Donnerstag, 18. April 2024

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CDU-Außenpolitiker Röttgen
"Wenn diese Wahl schiefgeht, sind wir jenseits des Abgrunds"

Vor der französischen Präsidentschaftswahl sieht CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen Europa am Abgrund. Der Chef des Bundestagsausschusses für Auswärtiges fordert zugleich von Deutschland mehr Engagement, um Europa wieder funktionsfähig zu machen. Die deutsche Außenpolitik, solle sich darauf ausrichten Problemlöser zu werden, sagte Röttgen im Deutschlandfunk.

Norbert Röttgen im Gespräch mit Klaus Remme | 23.04.2017
    Norbert Röttgen (CDU) Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag
    Norbert Röttgen (CDU) (dpa)
    Remme: Herr Röttgen, guten Morgen.
    Röttgen: Guten Morgen.
    Remme: Dann beginnen wir mit einem Thema, nämlich dem des Tages, den Präsidentschaftswahlen in Frankreich. Noch heißt es: 'Alles ist möglich' und heute Abend könnte die Schlagzeile schon lauten: 'Nichts geht mehr'. Stehen wir wirklich an einem europapolitischen Abgrund?
    Röttgen: Ja, wir stehen an dem Abgrund. Aber wir haben noch ein Entfernungsmaß vom Abgrund und das ist der Ausgang eben dieser Wahl. Wenn diese eine Wahl in Europa noch schiefgeht, dann sind wir jenseits des Abgrundes, dann wären wir an einem toten Punkt der europäischen Integration in der 60-jähigen Geschichte. Ich glaube nicht, dass es passiert – man weiß es allerdings nicht. Aber das ist gewissermaßen die präzise Beschreibung der Entfernung von heute Morgen bis zu der Möglichkeit eines europäischen Abgrundes.
    Remme: Wie konnte es soweit kommen, dass man eine Stichwahl Le Pen Mélenchon auch nur mitdenken muss?
    Röttgen: Weil wir es in allen westlichen Gesellschaften zu tun haben mit einer neuen Welle des Nationalismus, der Ablehnung von globaler Politik. Auch des Staatsegoismus dort, wo kein Nationalismus herrscht und wir uns auch immer noch sozusagen zu sehr darin ergeben, zu wenig Widerstand leisten, uns zu wenig aufbäumen gegen diese Welle, die so viel zerstören könnte. Und ich finde, wir müssen ein ernsteres Bewusstsein auch der Dringlichkeit haben, was auf dem Spiel steht. Ich finde, das haben wir immer noch nicht. Und ich hoffe jetzt nicht, dass die Wahl heute Abend so oder in drei Wochen so ausgeht, dass wir dazu gezwungen werden. Sondern es ist eigentlich genug passiert, dass sich die Verantwortungskräfte, die für eine offene Gesellschaft stehen und die auch für die Offenheit der Staaten nach außen stehen, stärker aufbäumen, entgegenstemmen dieser Flut von Nationalismus, Populismus und kollektiver Irrationalität. Es ist eine wirklich historisch ernste Situation, in der wir sind. Und ich finde, wir verhalten uns diesem Ernst gegenüber noch nicht angemessen.
    Remme: Wenn Berlin für Millionen von Franzosen nicht mehr für ein unverzichtbares und gemeinsames Projekt steht, sondern eher für das Gegenteil, haben wir das dann auch selbst zu verantworten?
    Röttgen: Wir tragen eine große Verantwortung in Europa – auch etwas, was neu ist. Die deutsche Verantwortung war noch nie so groß. Ich glaube, dass wir uns bemühen, ihr gerecht zu werden. Wir sind in einem gewissermaßen Anpassungsprozess – so lange ist das ja alles noch nicht. Aber meine Kritik ist auch, dass wir in manchen Fragen – auch vor allen Dingen den Fragen, die Europa spalten – zu sehr die Rolle einnehmen, dass wir Partei sind, dass wir Argumente vortragen, dass wir glauben, Recht zu haben und Recht bekommen zu sollen. Dabei müsste ...
    Remme: Erzählen Sie mal ein Beispiel.
