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Carl Schmitt im Nachkriegsdeutschland (2/2)

Der Völkerrechtler Carl Schmitt ist als Erfinder der Freund-Feind-Theorie und Denker des Ausnahmezustands einer der umstrittensten Theoretiker des Politischen im 20. Jahrhundert. Wegen seiner Nähe zum NS-Regime wurde er 1945 in Nürnberg inhaftiert. Doch in den 50er-Jahren zog sich Schmitt als Privatgelehrter ins Sauerland zurück, wo er von vielen stillen Anhängern besucht wurde.

Von Christian Linder | 12.08.2012
    In seinem zweiteiligen Essay zeichnet Christian Linder Carl Schmitts Leben im Nachkriegsdeutschland nach. Unter dem Titel "San Casciano im Sauerland" geht es heute um seine Zeit seit den 50er-Jahren, als er sich als Privatgelehrter ins Sauerland zurückzog und dort von vielen stillen - linken wie rechten - Anhängern besucht wurde.

    Christian Linder ist Schriftsteller und Hörspielautor. Sein jüngstes Buch Sommermusik. Ein Liebestraum Franz Liszts erschien 2011 im Verlag Matthes und Seitz.


    Carl Schmitt im Nachkriegsdeutschland (2/2)
    San Casciano im Sauerland



    Dass Carl Schmitts Lebensreise einmal zum Ausgangspunkt zurückführen würde, hat sich der berühmte Professor des Staats- und Verfassungsrechts und politische Schriftsteller in den vierzig Jahren zwischen seinem Abitur am 2. März 1907 und der Entlassung aus dem Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis am 21. Mai 1947 bestimmt nicht vorstellen wollen und können. Die Unfassbarkeit des Erlebnisses drückte er bei Ankunft im sauerländischen Plettenberg in einem bizarren Stoßgebet aus, in dem er Gott siezte.

    "O Herr, befreien Sie mich, sprengen Sie meine Ketten, führen mich zurück zu meinem Vater, in meine Heimat, in mein Haus, zu meinem Erbe und machen, dass alles, was mir zugehört, mir auch wieder wird zuteil, auf dass Sie verherrlicht werden ob Ihrer Gerechtigkeit."

    Wahrscheinlich, um das Gefühl des Fremdgewordenseins besser ertragen zu können, trug er es auch noch in französischer Sprache vor. Die Isolation vor allem in den ersten Nachkriegsjahren erlebte Schmitt als niederziehend. Die Feindschaft, die er spürte, war enorm, und seine Angst, aus dem deutschen Geistesleben verbannt zu werden, sehr begründet. Deshalb war er froh über jeden Kontakt zur Außenwelt, und dieser lief anfangs nur über die Korrespondenz.

    Der seit den 30er-Jahren mit ihm befreundete Franzose Pierre Linn, Übersetzer der Politischen Romantik, hatte ihm geschrieben und von der allgemeinen "Vagabondage" gesprochen. Diese betreffe auch ihn, schrieb Schmitt zurück, und sie sei in seinem persönlichen Fall ein situationsbedingtes Problem. Er lebe jetzt wieder im Haus seines Vaters, in dem er 1932 der goldenen Hochzeit seiner Eltern beigewohnt habe; er schlafe in dem Zimmer, in dem sein Vater geschlafen habe und in dem er 1945 gestorben sei, im Alter von 92 Jahren; durchs Fenster blicke er auf den katholischen Friedhof, wo seine Eltern ruhten und wo seit zwanzig Jahren eine Grabstätte für seine Frau und ihn reserviert sei; er mache dieselben Spaziergänge wie vor fünfzig Jahren. Allerdings, erfuhr Linn:

    "Unsere wirtschaftliche Lage hat sich verändert, […] wir sind ‚demontiert’, und Madame Schmitt reibt sich auf im Kampf um das tägliche Brot. Trotzdem: Für eine von Krieg und allgegenwärtigem Nihilismus geprägte Zeit ist dies eine gewisse räumliche Kontinuität, ja sogar ‚stabilitas loci’."

