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Cemile Sahin: "Taxi"
Eine andere Erzählung des Krieges

Was wäre, wenn man sein Leben als TV-Serie weiterleben würde? Im Debütroman von Cemile Sahin macht eine trauernde Mutter genau das. Sie lässt ihren im Krieg gefallenen Sohn weiterleben: als Darsteller in ihrer eigenen Kriegs-Seifenoper. Bis der nachgelebte Episodenfilm aus dem Ruder läuft.

Von Melanie Weidemüller | 21.10.2019
Die Schriftstellerin Cemile Sahin
Die Schriftstellerin Cemile Sahin (Korbinian Verlag / Paul Niedermayer)
Es gibt Bücher, die aus der Menge an Neuerscheinungen herausragen, weil sie vieles andere plötzlich recht brav aussehen lassen. Bücher, an denen die mediale Gegenwart mitgeschrieben hat, weil ihre Autoren und Autorinnen die Erzählstrategien von Film, TV-Serien und Internet nicht aussperren, sondern kapern und für die Literatur fruchtbar machen.
Die Autorin ist eine künstlerische Senkrechtstarterin
Der erste Roman von Cemile Sahin ist so ein Buch. Im Literaturbetrieb ist Sahin bislang eher eine Unbekannte: Geboren wurde sie 1990 in Wiesbaden als Kind kurdischer Flüchtlinge aus dem Osten der Türkei. Sie studierte Bildende Kunst in London und Berlin, wo sie heute lebt. Dieses Jahr gewann Cemile Sahin gleich zwei renommierte Auszeichnungen, den "ars viva"-Preis und ein Akademie-Stipendium. In ihrer künstlerischen Arbeit, die Videos, Skulptur und Text-Bild-Collagen umfasst, beschäftigt sie sich mit der Macht von medialen Bildern und kollektiven Erzählungen, die sie in komplexen Installationen aus verschiedenen Perspektiven neu inszeniert. Und jetzt also ein Roman, in den offenbar viel von Sahins künstlerischer Praxis eingeflossen ist. Erschienen ist er im kleinen Berliner Korbinian Verlag, das Cover knallt Pink ins Auge und wir drücken jetzt einfach mal auf Start:
"Dies ist der Roman "TAXI" von Cemile Sahin, in dem Rosa Kaplan beschließt, ihr Schicksal nicht zu akzeptieren und den Sohn, der ihr durch den Krieg genommen wurde, durch einen anderen zu ersetzen."
Der Roman spielt in einer namenlosen Stadt in einem nicht genannten Land im Jahr 2017. Die Hauptfigur ist Rosa Kaplan, eine rund 60-jährige Frau, deren einziger Sohn Polat am 1. Januar 2007 im Krieg durch eine Bombe starb. Das zumindest teilte das Militär Rosa mit, der Leichnam ihres Sohnes wurde nie gefunden. Es folgte eine pathetische Trauerfeier samt Blasmusik, bei der ein leerer Sarg in der Erde versenkt wurde, eingewickelt in eine Fahne. Damit war die Sache für die Machthaber erledigt.
"Jeder sagte: FÜRS VATERLAND. Frau Kaplan sagte nichts."
Die Mutter will den Tod des Sohnes im Krieg nicht akzeptieren
Für Rosa Kaplan, die Mutter des vermissten Polat, ist nichts erledigt. Sie weigert sich, den sinnlosen Tod ihres Kindes zu akzeptieren, weigert sich, als trauernde Soldatenmutter eine staatstragende Rolle im System zu spielen. Rosas Schmerz ist körperlich, monströs, unheilbar. Schließlich beschließt sie, ihren Sohn als Serienheld wiederauferstehen zu lassen – und schreibt ein Drehbuch, in dem sie selber und Polat die Hauptrollen spielen. Regie: Rosa Kaplan.
"Ich habe die Geschichte nicht akzeptiert, doch ich leide unter der Reihenfolge der Dinge, die passiert sind. Denn die Zukunft verändert diese Reihenfolge nicht. Ich kann sie nur verändern, wenn ich die Geschichte aus der Vergangenheit heraus neu erzähle. Dann wird in der Zukunft, die kommt, keine Bombe meinen Sohn treffen, (...), weil ich es verhindern werde. Denn ich erzähle die Geschichte."
Cemile Sahins Roman nimmt schnell Fahrt auf. Rosa engagiert einen jungen Mann, der ihrem Sohn ähnelt und für ein paar tausend Euro bereit ist, die Rolle Polats zu spielen, ja mehr noch: Als Sohn-Darsteller zieht er bei Rosa ein, nennt sie "Mutter" und studiert den Charakter des verlorenen Sohnes ein.
"Dafür wurde ich bezahlt und dafür bin ich hier, dafür ist die Weltgeschichte alt, dafür, dass sie sich neu erzählt. (...) Es gibt sehr oft, im Leben, wie im Film, einen fließenden Übergang. Ich wurde gefunden und ich gehe mit, denn es bedeutet mir nichts."
Buchcover: Cemile Sahin: "TAXI"
Buchcover: Cemile Sahin: "TAXI" (Korbinian Verlag)
Idee der Mutter: Der Sohn lebt als TV-Serienheld weiter
So abstrus diese Story vielleicht erscheinen mag, so überzeugend hat Cemile Sahin sie in ihrem Debütroman in Szene gesetzt. Keine Chronologie stiftet Ordnung oder höheren Sinn, vielmehr ist "Taxi" ein filmischer Ritt durch Rosas und Polats Geschichte, mit harten Schnitten und allem, was man aus amerikanischen Serien kennt: Es wird in Staffeln und Episoden erzählt, es gibt einen Prolog, Rückblenden und Vorgriffe, Cliffhanger, Perspektiv- und Zeitsprünge. Der Ton ist hart, schnell und witzig bis zur Groteske. Und die Autorin treibt das ironische Spiel mit Zitaten lustvoll ab absurdum: Jede Folge beginnt mit einem schwarzweißen Titel-Screen samt Play Button, gedruckt auf Papier, dazu Meta- und Meta-Meta-Kommentare.