    "Müssen zum Problemlöser werden"
    Röttgen: Ich glaube, es gibt drei große Streitfragen. Das Eine ist – das haben Sie auch eben mit angesprochen – die Frage der Wirtschaft, der Wirtschaftspolitik, die andere die Austeritätspolitik nennen. Das Zweite ist die Flüchtlingsfrage. Und das Dritte ist die Frage des Verhältnisses zu Russland – vor allen Dingen North Stream 2, also, die neue zusätzliche Ölpipeline statt über das Land, über Polen und Ukraine, an diesen Ländern vorbei, einen Bypass sozusagen durch die Ostsee an diesen Ländern vorbeizuführen. Das sind drei große Europa spaltende Themen. In allen diesen drei Themen sind wir Partei. Und die Rolle, die ich aus unserer überragenden Verantwortung und unseres überragenden Gewichtes in Europa für die deutsche Außenpolitik schließe ist, dass wir von der Partei mit guten Argumenten, zum Kompromissbereiter, zum Problemlöser werden müssen. Das ist, glaube ich, die neue oder eine neue strategische Ausrichtung, die deutsche Außenpolitik gewinnen muss. Weil es kein Einzelthema gibt, das wichtiger ist als das eine überragende Thema – gerade aus deutscher Sicht –, nämlich Europa wieder funktionsfähig zu machen.
    Remme: Fehlt Ihnen da nicht möglicherweise auch manchmal Selbstkritik, wenn ich an Ihre Partei denke, die ja immerhin in Regierungsverantwortung steht? Dass man in solchen Fallbeispielen – auch um den Franzosen Einsicht zu vermitteln – sagt: 'Mensch, hier haben wir möglicherweise in den letzten Jahren überzogen, hier haben wir Fehler gemacht'?
    Röttgen: Ja, ich habe ja gerade Selbstkritik geübt. Und ich glaube, dass – um es mal positiv zu wenden – wenn jetzt nicht der desaströse, der politische Abgrundfall eintritt, sondern ein guter Fall, also ein kooperationswilliger und kooperationsfähiger neuer französischer Präsident, dann glaube ich, muss es eine deutsch-französische Initiative geben zur gemeinsamen Politikgestaltung. Wir müssen es dann beim Schopfe greifen. Die sollte sich auf zwei Kernthemen beschränken, nämlich auf die Wirtschaft und auf das Thema Sicherheit. Wir brauchen einen Kompromiss für eine deutsch-französische Initiative nach den französischen Präsidentschaftswahlen und noch vor der Bundestagswahl.
    Remme: Herr Röttgen, ist die Bundesregierung auf die Präsidentschaft eines europafeindlichen Kandidaten vorbereitet?
    Röttgen: Ich wüsste nicht, wie das gehen sollte. Wenn es zu diesem Desaster kommen sollte, dann ist nach meiner Einschätzung ein toter Punkt erreicht, und auf den kann man sich erstmal nicht vorbereiten. Wir sollten uns lieber sozusagen auf den Fall A, auf den guten Fall vorbereiten – das wäre sinnvoll und möglich.
    Remme: Es scheint ja kaum mehr ein Wochenende ohne wegweisende Wahlen oder Referenden in Europa zu geben. Das in der Türkei, das liegt hinter uns. Sie fordern Konsequenzen – Stichwort "Beitrittsprozess –, die weder Kanzlerin noch Vizekanzler ziehen wollen. Wird da, wenn diese Konsequenzen ausbleiben, Schaden angerichtet?
    Jeder türkische Staatsbürger, sollte die Möglichkeit haben sich für die innere Verfassung seines Landes zu entscheiden
    Röttgen: Das glaube ich. Wenn die Entscheidung in der Türkei gegen Demokratie, gegen Rechtsstaat, wenn das sozusagen von Europa mit Folgenlosigkeit beantwortet wird, wenn wir an der Fiktion eines Beitritts eines Landes mit einer solchen Regierung und solchen Verfassung, wenn wir daran festhalten würden, dann würden wir die Glaubwürdigkeit Europas beschädigen – und das ist eine enorme Beschädigung. Und darum müssen wir daraus Konsequenzen ziehen – die auch keinen überraschen würden. Erdoğans Kurs, der beinhaltet die Entscheidung Erdoğans selber, die europäische Beitrittsperspektive aufzugeben. Das weiß er selber, es würde ihn nicht überraschen. Es würde ihn vielmehr, glaube ich, überraschen, wenn wir an dieser Fiktion festhalten würden, die dann auch natürlich verhindert, dass es ein neues realistisches Verhältnis zur Türkei geben würde.