    Um gegen die äußere Stille anzuschreiben, seine Gedanken zu klären und sie auch gegen die Wirklichkeit zu verteidigen, begann Schmitt kurz nach seiner Rückkehr aus Nürnberg wieder - wie seit frühester Jugend - Tagebuch zu führen. Dabei dachte er nicht an eine Veröffentlichung – die gab es erst 1991, sechs Jahre nach seinem Tod. Immer wieder stellte er sich die Frage: Woher rührte diese für ihn unerklärliche Feindschaft, die alles, was er gesagt und geschrieben hatte, stets hervorgerufen hatte? Da begegnete er Martin Heideggers Hinweis auf die "Ortschaft des Wesens" und kommentierte:

    "Die Ortschaft. Er hütet sich, einen Namen zu nennen. Er sagt nicht Rom und sagt nicht Moskau, er sagt nicht Genf und sagt nicht Prag, sagt auch nicht Lake Success. Ich aber spreche wie ein Kind die Namen aus und werde dadurch zum prädestinierten Schlachtopfer des Ritualmordes, wie Kafkas Angeklagter im Prozess. Ich lebe nur noch davon, dass die Lemuren, die mich verfolgen, keiner Riten und deshalb auch keines Ritualmordes mehr fähig sind. Das ist meine Rettung."

    Völlig abgeschnitten von jedem öffentlichen Diskurs, ließ er seinen Assoziationen freien Lauf und überblendete ferne Vergangenheit mit aktuellster Gegenwart. 10. April 1948:

    "Die aktuellste Lektüre ist die einer Geschichte der Diadochenzeit, des beginnenden Hellenismus, zum Beispiel die Biografie Demetrios Poliorketes bei Plutarch: wüste Immoralitäten und wilde Peripetien; wie das Leben Adolfs (‚mein Leben ist ein Roman’); interessanter als die Geschichte der Cäsaren, die auf einem bereits durchorganisierten Machtapparat sitzen; der phantastische Histrionismus, der Pluralismus solcher diadochischen Gebilde, die einer Einheit nicht mehr fähig sind, denn Einheit der Einheit wegen, das ist etwas für diejenigen, von denen Hegel sagt: der ungebildete Mensch denkt abstrakt, das heißt heute, global."

    Nach solchen höchst privaten Ausflügen in die Weltpolitik und Weltphilosophie war Schmitt aber schnell wieder bei seiner eigenen Realität angekommen und notierte in einer Stimmung zwischen Depression und Hochmut:

    "Ich, in meiner Einsamkeit des Vorauseilenden, mache solche lebensgefährlichen Entdeckungen. Ich finde die Polarität von Übermensch und Unmensch und den modernen exterminierenden Feindbegriff bei Karl Marx 1844 in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie - die Kritik ist gegenüber Deutschland ‚kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist der Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will’; sic, wörtlich, der 26jährige Karl Marx."

    Die Wirkung solcher Selbstbeschwörungen hielt aber nicht lange an. "Wenn der Abend kommt," tröstete Schmitt sich über seine Situation mit den Zeilen Niccolò Machiavellis an den Freund Francesco Vettori …

    " … kehre ich nach Hause zurück und gehe in meine Schreibstube. Bevor ich hineingehe, ziehe ich mein Tageskleid aus, das voll Schmutz und Staub ist, und hülle mich in königliche und höfische Gewänder. Angemessen gekleidet, besuche ich die antiken Höfe der Alten, wo ich liebevoll aufgenommen werde und weide mich an der Nahrung, die einzig mein ist und für die ich lebe. Dort schäme ich mich nicht, mit ihnen zu reden und sie nach dem Grunde ihrer Handlungen zu fragen, und herablassend stehen sie mir Rede und Antwort. […] Wer 43 Jahre lang, so alt bin ich, treu und redlich gewesen ist, dürfte wohl seinen Charakter nicht mehr ändern können. San Casciano, 10. Dezember 1513, Niccolò Machiavelli."

