Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

Cervantes’ letzter Roman
Schönheit und Liebe

Am 19. April 1616 beendete Miguel de Cervantes sein letztes Werk. "Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda" sollte sein bisheriges Schaffen, vor allem aber sein "Don Quijote de la Mancha" in den Schatten stellen, so hoffte es der Autor. Obwohl das Buch im deutschsprachigen Raum öfter übersetzt wurde als "Don Quijote", geriet es bald in Vergessenheit. Eine Wiederentdeckung lohnt sich.

Von Martin Grzimek | 17.04.2016
    Zeitgenössische Darstellung des spanischen Schriftstellers und Dichters Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616). Sein Hauptwerk ist der "Don Quijote".
    Zeitgenössische Darstellung des spanischen Schriftstellers und Dichters Miguel de Cervantes Saavedra (1547-1616). (picture alliance / dpa)
    "Laute Schreie sandte Corsicurvo, der Barbar, durch die enge Öffnung eines tiefen Erdlochs, mehr Gruft als Kerker für eine Menge Leiber, die man lebendig dort begraben hatte. Zwar war sein schrecklich furchterregendes Gebrüll nah und fern zu hören, doch niemand verstand die Worte, die er rief, mit Ausnahme der armen Cloelia, die ihr Unglück ebenfalls in jenen Tiefen gefangen hielt."
    Ein wutschnaubender Barbar, das Gebrüll unverständlicher Befehle und eine Gruft voll zusammengepferchter Gefangener, deren Gejammer durch ein Erdloch nach oben schallt – mit einer Szene wie aus einem Horrorfilm mitten aus dem Totenreich beginnt Miguel Cervantes seinen Roman über die Irrfahrten zweier sich Liebenden, die nach abenteuerlichen Reisen von der geheimnisumwogenden Nordspitze der Erde bis zum Mittelpunkt der zivilisierten Welt als Pilger nach Rom gelangen, um dort den heiligen Bund der Ehe zu schließen. Während ihrer langjährigen Odyssee, nach vielen, gewaltsam herbeigeführten Trennungen und glücklichen Wiedervereinigungen sind die beiden noch als Periandro und Auristela unterwegs, getarnt als Geschwisterpaar, dessen Herkunft niemand kennt. Erst am Ziel ihrer Reise im Zentrum katholischen Glaubens, können sie sich unter Bekanntmachung ihrer wahren Identität als die Königskinder Persiles und Sigismunda das Jawort geben und in ihr Heimatreich zurückkehren. Cervantes’ letzter Roman, der unvermittelt mit einer Schreckensszene aus dem Reich der Barbaren einsetzt und die Gefahren lebensfeindlicher Welten heraufbeschwört, endet in der Apotheose eines typischen Märchens mit glücklichem Ausgang.
    "Und nachdem (Sigismunda) dem obersten Pontifex die Füße geküsst und mit der Erfüllung ihres einstigen Gelübdes ihr Gewissen beruhigt hatte, führte sie noch ein langes glückliches Leben an der Seite ihres angetrauten Gemahls Persiles. Schließlich durfte sie sich selbst noch an ihren Urenkeln erfreuen, sah sie in ihnen doch eine lange Reihe zufriedener Nachkommenschaft."
    "Die Hoffnung schwindet"
    Als Miguel Cervantes 68-jährig am 19. April des Jahres 1616 seinem umfangreichen Manuskript ein letzten Dankesbrief an seinen Gönner und Mäzen Pedro Fernández des Castro, dem Grafen von Lemos, voransetzte, ahnte er bereits, dass er nur noch wenige Tage leben würde. "Nachdem ich gestern bereits die letzte Ölung empfangen habe", schreibt er, "setze ich heute noch rasch diese Zeilen auf; die Zeit drängt, die Angst steigt und die Hoffnung schwindet." Mit der "Hoffnung" meinte der unermüdliche Schriftsteller wohl auch jene auf die Realisation weiterer Buchprojekte. Dabei hatte er doch schon zu Lebzeiten die Gewissheit, dass sein bisheriges Werk, allem voran sein "Don Quijote de la Mancha", bereits Weltruhm erlangt hatte. Und darüber hinaus stellte, wie er an anderer Stelle bemerkt, sein nun abgeschlossener Roman über die "Irrfahrten von Persiles und Sigismunda" für ihn selbst die Vollendung seines künstlerischen Schaffens dar. Dieser Roman, kündigt er an, sei entweder "das schlechteste oder das beste", was er je verfasst habe, doch nach Meinung seiner Freunde werde das Werk "den Gipfel der Trefflichkeit" erreichen. "Los trabajos de Persiles y Sigismunda", wie der Titel im Original lautet, sollte also den "Don Quijote" in den Schatten stellen. Gemessen an der Rezeptionsgeschichte der beiden Bücher, wäre es ein Leichtes, das Gegenteil zu beweisen.
