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Camargue
Brüllende Stiere und stechende Mücken

Die Region Camargue ist die eigenwillige kleine Schwester der lieblichen Provence: Rau und immer vom Wind zerzaust. Auf sie muss man sich schon wirklich einlassen, um ihr näherzukommen und ihre Faszination zu spüren.

Von Jeannette Cwienk | 17.11.2013
    "Cowboys" treiben in der französischen Region Camargue schwarze Stiere vor sich her
    Die schwarzen Stiere gehören in der Camargue zum Alltag. (Manade Gilbert Arnaud )
    Mücken gehören zur Camargue dazu. Genauso wie die weißen Pferde und die rosa Flamingos. Ich bin schon am ersten Tag völlig zerstochen. Keine Wunder, denn die Camargue ist geprägt von Wasser: der Rôhne, die hier ins Mittelmeer fließt, von großen Seen, an denen Vögel nisten, Kanälen zur Be- und Entwässerung. Sie ist ein weites Land, völlig flach, und eher karg.

    Über ihren Salzwiesen und Schilfwäldern weht immer ein Wind. Für mich aber ist die Camargue seit meiner Reise vor allem das Land der schwarzen Stiere. Dem ersten begegne ich am Ortseingang eines kleinen Städtchens auf einem Verkehrsschild. "Gefahr" steht unter ihm. In vier verschiedenen Sprachen wird vor freilaufenden Tieren gewarnt.

    Hier sehe ich heute keine – dafür aber in der Arena des Städtchens. Die französische Variante des Stierkampfs, die Course Camaguaise, gibt es hier in fast jedem Dorf zu sehen. Auf den Zuschauerrängen aus weißem Stein und Beton komme ich mit Dominique ins Gespräch. Sie ist mittelgroß, mittelblond, und in Rente. Jetzt hat sie endlich genug Zeit, für ihr Hobby.

    "Ich mag die Kämpfe sehr, sehr gerne und ich möchte kein einziges Mal verpassen. Es gibt noch ein paar, bis die Saison zu Ende ist und ich will sie wirklich alle anschauen!"

    Es geht nicht ums Töten
    Acht Männer, ganz in weiß gekleidet, betreten den Sandplatz. Zwei Antreiber und sechs Stierkämpfer, die Raseteurs. Und dann prescht er in die Arena – der schwarze Stier. Auf seiner Stirn baumelt eine kleine rote Stoffschleife – die Cocarde. An jedem der imposanten Hörner hängt eine Kordel aus weißer Wolle – les Glands genannt - und um die Hörner sind Wollfäden gebunden, die Ficelles. Für jede dieser Trophäen bekommen die Raseteurs ein Preisgeld - ums Töten geht es bei der Course Carmarguaise nicht.

    Während die Antreiber den Stier in ihre Richtung locken, rennen die Raseteurs dem Tier entgegen, versuchen, seinen Lauf zu kreuzen und mit dem Crochet, einen kleinen scharfzackigen Stahlkamm, an die Cocarde, die Glands oder die Ficelles heranzukommen.

    Dem Stier gefällt das gar nicht. Die Männer müssen rennen, was das Zeug hält, um nicht auf die Hörner genommen zu werden. Sie retten sich mit einem Sprung auf die Holzabsperrung der Manege. Und von da weiter hinauf auf Metallstangen, die entlang der ganzen Arena in verschiedenen Höhen angebracht sind. Schwerelos scheint ihr Sprung und doch: oft wird es richtig knapp. Zum Glück wird keiner ernsthaft verletzt. Nach zwei Stunden sind die acht Männer in weiß erschöpft, aber zufrieden, die acht schwarzen Stiere genervt, aber am Leben.

    Aber auch den tödlichen Stierkampf, die Corrida, gibt es in der Camargue. Etwa in der alten Römerarena von Arles. Dabei sterben allerdings spanische Stiere, eine andere Rasse, größer und aggressiver, erzählt mir meine Sitznachbarin.

    Tor zur Provence
    Arles ist das Tor zwischen der Provence und der Camargue. Auf dem großen Samstagsmarkt findet man alles, was beide Landstriche zu bieten haben: Oliven, Gebäck, Honig, Wein, Obst und Gemüse und Spezialitäten vom Camargue-Stier.

    Mir hat es die Stier-Salami angetan. Hausgemacht, betont der Verkäufer und zeigt mir, was er sonst noch vom heimischen Stier in der Auslage hat.

    "Hier haben Sie Koteletts. Und da die Stücke fürs Gulasch. Der Geschmack ist vergleichbar mit Rind, es ist die gleiche Art von Fleisch, aber die Stiere leben in Freiheit. Deshalb ist das Fleisch magerer, zarter und hat einen Geschmack von Wild. Es ist stärker. Es gibt viele Kunden, die gerne Stierfleisch kaufen."

    Die Stiersalami schmeckt hervorragend. Große Stücke Fleisch und Fett, sehr deftig, etwas herbe. Nach dem Marktbesuch mache ich mich auf in die hübsche Altstadt von Arles - zur Place du Forum. Der Platz mit den vielen Cafés inspirierte bereits Vincent Van Gogh. Er setzte ihm in seinem Gemälde "Caféterrasse am Abend" ein Denkmal – es ist das mit dem fulminanten Sternenhimmel!