    Schmitt war 59, als er nach Plettenberg zurückkehrte, und wie Machiavelli betonte er nun die Unveränderlichkeit des Schicksals und des Charakters. "Ihr alter unveränderbarer, identischer Carl Schmitt" unterzeichnete er manchen Brief. Gleichwohl musste er sich im Tagebuch immer wieder bestätigen, dass seine Identität, der innerste Kern seiner Weltanschauung und seiner Lebensinterpretation die Nazi-Zeit und seine Verstrickung in sie unversehrt überstanden hatte und die alten Feindbilder intakt geblieben waren.

    "Ich habe damals in den Jahren 1933-36 mir und der Würde meiner Gedanken weniger vergeben als Plato sich und seinen Gedanken durch seine sizilianische Reise vergeben hat. "

    So notierte er im September 1947. Schmitt versuchte seine Rolle im Nationalsozialismus vor sich selbst damit zu entschuldigen, dass ein Forscher und Gelehrter sich die politischen Regime nicht nach seinem Belieben aussuchen könne. Aber hatte Schmitt wie Plato, der als Mitarbeiter der Syrakuser Tyrannen gelehrt habe, dem Feind einen guten Rat nicht zu verweigern, Hitler und den Nationalsozialisten als seinen "Feinden" Ratschläge gegeben? Darauf sind damals wegen Schmitts eindeutiger Haltung die wenigsten (ausgenommen die SS) gekommen und nach 1945 niemand mehr. Schmitt beharrte jedoch darauf - zum Beispiel 1951 in Frankfurt in einem Gespräch mit Alfred Andersch, der anlässlich einer 300-Jahr-Feier des Leviathans die Willensfreiheit des Menschen hoch gehalten hatte -, es gehe nicht um die Willensfreiheit, denn die führe in die Schablonen und Sackgassen der Schulphilosophie.

    "Sie meinen etwas ganz anderes als den Determinismus oder Indeterminismus. Sie meinen etwas, was jeder anständige Mensch tut, was Sie und ich immer getan haben, als wir uns verliebten, als wir uns politisch begeisterten, als wir uns ins Zeug warfen. Das war in Wahrheit nicht Willensfreiheit; es war blindes Vorgebot. Das ist das Wort und damit auch die Sache und Situation: das blinde Vorgebot."

    Als Schmitt mit diesem "blinden Vorgebot" auch sein Engagement für die Nationalsozialisten zu erklären versuchte und behauptete, er sei von ihnen "betrogen" worden, wurde dies als ungeheuerlich zurückgewiesen. Schmitt war und blieb "das Ungeheuer", und zu der Vermutung, man wolle ihn aus dem deutschen Geistesleben verbannen, hatte er manchen Anlass: 1951 griff sogar der erste Bundespräsident Theodor Heuss in die Debatte ein und verlangte, ein Mann wie Schmitt dürfe nie wieder ein Katheder betreten. Da nützte es Schmitt nichts, darauf hinzuweisen, er habe Hitler nicht ermächtigt, während Theodor Heuss 1933 als Abgeordneter im Reichstag dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt habe. "Vor einigen Jahrzehnten," erklärte Heuss …

    " … ist das Wesen des Politischen von Carl Schmitt in den dürftigen Formalismus des Freund-Feind-Verhältnisses gepresst worden. Die unendliche Vielfalt der Wechselbeziehungen und Wechselwirkung des politischen Lebens war damit abgedrosselt, indem die dynamische Spannung, die auch dazu gehören kann, isoliert und im Akzent überhöht wurde, jene unendliche Vielfalt, die nicht bloß auf das Freund-Feind-Verhältnis blickt, sondern dorthin schaut, wo über das Formal Logische hinaus inhaltliche Substanz des öffentlichen Lebens gesehen wird, die Werte trägt und von Werten getragen wird, die ihrem Wesen nach transzendent sind."