    Remme: Ich will die Entwicklung in der Türkei mal weiterdenken. Das türkeistämmige Wähler ihr Wahlrecht in Deutschland ausüben, das ist bisher weitgehend unumstritten. Gibt es dafür Grenzen, Herr Röttgen? Was ist, wenn Erdoğans in Kürze dazu aufruft, über die Einführung der Todesstrafe abzustimmen, dürfen wir das auch auf deutschem Boden geschehen lassen?
    Röttgen: Ich war und bleibe der Meinung, dass ein Wahlkampf um diese Frage erneut nicht in Deutschland ausgeführt werden sollte. Weil es hierbei nicht um Grundrechte und Freiheit geht, sondern das ist eine innenpolitische türkische Frage, für die ein anderes Land sich nicht zur Verfügung stellen muss im Allgemeinen und schon gar nicht für diese Intention. Ich bin aber der Auffassung, dass das staatsbürgerliche Wahlrecht der in Deutschland lebenden Türken nicht behindert werden soll, sondern in den Konsulaten soll gewählt werden dürfen. Wir sollten also der Ausübung des Wahlrechts natürlich nicht im Wege stehen, aber der Wahlkampf sollte nicht nicht stattfinden. Das ist übrigens auch der allgemeine Standard des Verhältnisses zwischen Staaten.
    Remme: Nicht im Wege stehen, auch wenn es um ein Thema wie die Todesstrafe geht?
    Röttgen: Ja. Jeder sollte die Möglichkeit haben, jeder türkische Staatsbürger, sich für die innere Verfassung seines Landes zu entscheiden. Das sollten wir auch respektieren. Jeder sollte die Möglichkeit haben, gegen die Todesstrafe zu votieren. Aber wie er nun entscheidet, das müssen wir respektieren, das ist staatsbürgerliche Freiheit – und wenn sie auch am Ende ein Ergebnis beinhaltet, das wir grundsätzlich ablehnen. Das hat dann politische Konsequenzen. Aber das Recht, entscheiden zu dürfen, sollten wir den türkischen Bürgern nicht vorenthalten.
    Remme: "Staatsbürger" – gutes Stichwort. Sollte das Für und Wider in Sachen Doppelpass Wahlkampfthema hier im Bundestagswahlkampf werden?
    Röttgen: Im Wahlkampf sollten die Themen besprochen werden, die wichtig sind. Und ich finde, dass man auch Bilanz ziehen muss nach einer gewissen Zeit und fragen muss: 'Sind eigentlich unsere Ansätze der Integration wirklich richtig'. Auch vor dem Hintergrund, dass rund zwei Drittel der in Deutschland lebenden Türken für die Verfassungsreform in der Türkei gestimmt haben, die Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei abschafft. Ich glaube, das zwingt uns zu der Frage und zu der Feststellung, dass wir mit der Integration und auch der politischen Integration, der zum Teil seit langem in Deutschland lebenden Türken, nicht so weit gekommen sind, wie wir das wünschten. Und darum muss man auch fragen: Ist das Problem, das wir gesehen haben, von Doppelwelten, die existieren, nicht ein wirkliches Problem? Und sind Instrumente wie doppelte Staatsangehörigkeit nicht etwas, was diese Probleme eher befördert als behindert? Das ist meine Meinung. Und darüber sollte diskutiert werden. Weil in den Wahlen über die wichtigen Dinge diskutiert werden soll.
    Remme: Sie sind da mit dieser Positionierung nicht allein. Wenn ich mir die Agenturlage von gestern alleine anschaue: Bosbach, Krings, Mayer, Scheuer, all diese Stimmen votieren eben für dieses Thema auch im Wahlkampf. War es ein Fehler, Herr Röttgen, von Angela Merkel auf dem Parteitag noch via Fernsehinterview sozusagen in "Basta-Manier" auf den umstrittenen Parteitagsbeschluss zu reagieren?
