Freitag, 29. März 2024

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CDU-Außenpolitiker Polenz zum Brexit
Keine Rosinenpickerei für Großbritannien

Für die Europäische Union gehe es jetzt erst einmal darum, den Schaden zu begrenzen, der durch den Austritt Großbritanniens entstanden sei, sagte der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz im Dlf. In den weiteren Verhandlungen könne es aber keine Kompromisse bei den Grundfreiheiten geben.

Ruprecht Polenz im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 01.02.2020
Ruprecht Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde
Ruprecht Polenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (imago / Oryk Haist)
Die Briten sind raus aus der EU. Die einen jubeln, die anderen trauern. Jetzt stellt sich die Frage: Was passiert im Verhältnis der EU zu den Briten und was muss in Europa passieren ohne die Briten. Dazu der CDU-Außenpolitiker Ruprecht Polenz.
Jürgen Zurheide: Ich wollte zwar eigentlich mehr über die Zukunft reden, aber wir können nicht anders anfangen, als dass ich Sie erst einmal frage, wie war die Nacht für Sie?
Ruprecht Polenz: Ich war um zwölf noch wach, und da kam dann die Tickermeldung, jetzt ist Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU. Das ist ein historischer Moment, es ist ein trauriger Moment, glaube ich, es ist ein Moment, der beide Seiten schwächt. Man darf ja nicht vergessen, Großbritannien ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Europäischen Union, stellt ein Achtel der Bevölkerung, und die Europäische Union verliert erst mal 15 Prozent ihrer Wirtschaftskraft. Das ist schon etwas, mit dem wir noch lange zu tun haben werden. Ich bin nicht ganz so optimistisch wie viele, die jetzt in den Reden natürlich gesagt haben, und wir bleiben Freunde, und wir wollen uns möglichst nicht so weit voneinander entfernen. Man darf nämlich nicht übersehen, die Brexit-Kampagne war eine sehr emotionale Kampagne, nach dem Motto, Großbritannien muss sich von Europa befreien. Es war eine Befreiungskampagne aus der Sicht der Brexiteers. Deshalb befürchte ich jetzt für die nächste Zukunft erst mal relativ schwierige Verhandlungen.
"Wichtig, den Schaden zu begrenzen"
Zurheide: Jetzt muss man Herrn Farage nicht zu ernst nehmen, aber man muss es vielleicht doch. Er hat von Krieg gesprochen, also wenn man solche Vokabeln hört, aber lassen wir das. Es ist vielleicht ein Stück Vergangenheit. Die eigentliche Arbeit beginnt ja jetzt. Das ist der andere Punkt. Die spannende Frage wird sein, bleibt Europa, Resteuropa zusammen, oder lässt man sich auseinanderdividieren. Während des Prozesses ist das bisher nicht passiert, aber jetzt kommen natürlich unterschiedliche Interessen. Wie ist da Ihre Prognose?
Polenz: Hier ist es auch wichtig, dass auf der einen Seite natürlich versucht wird, den Schaden zu begrenzen, der durch den Austritt entsteht, sprich, wenn es irgend geht, Großbritannien möglichst im Binnenmarkt zu halten. Das setzt aber voraus, dass es auch Personenfreizügigkeit gibt. Bisher will Großbritannien das nicht. So könnte man jetzt die einzelnen Punkte durchbuchstabieren, das haben Sie hier schon vielfach getan. Ich will auf den Aspekt aufmerksam machen, dass die EU natürlich auch unterm Strich darauf achten muss, dass jetzt Großbritannien nicht das gelingt, was jedes EU-Mitglied immer mal wieder versucht hat, so eine Art Rosinenpickerei, sodass sich dann andere fragen, die sind ja jetzt viel besser dran als vorher, dann können wir ja ähnliche Schritte auch überlegen. Also das ist ein Punkt, den die Europäische Union auch im Blick behalten muss. Ansonsten steht sie ja vor Herausforderungen, vor denen sie mit Großbritannien auch gestanden hätte und vor denen im Übrigen Großbritannien auch steht. Ich nenne nur das Stichwort Klimapolitik.