    Nach Heuss’ Verdikt, von höchster politischer Nachkriegsposition aus gesprochen, war klar, dass Schmitt geschnitten werden musste, wollte man nicht selber unter Verdacht geraten. Provokativ für das Selbstverständnis des bundesrepublikanischen Verfassungsstaates, fasste Jürgen Habermas viele Jahre später, 1995, die Vorwürfe zusammen, es sei nicht der vordergründige Streit über den auf Freund Feind Verhältnisse reduzierten Begriff des Politischen gewesen, sondern jene politische Theologie, …

    " … die einen säkularisierten Begriff von Politik und damit das demokratische Verfahren als Legitimationsgrundlage des Rechts ablehnt, die eine ihres deliberativen Kerns beraubte Demokratie zur bloßen Akklamation formierter Massen entstellt, den Mythos der geborenen nationalen Einheit dem gesellschaftlichen Pluralismus entgegensetzt und den Universalismus der Menschenrechte und der Menschheitsmoral als verbrecherische Heuchelei denunziert."

    Entgegen seiner Ankündigung in Nürnberg, er werde in die Sicherheit des Schweigens gehen, hat Carl Schmitt nach Ende des Zweiten Weltkriegs nur geschwiegen, wenn es um seine Verstrickungen mit den nationalsozialistischen Machthabern ging. Ansonsten verstand er sich nun als Privatgelehrter und vervollständigte seine politische Theorie mit Büchern wie Der Nomos der Erde, 1950 erschienen, aber schon 1945 weitgehend fertiggestellt, der 1963 erschienenen Theorie des Partisanen. Eine Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen sowie der 1970 veröffentlichten Politischen Theologie, Teil II.

    Mitte der 50er-Jahre waren zwei Marburger Mitarbeiter von Civis, einer Zeitschrift des RCDS, häufige Gäste und Gesprächspartner: Rüdiger Altmann, Jahrgang 1922, der 1944 als schwer verwundeter Soldat bei Carl Schmitt Vorlesungen gehört hatte, jetzt Assistent und Doktorand beim marxistischen Politologen Wolfgang Abendroth, und Johannes Gross, Jahrgang 1932, der gerade sein Jurastudium mit dem ersten Staatsexamen absolvierte. Aus dem Gespräch mit den jungen Marburger Juristen und später in Deutschland bekannten Publizisten entstand eine lange Freundschaft. Die wenigen öffentlichen Auftritte Schmitts inszenierte die "Academia moralis", ein 1947 gegründeter eingetragener Verein mit der einzigen Aufgabe, Carl Schmitt nach seiner Rückkehr aus Nürnberg materiell beizustehen.

    Schmitts ehemaliger Schüler Ernst Forsthoff, Staats- und Verwaltungsrechtler an der Universität Tübingen, richtete 1957 Ferienkurse in Ebrach ein, um Schmitt, dem eine Universitätslehre nach 1945 - im Gegensatz zu Heidegger - nicht mehr möglich war, wenigstens mit Kollegen wie Arnold Gehlen, Pascual Jordan oder Werner Conze sowie mit interessierten Studenten in Kontakt zu bringen; auch der Münsteraner Philosoph Joachim Ritter lud Schmitt in die Seminare des von ihm gegründeten "Collegium Philosophicum" ein, in dem Schmitt Hermann Lübbe, Robert Spaemann oder Odo Marquard begegnete. Der damals junge Philosoph Günter Rohrmoser hat Schmitt in Ebrach wie in Münster erlebt. In Ebrach sollte Rohrmoser – 1955 mit einer Arbeit über Shakespeare promoviert – Shakespeares Werk auf den Zusammenhang von Tragödie und Utopie untersuchen. Schmitt saß während des Vortrags neben ihm, hat sich Rohrmoser später erinnert, …

    " … und seine Unruhe wurde während des Referats immer größer und zu seinem Ende verließ er eilig und hochroten Kopfes den Raum und stürzte ins Freie. Ich war tief erschrocken, denn ich war mir keines Vergehens bewusst."

    Rohrmoser eilte ihm nach und fand Schmitt draußen "schwer atmend" vor.