"Ende der ersten Episode: Der Held taucht nicht in den Nachrichten auf. Der Held ist zuhause bei seiner Mutter."
Das alles ist in diesem Roman kein modischer Firlefanz, sondern der Rückgriff auf jüngere Erzählstrategien, die den linearen Text längst geschreddert haben zugunsten von offenen, simultanen, multiperspektivischen Erzählweisen. Dabei wird in "Taxi" durchaus auch konventionell erzählt und die ambivalenten Charaktere nehmen Gestalt an, ohne erklärbar zu sein. Da ist die manipulative Mutter, die dem gefakten Sohn sogar mit einem Baseballschläger die Nase demoliert, damit er dem eigenen Kind noch ähnlicher sieht – und die schließlich doch nicht ohne Rache auskommen wird. Da ist der gekaufte Sohn, der als Kind Zeuge der Deportation seiner Eltern wurde und früh das Lügen lernte, naiv, gerissen, einsam und abgebrüht zugleich. Auf dieser empathischen Ebene geht es in "Taxi" – wie letztlich in allen Kriegsromanen – um universal menschliche Erfahrungen von Liebe und Verlust, Macht und Ohnmacht unter Bedingungen eines Gewaltregimes.
"Alle Menschen sind gleich und alle empfinden dasselbe, nur anders."
Radikal neue Erzählweise des Sitcom-Romans
Diese Binsenweisheit wäre natürlich zu wenig als Erkenntnisgewinn im Jahr 2019. Sahins Protagonistin fordert die Deutungshoheit über ihr Leben zurück und rettet sich in eine Fiktion. Kann das gutgehen? Muss dieser Versuch, ein verlorenes Glück als Fake neu herbei zu erzählen, nicht zwangsläufig im Wahnsinn enden? Sahin spielt diese Versuchsanordnung in ihrem Roman durch und belässt es bei einer literarischen Antwort. Zunehmend verschwimmen die Grenzen zwischen Film-Drehbuch und dem Making Of als erzählte Realität. Der falsche Polat wird mehr und mehr eins mit seiner Rolle, ein Sohn und ewiger Soldat, der sogar bereit ist für seine Mutter zu töten. Und ohne an dieser Stelle zu viel verraten zu wollen: "Taxi" handelt von einem Re-enactment, das komplett aus dem Ruder läuft und einen Showdown bietet, in dem schließlich auch der Serienheld erkennen muss:
"Die Sitcom ist über das Skript hinausgewachsen. Man stirbt nicht mehr für Bilder. Der Bilder-Tod ist ausgelöscht. Man stirbt durch die Waffe. Oder die Bombe, wenn sie einen trifft."
Fassen wir zusammen: Cemile Sahin gelingt das Kunststück, in ihrem Debütroman "Taxi" eine hochpolitische Geschichte über die äußeren und seelischen Verwüstungen des Krieges so unterhaltsam zu erzählen, dass Pathos oder moralisierende Töne gar nicht erst aufkommen. Amerikanisches Serial, Gaunermärchen, Verwechslungskomödie, Trauerspiel und Action-Krimi, bei allen Genres wird gewildert in diesem tragikomischen Heldenepos. So zeigt sich Sahin als souveräne Erzählerin einer hybriden, zeitgemäßen Literatur, die ohne Avantgarde-Gestus auskommt. Das inhaltliche Gewicht ihres Debüts sollte man bei aller durchgeknallten Komik nicht übersehen: "Taxi" handelt vom Krieg. Es wird gefoltert, getötet, gelitten in dieser Geschichte. Und Cemile Sahin redet nicht irgendeiner historischen Wahrheit oder den offiziellen Narrativen das Wort, sondern der Vielfalt kreativer, subjektiven Erzählformen. Und die sind letztlich immer subversiv.
Cemile Sahin: "TAXI"
Korbinian Verlag, Berlin. 218 Seiten, 20 Euro.