszka Zagozdzon | 27.11.2017
    Der amerikanische Komponist und Schriftsteller John Cage am 29. April 1982 im Frankfurter Theater am Turm. Cage, einer der bedeutensten Avantgardisten des 20. Jahrhunderts, wurde am 5. September 1912 in Los Angeles geboren und ist am 12. August 1992 in New York gestorben.
    Der amerikanische Komponist und Schriftsteller John Cage zählt zu den bedeutensten Avantgardisten des 20. Jahrhunderts (picture alliance / dpa / Jörg Schmitt)
    Musik: Ausschnitt Premiere "Europeras 1"
    Ein infernalisches Durcheinander, das die Sinne zunächst komplett überfordert: Die verschiedensten Requisiten stehen kreuz und quer auf der Bühne - eine Mülltonne, eine lebensgroße Giraffe, ein Münztelefon, ein Fahrrad. Dazu Sängerinnen und Sänger in ganz charakteristischen Kostümen - als Carmen, Rigoletto, Brünnhilde, Papageno, Wotan - die aber alle ganz unterschiedliche Arien zur selben Zeit singen. Und im Graben spielt jeder Musiker verschiedene Stellen aus diversen Opern - mal ein ganzes Motiv, mal nur einen Ton.
    Musik: Ausschnitt Premiere "Europeras 1"
    Streng berechneter Plan
    Doch was so willkürlich chaotisch erscheint, folgt in Wahrheit einem streng berechneten Plan. Denn all die Elemente, aus denen normalerweise eine Opernaufführung besteht - Musik, Bühnenbild, Requisiten, Ton und Licht – wurden von John Cage zunächst auseinandergenommen und werden - in jeder Aufführung aufs Neue - nach einem computergenerierten Zufallsprinzip - basierend auf dem jahrtausendealten chinesischen Orakel I-Ging – wieder zusammengesetzt. Die einzigen Konstanten: Die Bühne ist in 64 durchnummerierte Felder unterteilt - das I-Ging besteht nämlich aus 64 Hexagrammen - und an mehreren Plätzen wird eine digitale Uhr, die "Europeraclock", angezeigt; nach exakt 90 Minuten endet nämlich der erste Teil, nach weiteren 45 Minuten der zweite. Die Braunschweiger Operndirektorin und Regisseurin Isabel Ostermann:
    "Es ist ein Regelsystem. Die Sänger bekommen einen Parcours - und auch alle anderen Mitarbeiter: die Technik, der Ton und die Requisite, auch das Orchester - das ein Zufallsgenerator entwickelt. Und daraufhin starten sie auf bestimmten Schachbrett-artigen Feldern ihre Arien und ihre Aktionen auf eine bestimmte Zeit und für eine bestimmte vorgegebene Dauer. So entsteht durch die Uhr die Partitur für den Abend - das ist jeden Abend anders; es betrifft auch das Orchester, die dann einzelne Stimmen spielen aus den Opern. Das Opernrepertoire ist von Gluck bis Puccini; und innerhalb dieses klassischen bekannten Repertoires wählen die Sänger ihre Arien aus - und niemand weiß, welche Arien sie für den jeweiligen Abend ausgewählt haben. So kann es auch zu schönen Parallelitäten kommen."
    Matheaufgaben für die Regieassistenten
    Vor Beginn bekommen alle Beteiligten einen Zettel, auf dem jeweils nur für diese eine Aufführung per I-Ging-Generator bestimmt wurde, wann welche Aktion oder Arie auf welchem Feld wie lange dauert, so Ostermann:
    "Die Regieassistenten und Dramaturgen, die geben das teilweise ein in einen Zufallsgenerator, den ein Mitarbeiter von Cage noch mit entwickelt hat - Andrew Culver - aber man muss sehr viel per Hand eingeben und dann natürlich auch notieren; es ist irgendwie wie Mathe-Hausaufgaben."