    "Es kam zu einem längeren Gespräch über Shakespeare. Damals wusste ich noch nicht, dass Carl Schmitt sich wiederholt mit Shakespeare, vor allen Dingen in der Schrift Hamlet oder Hekuba beschäftigt hatte. Er malte auf einem größeren Blatt eine Zuordnung von Zeichen und Strichen, von denen ich mich nur erinnere, dass am Ende stand: Papst Paul V. = Hamlet, und die letzte Zeile: Europa = Hamlet? Hier wurde eine der faszinierenden Fähigkeiten Carl Schmitts sichtbar, nämlich der, in größeren Zusammenhängen nicht nur denken zu können, sondern Verbindungen herzustellen, an die ein normalbegabter Geist weder denken kann, noch zu denken wagt."

    Die maßgeblichen Gespräche fanden aber nicht in Münster oder Ebrach statt, sondern in Schmitts Plettenberger Umgebung, wohin sich ab Mitte der 50er Jahre immer mehr Leute auf den Weg machten, um das "Ungeheuer" leibhaftig zu sehen, sozusagen in verschwörerischer Gemeinschaft - als habe sich hier eine subversive Unterströmung der politischen Geistesgeschichte der Bundesrepublik ausgebildet, so 1995 Jürgen Habermas, der Schmitts Wirkung als "brillanter Geist in der selbststilisierten Rolle des Verfemten" darauf zurückführte, dass Schmitt (wie Heidegger) in seinem "Trotz des selbstbewussten Besiegten" die Ursachen der Niederlage begreiflich zu machen und die Kontinuität einer in Frage gestellten deutschen Überlieferung überzeugend zu repräsentieren wusste. Habermas meinte 1995:

    "Dass im sozialpsychologischem Haushalt der frühen Bundesrepublik Carl Schmitt den Gegentypus gebildet habe, […] auf den die Rehabilitierten und die Mitläufer produktiv ihre eigene Biografie abladen konnten - eine funktional notwendige Ergänzung zur stillschweigenden Integration der alten Trägerschichten. Auf der anderen Seite war Carl Schmitt dadurch den bevorzugten Kollegen in einer weniger beachteten Hinsicht auch überlegen - und unter diesem Aspekt kann seine enorme Wirkungsgeschichte und seine erneute Aktualität seit 1989 verständlich werden: Carl Schmitt, der sich nicht hatte entnazifizieren lassen, brauchte auch nicht wie die anderen zu schweigen; er durfte die deutschen Kontinuitäten zur Sprache bringen, mit denen die anderen wortlos weiterlebten."

    Bis 1970 blieb Carl Schmitt in der Dachgeschosswohnung im Brockhauser Weg in Plettenberg und verkehrte, wenn sich keine Besucher angesagt hatten, mit der Welt vorwiegend schriftlich, denn Telefon, Radio und Fernsehen ließ er in der Wohnung nicht zu - "nichts Ungebetenes wie Wellen oder Strahlungen" durfte in seinen Raum eindringen. 1970 der letzte Umzug, in das am Rand von Plettenberg gelegene Dorf Pasel. Der Briefträger, jeden Morgen sehnsüchtig erwartet, wunderte sich bald nicht mehr, welche Berge an Post er im Haus Nr. 11 c abliefern musste. War bis 1970 ganz Plettenberg Schmitts Asylort, den er nach dem Ort nannte, wohin sich Machiavelli zurückgezogen hatte, als die Republik Florenz für ihn keine Verwendung mehr hatte, so nannte er nun nur noch dieses Haus nach Machiavellis Zufluchtsort - auf einer Holztafel an der Rückseite des Hauses zum Garten hin war der berühmte Name zu lesen: San Casciano. Die letzten fünfzehn Lebensjahre in Pasel waren nicht nur eine äußerlich ruhige Zeit, Schmitt war aufgrund einer wachsenden internationalen Resonanz auch innerlich beruhigt, so dass die Angst, aus dem Geistesleben verbannt zu werden, verflogen war.