    "Eine Entscheidung für diesen Staat verlangen"
    Röttgen: Also, ich möchte das nicht jetzt im Nachhinein und nachtragend kommentieren. Meine Meinung war das schon lange, seit 20 Jahren zusammen mit den jüngeren Abgeordneten, die damals, Mitte der 90er in den Bundestag gekommen sind, die haben sich damals als Minderheit in der CDU dafür eingesetzt, dass die Kinder – es ging ja vor allen Dingen immer um die Türken – von in Deutschland lebenden Türken die zwei Staatsangehörigkeiten bekommen sollten. Das war sozusagen damals nicht durchsetzbar in der CDU. Wir haben aber immer gesagt: Wenn sie keine Kindern mehr, sondern Erwachsene sind, dann sollen sie sich entscheiden, dann wollen wir, dass sie hier Staatsbürger werden, aber nicht sozusagen "doppelte Staatsbürger", also eigentlich Staatsbürger zweiter Klasse. Das ist meine Meinung seit 20 Jahren. Das heißt nicht, dass sie richtig sein muss, aber ich glaube, gerade jetzt zeigt sie, dass es richtig ist. Kinder, da kann man keine Entscheidung verlangen, aber von Erwachsenen kann man das verlangen. Und wir sollten – das, finde ich, ist auch eine Lehre jetzt aus den Entwicklungen in der Türkei – eine Entscheidung für diesen Staat verlangen; nicht nur hier zu leben, sondern auch für diesen Staat, mit allen Rechten und Pflichten.
    Remme: Jetzt ist der "Generationenschnitt” sozusagen ein Zauberwort, habe ich das Gefühl, das den innerparteilichen Streit in dieser Frage möglicherweise kittet in einem Wahlprogramm. Aber löst der auch das Problem mangelnder Integration?
    Röttgen: Also erstens, glaube ich, könnte das ein vernünftiger Vorschlag sein, dass man sagt: Das war mal über einen bestimmten Zeitraum eine richtige Politik. Aber irgendwann ist das natürlich mal vorbei, dann muss man sagen: 'Jetzt musst du auch dazugehören.' Meine Meinung habe ich gerade gesagt zu dem Thema, aber gleichzeitig will ich unterstreichen, dass die Bedeutung dieses Themas für die Integrationsfrage nicht überschätzt werden sollte. Sondern die Frage der Integration hängt an ganz, ganz anderen, wichtigeren Aspekten. Das sind Sprache, das sind Schule, das ist aber auch eine Einstellung, dass man von denen, die hier hinzukommen auch etwas verlangen muss, nämlich die Bereitschaft dazuzugehören, auch eine Beschäftigung mit einem Kernbestand von Werten. Ich glaube, dass man auch etwas abverlangen muss, das ist auch eine Erkenntnis, glaube ich, die jetzt nochmal wichtiger ist. Also, Staatsbürgerschaft ist wichtig, es zählt immer zu den Grundlagen aber im Zentrum der Integrationsfrage – die übrigens dringlicher werden wird –, steht es sicher nicht.
    Remme: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Wir sprechen mit Norbert Röttgen von der CDU, er ist Vorsitzender im Auswärtigen Ausschuss. Herr Röttgen, morgen will sich Horst Seehofer zu seiner Zukunft erklären. Rechnen Sie damit, dass er entgegen früherer Ankündigungen und Aussagen noch einmal antritt?
    Röttgen: Ich werde es in großer Geduld abwarten, was er mitteilt.
    Remme: Braucht die Union Horst Seehofer? Oder hat er der gemeinsamen Sache in den letzten zwei Jahren nicht – im Gegenteil – enorm geschadet?
    Röttgen: Also, erstmal entscheidet Horst Seehofer, was seine Ziele sind, dann muss die CSU das entscheiden. Aber es hat sicher in der Vergangenheit ein Ausmaß auch an Kontroverse gegeben – ich glaube, auch von Horst Seehofer selber –, dass bislang einmalig war. Nun gibt es wiederum auch einen Kurswechsel, die Einsicht, dass Wähler – unsere Wähler – das nicht mögen, nicht wertschätzen, sondern dass Einheit das ist, wie man in einen Wahlkampf ziehen muss. Ich glaube, das ist also Vergangenheit. Aber die Vergangenheit war sehr intensiv, und darum wird sie auch von vielen Wählern nicht vergessen werden. Aber immerhin sind wir, glaube ich, jetzt alle klüger geworden, dass man diskutieren muss – aber man muss am Ende immer unterstreichen, dass uns mehr verbindet als uns trennt.