    Hier bestelle ich einen Kaffee und – nicht ganz ernst gemeint - etwas gegen Mücken, denn meine Stiche quälen mich. Der Kellner bringt mir ein Mückenspray. Kostenlos, sagt er lächelnd. Sein Tipp: juckende Stiche mit Essig einreiben. Und es hilft wirklich.

    Tiere weitgehend sich selbst überlassen
    Am nächsten Tag hoffe ich, dass der Wind alle Mücken aus meiner Nähe vertreiben möge. Denn ich begebe mich mitten ins Herz der Camargue, zu Stefanie Arnaud und ihrem Mann Gilbert. Sie betreiben eine Manade, eine Stierzucht. Die Gebäude der Manade sind flach, weiß gekalkt und erinnern mich an Spanien. Die weitläufigen Weiden hinter ihnen gehören den Stieren. Sie bleiben die meiste Zeit sich selbst überlassen. Heute aber ist Besuch da: eine Touristengruppe aus Deutschland.

    Ein großer Leiterwagen hat die Gäste auf eine Weide gefahren. Vor ihnen eine rotblonde, sommersprossige Frau auf einem weißen Pferd. Sie trägt Reiterhosen und Lederstiefel, einen Lederhut und ein Halstuch zum Schutz gegen Sonne und Wind. Stefanie Arnaud begrüßt ihre Gäste auf Deutsch. Sie ist ein kölsches Mädchen, das die Liebe zu ihrem Mann vor 20 Jahren in die Camargue führte. Heute gehört sie zu den wenigen Frauen, die aktiv als Stierzüchterin arbeiten.

    "Erstes und oberstes Ziel einer Camargue-Stierzucht ist, einen oder mehrere gute Stiere in der Arena präsentieren zu können. Tiere, die es zu Ruhm und Ehre gebracht haben, dieser Stier bekommt die Rente gestiftet beim Züchter und der Älteste, den wir kennen, der ist 27 geworden. Die Arena leiht sich die Tiere für einen Tag von uns aus. Und an diesen Tagen machen wir das gleiche, was wir Ihnen heute vorführen."

    Auf ihrem weißen Camargue-Hengst prescht Stefanie auf die Herde los. Ihr Mann Gilbert ist hinzugekommen und tut Selbiges. Geschickt drängen sie einen der Jungbullen von einer Kuh weg. Als der wieder zur Herde rennen will, galoppiert Stefanie direkt auf ihn zu. Widerwillig dreht das Tier ab. Triage heißt dieses Aussondern. Heute aber dürfen die Bullen wieder zurück, die Vorstellung galt allein den Besuchern.

    Erst an Landschaft gewöhnen
    Zurück auf der Manade gibt es für die Gäste ein hausgemachtes boeuf gardian - Gulasch vom Camargue-Stier. Stefanie scherzt hier und da, beantwortet Fragen. Ihr Mann und ein Guardian, ein französischer Cowboy, satteln die Pferde ab. Im Hofalltag gibt es diese Rollenverteilung nicht, sagt Gilbert, seine Frau sei längst sein bester Mann. Gilbert Arnaud ist sonnengebräunt, wie die meisten Bewohner der Camargue. Seine Familie lebt hier seit Generationen. Er weiß: Stefanie hatte es nicht leicht, sich einzuleben. Sie sprach nur wenig Französisch und hatte mit Pferden oder Stieren bis dahin rein gar nichts zu tun.

    "Die Stierzucht gilt immer noch als Männersache. Eine Frau zu Pferd, mitten in den Stieren, das gibt es hier nicht oft zu sehen. Die Camargue ist eben ein Macho-Land. Aber heute genießt Stefanie Respekt bei den anderen Züchtern. Und sie hat Geschmack gefunden an der Natur, den Tieren, der Jagd und alledem. Man gewöhnt sich an dieses wilde, freie Leben hier. Oh ja, sie ist schon eine echte Camarguaise geworden."

    Die Gäste steigen wieder in den Reisebus, die Arnauds winken. Auch Stefanie war als Urlauberin in der Camargue, als sie Gilbert kennenlernte. Aber die Landschaft, gesteht sie mir, habe ihr damals gar nicht gefallen.

    "Als ich dann in die Camargue gekommen bin, hab ich gedacht, das ist aber nicht schön, das ist so karg. Und das Salz steigt überall hoch. Es ist immer ein Wind. Man schaut in die Weite. Und es ist ein raues Land. Ich mag das gerne. Und heute, also ich kann nirgendwo mehr lange wohnen, wo ich nicht weit schauen kann. "

    Auch ich mache mich wieder auf den Rückweg. Während ich durch die Landschaft fahre, denke ich an Stefanies Worte: Die Camargue und die Provence seien wie unterschiedliche Schwestern: die Provence: eine liebliche Blonde, immer hübsch zurecht gemacht. Die Camargue dagegen: eine wilde Brünette, immer vom Wind zerzaust. Und von Mücken zerstochen, ergänze ich gedanklich. Ich öffne das Fenster. Der Wind darf mich ruhig weiter zersausen – auch wenn ich blond bin.