    Auch hatte er, der das Geheimnis seiner Person und den persönlichen Hintergrund seines Blicks auf die Welt immer verschwiegen hatte, Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre in sein Arcanum, in das Innerste seines privaten Glaubens hineinblicken lassen und ein Geheimnis seines Blicks auf die Welt verraten. Da war er in dem Buch Politische Theologie, Teil II, aus der Deckung gekommen, weil Hans Blumenberg ihn in seinem Buch Die Legitimität der Neuzeit herausgefordert hatte, indem er Schmitts Politische Theologie angriff und ihr einen Platz jenseits der Moderne zuwies. In der Auseinandersetzung mit Blumenberg ließ Schmitt dann die Katze aus dem Sack und lancierte im Nachwort der Politischen Theologie, Teil II seinen letzten Mythos, indem er die Thesen Marcions, eines der führenden Gnostiker aus der Zeit um 85 - 160 nach Christus, der die Existenz von zwei Göttern postulierte, einen Gott des Alten und einen des Neuen Testaments, und beide könnten nichts gemeinsam haben, aufgriff und weiterführte. Er verriet mit Marcion seinen Glauben an einen Gott, der keine "Einheit", sondern "Zweiheit" darstelle.
    "Der gnostische Dualismus setzt einen Gott der Liebe, einen welt-fremden Gott, als den Erlöser-Gott gegen den gerechten Gott, den Herrn und Schöpfer dieser bösen Welt. Beide verhalten sich, wenn nicht in beiderseitig aktiv kämpfender Feindschaft, so doch in unüberbrückbarer Fremdheit, einer Art gefährlichen Kalten Krieges, dessen Feindschaft intensiver sein kann als eine Feindschaft, die sich in der Naivität einer offenen Feldschlacht bekundet und bestätigt."

    Dieses "strukturelle Kernproblem" des gnostischen Dualismus von Schöpfergott und Erlösergott sei in jeder änderungs- und erneuerungsbedürftigen Welt "unentrinnbar und unausrottbar immanent gegeben", fasste Schmitt zusammen und zog den Schluss:

    "Man kann die Feindschaft zwischen Menschen nicht dadurch aus der Welt schaffen, dass man die Staatenkriege alten Stils verbietet, eine Weltrevolution propagiert und die Welt–Politik in Welt–Polizei zu verwandeln sucht. Revolution, im Unterschied zu Reformation, Reform, Revision und Evolution, ist eine feindliche Auseinandersetzung. Der Herr einer zu ändernden, d. h. verfehlten Welt (dem die Änderungsbedürftigkeit zugerechnet wird, weil er sich der Änderung nicht fügen will, sondern sich ihr widersetzt) und der Befreier, der Bewirker einer veränderten, neuen Welt können nicht gut Freunde sein. Sie sind sozusagen von selbst Feinde."

    Damit hatte Schmitt seine Freund-Feind-Theorie in seinem Gottesbegriff festgemacht und zugleich klar gestellt, dass er nicht auf Seiten des "welt-fremden" Gottes der Liebe stand. Er setzte auf den Schöpfergott der "bösen" Welt, in der Freund und Feind erkannt werden müssten.

    "Bis Christus wieder erscheint, wird die Welt nicht in Ordnung sein."

    Der kleine Kommentar Schmitts im Nachwort der Politischen Theologie, Teil II zu Hans Blumenbergs Buch Die Legitimität der Neuzeit hatte Blumenberg derart empört, dass er Schmitt einen ersten Brief schrieb. Schmitt hatte ihm daraufhin seine kleine Studie Drei Stufen historischer Sinngebung geschickt mit der darin entwickelten Frage, "ob eschatologischer Glaube und Geschichtsbewusstsein miteinander möglich sind".

    Während die meisten diese Frage verneinten, sah Schmitt die "Möglichkeit einer Brücke", die in der Vorstellung einer Kraft liege, die das Ende und die ihm vorgelagerte böse Macht niederhalte - Schmitts alte Vorstellung vom Katechon. Aufmerksam hatte Blumenberg Schmitts Hinweis auf den zweiten Thessaloniker Brief gelesen, in dem der Katechon, was Blumenberg wichtig erschien, sowohl personal als auch neutral vorkomme.