    Remme: Man konnte es, glaube ich, zwischen den Wörtern heraushören – aber das muss ja nicht sein, Herr Röttgen. Hat Herr Seehofer der gemeinsamen Sache geschadet?
    Röttgen: Wie eben gesagt: Sie haben mich richtig interpretiert. Aber ich finde, wir sind jetzt ja in einer neuen Phase, wo wir alle erkannt haben, wie wir uns besser verhalten. Und das möchte ich betonen und nicht bei der Vergangenheit verweilen. Wir sind jetzt in der Gegenwart und auf einem neuen Erkenntnisstand.
    Remme: Wenn wir auf den Wahlkampf der kommenden Monate schauen, ist Ihre Partei, die Union, insgesamt mit zwei – ich sage mal – "alten Kämpen", wie Merkel und Seehofer, wirklich gut aufgestellt gegen eine SPD, die sich personell mit Schulz – Sie sind aus Nordrhein-Westfalen, Martin Schulz auch – einen Ruck gegeben hat, der offenbar positiv wirkt?
    "Der Substanzschwund der SPD ist nicht aufgehalten"
    Röttgen: Na ja, aber das entpuppt sich ja mehr und mehr als ein Strohfeuer. Die Erfahrung macht man ja immer wieder mal: Etwas, das ganz schnell brennt und auch ganz hell brennt, aber dann sieht man doch, es gibt da keine Substanz beim Verbrennen, sondern es ist dann ganz schnell weggebrannt. Ich habe von Martin Schulz, offen gestanden, seit Wochen nichts mehr gehört. Wir haben gerade über Außenpolitik gesprochen, über die Frage der Türkei, welche Konsequenzen hat das für uns – Herr Schulz: Fehlanzeige. Er äußert sich nicht mehr. Das drückt sich auch schon in den Umfragen aus, aber es geht im Kern um Substanz. Schulz ist ja einer der altgedientesten Politiker des Landes, insofern kann man ihm auch keinen Neuigkeitswert unterstellen, aber er bringt jetzt trotzdem wenig an neuer Substanz.
    Remme: 16.000 neue Parteimitglieder bei der SPD – ein Strohfeuer?
    Röttgen: Ich meine, ich habe ja die zwei Gesichtspunkte benannt. Erstens: Was ist die erkennbare Substanz der Äußerungen von Martin Schulz? Da ist eigentlich Fehlanzeige. In Wahrheit war das ja von Anfang an alles sehr abstrakt. Wahrscheinlich war es auch ein Befreiungserlebnis interner Art bei der SPD, was aber, glaube ich, über die SPD-Anhängerschaft, Mitgliedschaft nicht hinausgeht. Und auch mit 16.000 Mitgliedern mehr ist die Mitgliedschaft auch der SPD jetzt noch nicht wirklich beeindruckend. Das gilt allerdings für die anderen Parteien auch. Nein, ich glaube, insgesamt ist der Substanzschwund der SPD nicht aufgehalten. Und mehr und mehr könnte es auch so sein, dass Herr Schulz geradezu die Verkörperung von Substanzschwund bei der SPD wird.
    Remme: Nächstes außenpolitisches Thema, Herr Röttgen. Sigmar Gabriel reist in wenigen Stunden nach Israel, auch der Bundespräsident wird dort in Kürze erwartet. Wie beschädigt ist das bilaterale Verhältnis? Die Regierungskonsultationen wurden mit Termingründen verschoben.