    "Der faszinierendste Moment beim Betrachten und Anhören von 'Europeras' stellt sich dann ein, wenn man in dem Stimmengewirr plötzlich einzelne Melodien heraushört und wiedererkennt: das Frageverbotsmotiv aus 'Lohengrin' von einem der Hörner, Rusalkas 'Lied an den Mond' irgendwo im Hintergrund - und am rechten Bühnenrand singt Wotan die "Register-Arie" aus 'Don Giovanni'. Und plötzlich beginnt man sich zu fragen: Gibt es nicht noch mehr Gemeinsamkeiten zwischen Wotan und Don Giovanni? Beide sind Frauenhelden und notorische Fremdgeher.
    Suche nach Bedeutung in der Zufälligkeit
    "Clustering Illusion" nennt die Wissenschaft die menschliche Angewohnheit, in einer willkürlichen Ansammlung von Eindrücken Regelmäßigkeiten und Muster erkennen zu wollen; das Gehirn mag eben Ordnung. Und in "Europeras" funktioniert das hervorragend: Irgendwann ist man regelrecht darauf fixiert, Opernmelodien wiederzuerkennen und ihnen im Kontext der zufällig generierten Aufführungssituation eine neue Bedeutung zu geben. Don Giovanni singt ein Ständchen für Madame Butterfly - bestimmt hätte er sie damit rumgekriegt. Carmen krabbelt in die Mülltonne - ein starkes gesellschaftspolitisches Statement zur sozialen Ächtung von Minderheiten. Taminos "Bildnisarie" gesungen mit einem aufgesetzten Zebrakopf? Hat bestimmt was mit der Dualität des Lebens zu tun.
    Musik: Ausschnitt Premiere "Europeras 1"
    Othello als Tamino oder Tamino als Othello?
    Der Tenor Matthias Stier ist eines der Braunschweiger Ensemblemitglieder, die bei "Europeras" mitwirkten. Wenn er nicht gerade einen Zebrakopf aufhatte, dann trug er eine Rüstung und war dunkel geschminkt.
    "Die Kostüme sind tatsächlich fest. Also ich werde als 'Othello' auf der Bühne stehen, ein Kollege wird als 'Rigoletto' auf der Bühne stehen, eine Kollegin als 'Melisande'. Das heißt, die Figur - also das Kostüm an sich - wird immer auch diese Rolle bleiben. Das ist dann auch die Herausforderung für den Zuschauer, die Unterscheidung zu finden: Was ist es denn jetzt gerade? Ist es jetzt 'Tamino', der singt oder ist es doch immer noch 'Othello'; oder ist es der 'Othello', der nur bis zum Feld kommt und sobald der Sänger im Feld steht wird er dann zu dem, was er sein soll? Das darf sich auch jeder selber bauen - kann ja auch lustig sein, einen 'Tamino' als 'Othello' singend auf der Bühne zu haben; das wird auch jeden Abend anders sein, natürlich."
    Eine wertvolle Erfahrung - auch für die Sänger
    Aber stört es die Sänger denn nicht, wenn sie ihre schönsten Arien in einem solchen scheinbaren Durcheinander singen - manchmal irgendwo hinten, im Halbdunkel und dann geht auch noch plötzlich der Vorhang mittendrin zu?
    "Ja, könnte man erst einmal denken. Aber eigentlich ist es eine wertvolle Erfahrung, weil man die Chance hat, auf einer großen Bühne zu sein, seine Arien zu singen aber ohne diesen Druck haben zu müssen: Man muss das jetzt in einer musikalischen und gesanglichen Perfektion dem Publikum präsentieren, sondern kann es unter Umständen auch mal nur für sich machen – wenn man eben ein Feld hat, das am anderen Ende der Bühne ist."
    Nicht jedem gefiel so viel Zufälligkeit auf der Bühne - schon während "Europeras 1" verließen einige Zuschauer den Saal; und nach der Pause war es auch merklich leerer im Publikum. Doch wer meint, sich bestens im Opernrepertoire auszukennen, schon alles gesehen hat und Gefallen daran findet, festgefahrene Vorstellungen von Operninszenierungen einmal kräftig durcheinanderwirbeln zu lassen, der sollte sich diese wirklich seltene Gelegenheit nicht entgehen lassen.