Donnerstag, 28. März 2024

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CD "Crazy Girl Crazy"
Lulu überall

Barbara Hannigan hat eine Vorliebe für sperrige Charaktere. Eine ihrer Paraderollen: die Titelpartie von Alban Bergs Oper "Lulu". Auf ihrem neuen Album denkt und spinnt Hannigan das Prinzip Lulu weiter. Sowohl als Sängerin als auch als Dirigentin.

Von Dagmar Penzlin | 04.10.2017
    Portrait
    Die Sopranistin Barbara Hannigan (Elmer de Haas)
    Eine Frau tanzt selbstvergessen auf dem Tisch, zwischen leer gegessenen Tellern und halbvollen Weingläsern. Die blonden Haare wirbeln ihr um den Kopf, der Fransenrock ihres schwarzen Kleides schwingt. Um sie herum sitzt eine Handvoll Männer. Sie schauen zu ihr auf: staunend, ungläubig, verliebt.
    Das Titelbild auf Barbara Hannigans neuer CD "Crazy Girl Crazy" zeigt die Musikerin selbst als verrücktes Mädchen, und damit kann hier nur Lulu gemeint sein. Denn dieses Album zeugt von Hannigans tiefem Verständnis für Alban Bergs Titelheldin aus der gleichnamigen Oper. Auch von Hannigans Identifikation mit Lulu, einer ihrer Paraderollen. Überall entdeckt sie Lulu – auch in George Gershwins "Girl Crazy Suite". Wobei die Sängerin und Dirigentin im Beiheft mit Blick auf alle drei aufgenommenen Werke betont, dass sie "crazy" nicht im Sinne von "Irrsinn" versteht, sondern es meine vielmehr das Getrieben-Sein von Verliebtheit oder von einem inneren Rhythmus.
    Getrieben von Verliebtheit
    George Gershwin arbeitete zur gleichen Zeit an dieser Suite wie Alban Berg an der Oper "Lulu". Barbara Hannigan hat gemeinsam mit dem Broadway-erfahrenen Komponisten Bill Elliott Gershwins "Girl Crazy"-Suite arrangiert. Dabei flossen auch Tonmaterial aus Bergs "Lulu"-Suite und Reminiszenzen an andere innovative Komponisten wie Claude Vivier und Kurt Weill ein.
    Ein kühner Wurf, glitzernd mit all seinen nostalgischen Avantgarde-Splittern. Das Arrangement ist konzipiert als Spiegel für Bergs "Lulu"-Stoff und wirft zugleich ein neues, ungewohntes Licht auf George Gershwin.
    Klar im Zentrum des Albums steht Bergs "Lulu"-Suite. Barbara Hannigan dirigiert die fünf Sätze aus dem Geist des Gesamtwerks heraus und der genauen Kenntnis der Partitur. Sie weiß, wofür und für wen bestimmte Tonfolgen, Klänge und Instrumente stehen. Entsprechend arbeitet sie gemeinsam mit dem Ludwig Orchestra, einem freien Ensemble, den Charakter und die Vielschichtigkeit im Grunde jedes einzelnen Taktes prägnant heraus. Die geheimnisvolle Eleganz von Bergs Musik entfaltet ihre volle Kraft.
    Aus dem Geist des Gesamtwerks interpretiert
    Während Barbara Hannigan dirigiert, singt sie ganz organisch den Sopran-Part der "Lulu"-Suite. Etwas monochrom, doch ausdrucksstark. Im Lied der Lulu macht die Nicht-Fassbare klar, dass sie eben ist, wie sie ist. Expressionistischer Belcanto mit Aufschwung bis zum hohen C, von Hannigan leicht genommen fast wie ein Kinderlied.
    Einblick in Barbara Hannigans künstlerisches Selbstverständnis und ihre Sicht speziell auf Lulu erlaubt der Kurzfilm von Mathieu Amalric. Der französische Filmemacher spricht Texte Hannigans (was nur im ersten Moment irritiert). So erfährt man etwas über die innovative Musiklehrerin an ihrer Schule, über den Wert, etwas zu riskieren beim Singen, und über Lulu, während die Kamera die Musikerin einfängt, ihr nacheilt, sie umkreist: im Zug oder im Flugzeug beim Studieren der Partitur, auf dem Weg zur Arbeit, beim Singen allein auf einer Parkbank und immer wieder beim Proben mit dem Ludwig Orchestra.
    Kurzfilm über die Lulu-Versteherin
    In einer Szene tüftelt Barbara Hannigan mit dem Tontechniker an der vorliegenden Aufnahme. Im dämmrigen Tonstudio hockt sie ungeschminkt und mit viel zu groß scheinenden Kopfhörern da, das Gesicht wirkt eingefallen, mit Schatten um die Augen; sie ist angespannt, um die beste Fassung zu kreieren. Die Botschaft ist klar: Diese Musikerin lebt keine Hochglanz-Existenz, sondern arbeitet mit an allen Details. In diesem Fall eben heißt die Mission Lulu-Versteherin. Wozu auch das erste Stück auf der CD passt: "Sequenza III" von Luciano Berio. Nach Hannigans Empfinden singt hier die 15-jährige Lulu, die laut Libretto von Bergs Oper drei Monate in einem Krankenhaus verbringt und hier - fern von allen Männern - sich selbst erkennt. Lachend, winselnd, summend, kichernd, rufend, stöhnend, singend, psalmodierend: Die kanadische Sopranistin macht aus Berios Musik einen Monolog, der Lulu als rätselhafte Kindfrau noch rätselhafter, noch irrlichternder macht.
    "Lulu Barbara Lulu"
    "Crazy Girl Crazy" - der Titel des Albums spielt mit dem Titel von Gershwins Suite in Gedanken an Lulu. Der Titel könnte auch gleich lauten "Lulu Barbara Lulu", weil wenn Hannigan über Lulu nachdenkt, denkt sie auch über sich selbst nach. Die Spiegel-Idee erweitert sich zum Spiegelkabinett. Das fasziniert, birgt aber auch die Gefahr, sich zu verlieren im Vielerlei der Deutungen und durch persönliche Geschichten das latent Anarchische der Lulu-Figur zu verharmlosen.
    Über diese Gefahr erhaben zeigt sich die hohe Qualität der Interpretation. Barbara Hannigan als Dirigentin und Sängerin formt gemeinsam mit dem Ludwig Orchestra souverän die Musiken Bergs, Berios und Gershwins zu einem reizvollen Stationendrama. Aus den Klängen heraus, kraftvoll, intensiv. Das Konzept bleibt Angebot. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.