Zurheide: Ich will noch mal ganz konkret fragen, diese vier Grundfreiheiten, die haben Sie jetzt gerade angesprochen, wo die Personenfreizügigkeit zugehört, Kapital, Handel und Dienstleistung, das alles zusammen. Für Sie ist das auch unverrückbar.
Polenz: Ja, denn wenn wir da Abstriche machen würden, dann hätten wir tatsächlich eine Situation, wo der größte Vorteil, den die Europäische Union anzubieten hat, auch möglich wäre, ohne bestimmte Konsequenzen daraus zu ziehen, eben auch die Freiheit, die Freizügigkeit, die auch ein ganz wesentliches Element in de Europäischen Union ist, auch wenn man sich das historisch anschaut, ist das ja über die Jahrhunderte so nicht gewesen. Da kann die Europäische Union nicht nachgeben.
"Die Prozesse transparenter machen"
Zurheide: Kommen wir jetzt auf die Zukunft für Resteuropa, sagen wir das so. Es gibt am 9. Mai eine Konferenz zur Zukunft Europas. Da versucht man, das etwas, ich würde sagen: demokratischer zu machen, die Menschen zu beteiligen. Es wird zwar wahrscheinlich schwierig im Einzelfall, aber man unternimmt mindestens den Versuch. Welche Erwartungen haben Sie denn, und welche Themen muss man da aufrufen?
Polenz: Ich glaube, es geht in mehrere Richtungen, was man jetzt bearbeiten muss. Das eine ist, die Menschen wieder näher an Europa, sprich auch an Brüssel zu bringen, die Prozesse transparenter zu machen und die Beteiligung der Menschen zu intensivieren. Da ist allerdings ein ganz wichtiges Stichwort das Fremdwort Subsidiarität, Entscheidungen möglichst nah am Menschen treffen zu lassen. Das heißt, die Europäische Union muss in dieser Konferenz auch überprüfen, ob es tatsächlich alle Kompetenzen sind, die in Brüssel bleiben müssen, die da in den letzten 30, 40 Jahren hingewachsen sind oder die man sich geholt hat oder, ob nicht das eine oder andere tatsächlich besser vor Ort gemacht werden kann, ob sich auch die Brüsseler Gesetzgebung ein Stück weit in der Richtung verändern kann, dass man sich auf Rahmenvorgaben in bestimmten Bereichen beschränkt und es dann durchaus den einzelnen Mitgliedsstaaten überlässt, diesen Rahmen dann durchaus auch etwas unterschiedlich auszuführen, auszufüllen. Also es geht in Richtung Transparenz, Subsidiarität, Demokratie, aber es geht auch um riesige inhaltliche Herausforderungen. Die EU ist ja als Wirtschaftsgemeinschaft entstanden, und der Transfer zu einer nicht-karbonisierten Wirtschaft, diese Umstellung, das ist die große Herausforderung der nächsten Jahrzehnte. Die müssen wir gemeinsam angehen, weil es sonst auch innerhalb des Binnenmarktes Wettbewerbsverzerrungen und Verwerfungen geben würde. Das ist eine Riesenherausforderung, weil das Bewusstsein in den Ländern, dass hier was passieren muss, durchaus nicht identisch ist.
"Eine europäische Regelung ersetzt 27 nationale Regelungen"
Zurheide: Ich will noch mal auf das Stichwort Bürokratie eingehen. Es gibt ja immer den Vorwurf, Brüssel, das ist diese große anonyme Bürokratie, und die regeln da viel zu viel. Auf der anderen Seite, ich will mal ein Stück dagegenhalten, dass Europäer auch im Ausland zum Arzt gehen können, dass Briten übrigens in Spanien leben, ihre Renten kriegen und trotzdem krankenversichert sind, das haben alles mal Bürokraten möglich gemacht. Ist der Vorwurf manchmal auch einfach, ich will sagen: bigott fast?