    Den "Ritter von der traurigen Gestalt" und seinen Knappen Sancho Panza kennt noch immer jeder, auch wenn die wenigsten dieses zu den herausragendsten Beispielen der Weltliteratur zählende Werk wirklich ganz gelesen haben mögen. Der "Persiles" hingegen erlebte zwar nach Cervantes’ Tod in Spanien mehrere Editionen und erreichte im deutschsprachigen Raum mehr Übersetzungen als der "Don Quijote"; in Wirklichkeit aber geriet dieser "neuartige" Roman, wie ihn der Autor selbst bezeichnete, schon bald in völlige Vergessenheit. Der Grund dafür mag sein, dass er fast ausschließlich als ein überspannter Abenteuerroman rezipiert wurde. Schon Ludwig Tieck reduziert das Buch in seiner Vorrede zur Übersetzung des "Persiles" durch seine Tochter Dorothea aus dem Jahr 1837 durchweg auf seine rein fantastischen Elemente:
    "Im Eismeer eingefrorene Schiffe, ungeheure Walfische, die mit ihrem Wasserstrahl das Schiff überschwemmen, astrologische Prophezeiungen, welche eintreffen, Piraten, brennende Inseln, unerhörte Lebensrettung, Eifersucht und Liebe, Bosheit und Torheit, Alles verschlingt sich so seltsam, dass Zauberer und Wehrwölfe, und ein leichtsinniger Tanzmeister, der mit seiner unnützen Kunst nach dem hohen Norden verschlagen wird, nur als Nebensachen sich geltend machen können. Die Erfindung ist oft so seltsam, und streift mehr wie ein Mal in das Unwahrscheinliche hinüber, dass es der launige Cervantes nicht unterlassen kann, sein Gedicht selbst ironisch zu betrachten und über die Unmöglichkeit der Begebenheiten zu scherzen."
    Das Werk stößt bis heute auf Unverständnis und gar Ablehnung
    Es mag sein, dass neben einigen allzu übertrieben wirkenden surrealistischen Szenen vor allem der wie ein Knäuel in sich verschlungene Aufbau der einzelnen Handlungsstränge daran Schuld ist, dass die Lektüre des "Persiles" bis heute eher als Anstrengung denn als Vergnügen empfunden wird. Anfang und Ende einzelner Episoden lassen sich im Geflecht der Geschichte nicht immer gleich lokalisieren und unterbrechen so die Kontinuität eines auf Spannungsmomente hin ausgerichteten Lesens. Eine Unzahl von ungewohnt klingenden Namen und fremdartigen Personen, die in Seitensträngen der Erzählung unvermittelt eingeführt werden, verschwinden scheinbar unbegründet, um viele Seiten später plötzlich wieder aufzutauchen, sodass man leicht die Orientierung verlieren kann. Wird solche Verwirrung dann auch noch in den oft holprigen und fehlerhaften Übersetzungen vergangener Jahrhunderte vervielfacht, kann man erst recht nachvollziehen, dass Cervantes’ letztes Werk, das er zudem selbst nicht mehr überarbeiten und glätten konnte, bis heute auf Unverständnis und gar auf Ablehnung stößt – allerdings auf eine von einem mulmigen Gefühl begleitete Ablehnung. Denn jeder, der das Buch mit Interesse und Neugier liest, wird bemerken, dass Handlungsknäuel und Irreführungen, Unwahrscheinliches und die Übertreibungen vom Autor möglicherweise ganz bewusst benutzt wurden, um auf einen höheren Gehalt seines Werkes hinzuweisen.