    "Ist nun diese mysteriöse Vorstellung vom Aufhalter der Endereignisse und Niederhalten ihrer Mächte selbst eine eschatologische Vorstellung? Oder ist sie schon eine Deutung und Rechtfertigung für das Ausbleiben des Endes und seiner Verheißungen?"

    So war Blumenberg zwar darauf aus, im Briefwechsel mit Schmitt ihre Differenzen auszuloten, indem er für ausgeschlossen hielt, "dass eine Gleichzeitigkeit von Geschichtsbewusstsein und genuiner Eschatologie möglich wäre". Aber der alte Herr in Pasel wird tief zufrieden gewesen sein - und seine Markierungen im Blumenberg Brief sprechen für diese Annahme -, als er las: Einer der Gründe für diese Auffassung Blumenbergs sei darin zu sehen, …

    " … dass jede Eschatologie ihrem Wesen nach gnostisch ist, denn sie setzt einen Dualismus zwischen dem Schöpfer und dem Richter voraus – es kann, wie Marcion gesehen hat, keine Identität zwischen dem Gott des Alten Testaments und dem des Neuen Testaments geben, weil die Schrecken des Endes die Diskriminierungen des Anfangs implizieren."

    Ein weiterer wichtiger Korrespondenzpartner und Freund war der russisch französische Hegel Forscher Alexandre Kojève. Kojève besuchte 1967 eine Tagung in Berlin. Der (jüdische) Philosoph Jacob Taubes hatte sich um Kojève zu kümmern. Er fragte Kojève, der aus Peking angereist war, wohin von Berlin aus die Reise weiter gehe. Seine Antwort:

    "Nach Plettenberg. Wohin denn soll man in Deutschland fahren? Carl Schmitt ist doch der einzige, mit dem zu reden sich lohnt."

    Das habe ihm einen Stich versetzt, bekannte Taubes später, …

    " … denn ich hatte es mir versagt, Carl Schmitt zu besuchen und neidete [...] Alexandre Kojève seine Unbefangenheit, mit Carl Schmitt zu verkehren."

    Erst spät, nach seinen eigenen Worten "sehr spät, viel zu spät" entschloss sich Taubes, Kojèves Erfahrung nachzuholen und nach Plettenberg zu fahren: Dort habe er in Schmitts Haus die stürmischsten Gespräche in deutscher Sprache geführt, berichtete er, Historiografie in nuce, gedrängt ins mythische Bild. Schmitt war für Taubes sowohl "legitimer katholischer Antisemit" als auch Anti Bolschewist. Ein anderer Besucher, der französische Schriftsteller Jean-Pierre Faye, der seine Theorie der Erzählung, eine Einführung in die totalitären Sprachen, wesentlich auf der - sehr kritischen - Lektüre der Bücher Carl Schmitts aufgebaut hat, erlebte ihn als einen Mann mit leutseligem Gesicht, das gern ein Lachen aufsetzte. Für den Begriff "konservative Revolution" habe Schmitt wirklich nur ein Lachen übrig gehabt, erzählte Faye, ebenso für die Vorstellung, es könnte zwischen Ernst Jünger und Martin Heidegger einen Dialog geben - Heidegger sei der "Melker der Sprache", "Milcher des Sinns", und zwischen den beiden könnten nur einige Tropfen von dieser Milch abfallen. In dieser vergnügten Stimmung zeigte sich Schmitt auch am 11. Juli 1978 bei einem großen Empfang anlässlich seines 90. Geburtstages im Plettenberger Berghotel Tanneneck. Alle Freunde waren gekommen, und einige sprachen ihn mit "Herr Staatsrat" an, das freute ihn auch, denn auf den Titel war er stolz und sagte jedem, der es hören wollte, er sei dankbar, Preußischer Staatsrat und nicht Nobelpreisträger geworden zu sein. Die Laudatio hielt Ernst Jünger:

    "Lieber Carl Schmitt […] Dass Sie nicht nur in Ihrem Fach hervorragen, sondern auch privatim höchst anregend wirken, ist Ihren Freunden bekannt. Sie besitzen einen großen Überblick, auch hinsichtlich der Schönen Künste und der Randgebiete des Wissens wie der Graphologie und der Astrologie. […] Es liegt mir […] daran, Ihnen für die Stunden zu danken, die wir in Berlin und Paris, in Plettenberg, Kirchhorst und Wilfingen miteinander verbracht haben […] In unseren Tagen sind gute Partner selten."

    Zwei Jahre vor Carl Schmitt starb seine Tochter Anima nach langer Krebskrankheit. Dieser Tod habe den alten Mann endgültig gebrochen. Im Sommer 1984 brach seine Krankheit vollends aus. Zerebralsklerose, verbunden mit Wahnvorstellungen. "Es waren aber niemals Personen und Ereignisse der Vergangenheit," erzählt Ernst Hüsmert, "die dem Kranken Tage und Nächte zur Hölle machten."

    "Der Feind, der ihn quälte, blieb dunklen Ursprungs, wie real er ihm auch immer erscheinen mochte und wie konkret auch immer das Leid war, das er ihm zufügte [...] Schallwellen drangen von allen Seiten ins Haus. Strahlen aus allen möglichen elektrischen Geräten vermittelten Stimmen von größter Klarheit über hunderte Kilometer Entfernung. Überall im Haus waren elektronische Wanzen versteckt. Seine Feinde holten zum letzten entscheidenden Schlag gegen ihn aus. Nichts blieb ihnen verborgen, sie mischten sich in die intimsten Angelegenheiten. Sie waren primitiv aber technisch versiert und unerhört gefährlich. Es waren weder Nazis noch Emigranten noch Angehörige einer etablierten Partei […] Schmitt erlebte 1984 sein Orwellsches 1984 [...] "

    Mitunter verfiel er aber noch in Monologe, so am Heiligen Abend 1984. Hüsmert war während seines Besuches verblüfft, als Schmitt plötzlich mit großer Bewusstheit laut und deutlich erklärte:

    "Nach dem ersten Weltkrieg habe ich gesagt: ‚Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.’ Nach dem zweiten Weltkrieg, angesichts meines Todes, sage ich jetzt: ‚Souverän ist, wer über die Wellen des Raumes verfügt’.”

    Ein paar Tage später, am frühen Silvesterabend, stürzte Schmitt in seinem Zimmer und brach sich Oberschenkel und Becken. Außer Hüsmert war an diesem Silvester tag Werner Böckenförde, Limburger Domkapitular und Bruder des Verfassungsrichters Ernst-Wilhelm Böckenförde anwesend. Der Geistliche hat Schmitt im April 1985 katholisch beerdigt. Seit dem Silvestersturz ans Bett gefesselt, ohne seinen Zustand begreifen zu können, entschloss sich Carl Schmitt zu sterben.

    Einen Tag vor seinem Tod am Ostersonntag 1985 hat Hüsmert Schmitt das letzte Mal im Evangelischen Krankenhaus in Plettenberg besucht. Als er die Station betrat, auf der Schmitts Krankenzimmer lag, hörte er ihn schon von weitem laut stöhnen und schreien. Ein fast 97 Jahre alter Mann schreit das halbe Krankenhaus zusammen. Unglaublich. Eine schlimme Erinnerung, sagt Ernst Hüsmert. Die Todesschreie des 96jährigen habe er noch lange gehört. Er habe den Eindruck gehabt, …

    " … dass der dialektische Gegensatz, der sein ganzes Denken beherrschte, auch in seinem Körper steckte und bis zum Schluss in ihm wirkte."


    Den ersten Teil des Essays finden Sie hier:

    Carl Schmitt im Nachkriegsdeutschland (1/2)
    "Ich werde in die Sicherheit des Schweigens gehen"