Polenz: Ja, ich halte diesen Vorwurf auch für sehr leichtfertig in den allermeisten Fällen, weil im Grunde möchte man es irgendwie einfacher haben, und so, wie man es jetzt gerade selber gerne hätte, aber wenn man drei anderen redet, hätten es zwei davon lieber anders, und schon sind wir bei der Frage, wie soll es denn geregelt werden und damit auch, wenn Sie so wollen, etwas bei Bürokratie. Man darf auch bei diesem Vorwurf nicht vergessen, dass in der Regel eine europäische Regelung jetzt in Zukunft 27, vorher 28 nationale Regelungen ersetzt, also insofern auch durchaus vor allen Dingen, wenn man sich durch Europa bewegt wirtschaftlich, als Mensch, als Tourist, als Geschäftsperson, dass man dadurch immense Vorteile hat. Also der Bürokratievorwurf, den sollte man sich immer sehr genau angucken. Sicherlich ist richtig – und da muss man aufpassen –, dass nicht zu viele Verwaltungsstellen irgendwie zusammenwirken müssen, damit ein Unternehmen, damit man persönlich irgendwelche Genehmigungen bekommt, also muss es vom Bürger her denken.
Zurheide: Was brauchen wir in der Neuordnung der Macht? Es gibt die Kommission, es gibt das Parlament, es gibt den Rat, die Regierungschefs. Sind Sie dafür, dass das Parlament eine deutliche Aufwertung erfährt, zum Beispiel …
Polenz: Ja, meine Wunschtendenz wäre natürlich die, wie sie in den europäischen Verträgen sagen, als generelle Richtungsanweisung drinsteht, ever closer union, also eine immer engere Europäische Union, und das bedeutet zwei Dinge. Das bedeutet auf der einen Seite eine Stärkung der Kommission als Motor dieser Entwicklung, und zum anderen muss das natürlich kontrolliert werden. Die Hauptkontrolle sollte das Europäische Parlament übernehmen. Das wäre sozusagen vom Institutionengefüge her das, was passieren müsste. In den letzten Jahren ist vor allen Dingen der Ministerrat, also die Versammlung der Staats- und Regierungschefs gestärkt worden. Ich wäre sehr dafür, bin aber auch ein bisschen skeptisch, ob es passieren wird, dass die Kommission wieder stärkeres Gewicht bekommt und auch vor allen Dingen das Europäische Parlament.
"Wir können das nur gemeinsam in der Europäischen Union"
Zurheide: Das würde ja auch heißen, dass dann Mehrheitsentscheidungen eher möglich wären, und da liegt genau das Problem begraben.
Polenz: Ja, da liegt das Problem, weil der Grund, weshalb wir Mehrheitsentscheidungen meinetwegen in Deutschland akzeptieren, liegt in dem gemeinsamen Nationalgefühl letztlich, und dieses gemeinsame Gefühl entwickeln wir gegenüber Europa nicht im gleicher Weise. Da heißt es dann leicht, also die Polen, die Italiener und noch ein paar andere haben uns Deutsche überstimmt, und warum sollen wir das jetzt machen. Das ist das Problem, an dem wir arbeiten müssen, dass wir erkennen – das ist auch sozusagen für alle eine Aufgabe –, dass wir erkennen, dass uns mit Italienern, Kroaten, Polen und Franzosen in dieser globalisierten Welt genau so viel im Grunde verbindet wie mit den Bayern, den Sachsen und den Schleswig-Holsteinern.
Zurheide: Schlussfrage heute Morgen: Bleiben Sie ein Optimist für Europa?
Polenz: Ja, das bleibe ich, schon weil wir auch gar keine andere Möglichkeit haben. Wir sind ja auf dem Wege in eine sogenannte G2-Welt, wo die USA und China die Dinge bestimmen werden. Der Trend ist, glaube ich, unübersehbar, und wenn wir da auch als Bundesrepublik Deutschland uns einerseits vor imperialem Zugriff schützen wollen und andererseits unsere Interessen in dieser Welt verfolgen wollen, können wir das nur gemeinsam in der Europäischen Union. Das gilt für alle EU-Mitgliedsstaaten. Wenn sich diese Einsicht erst mal richtig durchgesetzt hat, dann bin ich auch über eine künftige europäische Dynamik nicht bange.
Zurheide: Dann kommen die Briten zurück. Das werden wir dann in einem anderen Gespräch wägen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.