    Röttgen: Das Verhältnis ist in keiner Weise beschädigt, sondern es ist ein außergewöhnliches, tiefes Verhältnis. Aber die Meinungsverschiedenheiten sind auch gravierend. Und für alle diejenigen, denen Israel am Herzen liegt, die nicht nur die Verantwortung spüren, sondern auch am Herzen liegt, die sind auch traurig, auch deprimiert darüber, wie sehr alles festgefahren ist, wie sehr, aus meiner Sicht, sich Israel einseitig auf seine militärisch-polizeiliche Überlegenheit verlässt und in der ganzen Situation keine Perspektive entwickelt. Die Palästinenser sind zur Zeit besonders schwach, besonders zerstritten. Israel profitiert gewärtig von der angespannten Lage im Mittleren Osten, dass sich die Aufmerksamkeit von diesem Konflikt – Israel-Palästina – auf andere Konflikte wegbewegt hat. Es hat sogar gegenwärtig sicherheitspolitische Vorteile für Israel. Aber unter dieser Oberfläche von Aktualität wird es fundamental immer schlechter und negativer und es entwickelt sich keine Perspektive. Das ist eine echte Bedrohung für Israel auf lange Sicht.
    Remme: Sigmar Gabriel hat ja inzwischen eine Reihe von Antrittsbesuchen hinter sich. Das ist ja auch für einen Vorsitzenden im Auswärtigen Ausschuss interessant. Wie bewerten Sie denn seine ersten Monate im neuen Amt?
    Röttgen: Er hat für mich in nicht überraschender Weise eine richtig gute Rolle eingenommen. Er hat schwierige Auftritte – ich möchte mal etwa den in Moskau neben Lawrow nennen – exzellent bestanden. Er äußert sich pointiert. Er ordnet die Dinge ein. Ich bin ab und zu mit ihm nicht immer einer Meinung – was aber das Natürlichste der Welt ist und auch überhaupt kein Problem. Er macht seine Sache – wie ich finde – sehr gut.
    Remme: Stichwort "Lawrow" – eine weitere heikle Auslandsreise steht an, die der Kanzlerin zu Wladimir Putin Anfang Mai. Offiziell als Vorbereitung für den G20-Gipfel – aber es geht um mehr, oder nicht?
    "Sehr gut, dass diese Reise stattfindet"
    Röttgen: Absolut. Es geht darum, aber es geht um mehr. Es geht um den weiterbestehenden - nicht nur - Konflikt, sondern Krieg in der Ukraine. Es geht um die Situation im Mittleren Osten, vor allen Dingen Syrien, wo Russland sich in eine enorm wichtige, auch politisch wichtige Rolle hineingebombt hat, gleichzeitig aber jetzt in einer auch für Russland schwierigen Koalition mit dem Assad-Regime selber und auch mit dem Iran ist. Also, es gibt ganz viele schwierige Einzelfragen zu erörtern. Auch der neue amerikanische Präsident wird erörtert werden. Und darum ist es wichtig, dass trotz oder auch wegen der anhaltenden neuen russischen Positionierung seit drei Jahren, seit der Krim-Annexion, dem neuen Nationalismus und Militarismus trotzdem gesprochen wird, aus gemeinsamer Verantwortung. Das ist eben das, was ich ganz zu Beginn sagte: Auch wenn jetzt Nordkorea und Europa und andere Dinge im Vordergrund stehen, darf man diese Beziehung natürlich nicht vernachlässigen und auch nicht die Probleme und Konfliktlagen, die mit Russland verbunden sind. Und darum ist es sehr, sehr gut, dass diese Reise stattfindet.
    Remme: Sehen Sie Spielraum für eine Verbesserung der Beziehungen entweder Berlins zu Moskaus oder Brüssels zu Moskaus? Denn – Sie haben die Ukraine selbst erwähnt – dieser Konflikt, der steckt seit Monaten in einer politischen Sackgasse.
    Röttgen: Ja, sogar seit Jahren. Und auch das Minsker Abkommen kann man schon in Jahren bemessen. Ich glaube, dass dieser Konflikt für absehbare Zeit festgefahren ist, dass Russland für sich keinen Spielraum sieht, die notwendigen Schritte zu tun, die zu einer Entspannung im Konflikt um die Ukraine führen würden. Ich bin in nicht so gleicher Weise auf Nichtveränderung eingestellt, was die Lage in Syrien anbelangt. Die meisten sehen das vielleicht noch eher als noch vertrackter und komplizierter. Meine Sicht ist eher, dass im Verhältnis zu Syrien Russland enorme politische Ziele erreicht hat – mit brutalem zynischen Militäreinsatz, aber immerhin erreicht hat – und dass ab jetzt mehr auf dem Spiel steht, wenn es nicht zu politischen Lösungen kommt. Das will Assad gar nicht, der setzt nur auf militärische Lösungen. Auch Iran und die Hisbollah sind eher militärisch aktiv. Also, hier könnte sich zwischen Europa, den USA und Russland ein bisschen die Erkenntnis entwickeln, dass es gemeinsame Ziele gibt und dass man sich dort in gewisser Weise annähern kann. Für Optimismus wäre es viel zu früh, aber ein bisschen Bewegung im Hinblick auf die Analyse und Identifizierung gemeinsamer Interessen sehe ich. Nicht zuletzt, übrigens, nach dem Militärschlag der USA.
    Remme: Herr Röttgen, der Name Trump ist gefallen. "Todesspiel" titelt der Spiegel, mit Blick auf Nordkorea und zwei Narzissten mit Atomwaffen in den Händen. Ist die Eskalation programmiert?
    Röttgen: Nein. Dann wäre ja die Katastrophe programmiert – das ist sie nicht. Es geht um Politik, es hängt von Politik ab. Es ist schwer von außen zu interpretieren, aber es ist jedenfalls gut, dass das amerikanisch-chinesische Spitzentreffen stattgefunden hat. Ich meine auch, dass man von chinesischer Seite einige Schritte sehen kann. Sie haben einer Syrien-Resolution im UNO-Sicherheitsrat – der letzten – erstmalig seit langem nicht mehr mit Nein votiert, sondern sich der Stimme enthalten. Sie haben sich auch öffentlich gegenüber Nordkorea mäßigend geäußert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in Washington irgendein Zweifel besteht und bei dem Sicherheitsberater McMaster, beim Verteidigungs- und Außenminister halte ich das auch für völlig klar, dass es einen Zweifel darin gibt, dass es nur eine politische Lösung mit China im Verhältnis zu Nordkorea und der Eindämmung der nuklearen Fähigkeit Nordkoreas geben kann. Nach meiner Einschätzung definitiv keine militärische, keine einseitig amerikanische, sondern es kommt auf ein amerikanisch-chinesisches Zusammenwirken an. Und das muss sich entwickeln. Da sind die Interessenlagen natürlich sehr unterschiedlich. Aber es gibt hier eine amerikanische Initiative, eine amerikanische Politik. Und – das muss man auch mal bei aller kritischen Bewertung von Trump feststellen – die gibt es jetzt unter seiner Präsidentschaft, und da ist noch kein Porzellan zerdeppert worden.
    Remme: Am Dienstag kommt der chinesische Außenminister nach Berlin. Nachdem, was Sie gerade gesagt haben, Herr Röttgen, entdecke ich – vielleicht will ich es auch allzu arg versuchen – etwas Positives am Ende unseres Gespräches, hier im Interview der Woche. Die Wahl von Trump, die hat das Koordinatensystem erschüttert. Wir sehen die Chinesen, die versuchen aus einer Art Machtvakuum, zumindest aus den Schwierigkeiten, die in Washington offen zu betrachten sind, Nutzen zu ziehen. Kann es möglicherweise sein, dass in diesem Bewegungsfeld, zwischen Moskau, Peking und Washington, Deutschland größeren Spielraum hat als bisher?
    Röttgen: Ich will Ihr Bemühen um eine optimistische Note nicht zerstören.
    Remme: Ich höre das.
    Röttgen: Ich teile sie auch, was zum Beispiel das Verhältnis zu China anbelangt und den USA und habe eben auch zu Russland leichte Möglichkeiten einer positiven Entwicklung im Verhältnis zu Syrien identifiziert. Ich glaube, das, was Sie gerade angesprochen haben, da sehe ich das nicht. Wir müssen uns klar als Teil des Westens verstehen und wir dürfen kein Wandler und Nutznießer zwischen den Welten sein, sondern unser Standort muss klar sein. Dort wo er ist, müssen wir ihn dann entschieden und entschlossen wahrnehmen.
    Remme: Herr Röttgen, vielen Dank fürs Gespräch.
    Röttgen: Ich danke Ihnen sehr, Herr Remme.