    Dies zu überprüfen, bietet nun die fabelhafte Neuübersetzung von Petra Strien, ihre klugen Anmerkungen und ein ausführliches, den Text in neues Licht setzendes Nachwort des Romanisten Gerhard Poppenberg die allerbeste Voraussetzung. Man kann nämlich den Roman, so Petra Strien, durchaus als "Abenteuerroman" lesen, das eigentliche Abenteuer aber besteht, um Gerhard Poppenberg zu folgen, vornehmlich darin, in Cervantes’ "Persiles" zum ersten Mal die Gattung des Romans als ein in sich geschlossenes Gesamtkunstwerk wahrzunehmen. Aus dieser Perspektive betrachtet, wird man bei der Lektüre eine ganz neue, unerwartete Leselust entdecken: Das Knäuel, in dem man sich, der bloßen Handlung folgend, schnell verliert, entpuppt sich bei genauem Hinsehen in seiner ästhetischen Raffinesse als ein Kunstwerk, das den Roman aus seiner bis dahin festgelegten Funktion, ausschließlich unterhaltend zu wirken, heraushebt und ihn als eine in sich geschlossene Form der Vollkommenheit, der von Dichtung und Drama gleichstellt. Die Schwierigkeit, sich lesend diesen Roman zu erarbeiten, liegt also darin, seinen verwickelten lebensnahen oder auch fantastischen Handlungssträngen zu folgen, ohne dabei das Ganze als ein künstlich angelegtes Gebilde aus den Augen zu verlieren. Auf unscheinbare Weise wird so der Anspruch erhoben, dass der Roman in jedem seiner puzzleartigen Teile auf die Geschlossenheit seiner Totalität als Kunstwerk verweist.
    Zwei konstante Leitgedanken
    Es ist auch hier Gerhard Poppenberg zu verdanken, dass er in seinem Nachwort gleichsam als Grundlage des Verständnisses des Gesamtgeschehens die Erzählstruktur des "Persiles" besonders anschaulich und klar herausarbeitet.
    "Das Erzählmuster dieses Werks besteht darin, dass zwei junge Liebende durch irgendein Unglück getrennt, von Piraten oder Räubern verschleppt, auf einsame Inseln oder in eine barbarische Fremde verschlagen werden. Sie suchen sich sehnsüchtig, treffen sich unterwegs kurzzeitig, verlieren sich wieder oder müssen ihre wahre Identität verhehlen, um sich nicht in Gefahr zu bringen. Das ermöglicht es, dieses Muster von Trennung und Wiedervereinigung, Begehren und möglicher Befriedigung in tendenziell endlosen Handlungsketten und immer wieder neuen narrativen Spannungsbögen zu variieren. Die Liebenden werden immer wieder neu getrennt und müssen die Befriedigung ihrer Wünsche immer wieder aufschieben, ehe sie schließlich nach langen Irrfahrten doch noch glücklich vereint werden."
    Über dem handlungsbetonenden Motiv des Sich-Verlierens und Wiederfindens gibt es zwei konstante Leitgedanken, die das Werk von Anfang bis Ende durchziehen: Es sind die der Schönheit und der Liebe. Wo und wie auch immer Auristela-Sigismunda auftaucht – jeder, der ihr begegnet, ist geblendet von ihrer fast überirdisch zu nennenden Erscheinung, ganz gleich ob sie zur Tarnung in Männerkleidung steckt, als Pilgerin mit einfachem Sacktuch bekleidet ist oder auf Festen wie eine Königin in reiche Gewänder gehüllt wurde. Als Pendant hierzu stattet Cervantes Periandro-Persiles mit der athletischen Präsenz eines Zehnkämpfers aus, der bei Wettspielen oder Kämpfen stets als Sieger hervorgeht und sich selbst dann, wenn er tödlich verletzt scheint, in Windeseile regeneriert, um erneut das Bild vom "erhabenen Anstand" zu verkörpern. Dieser Disposition folgt logischerweise, dass die beiden sowohl in ewiger Liebe füreinander bestimmt sind, als auch dass sie jede Menge Neider und Konkurrenten auf sich ziehen.
    Endlos scheint die Zahl derer, die um die Gunst Sigismundas buhlen, was Cervantes immer wieder die Gelegenheit gibt, sich neben der Idee einer Liebe, die "das Zepter mit dem Hirtenstab" vereint, mit der alles Erhabene ignorierenden Qual der Eifersucht zu beschäftigen. In seiner erst kürzlich erschienen bemerkenswerten Biographie: "Cervantes, ein wildes Leben" hat Uwe Neumahr darauf hingewiesen, welche enorme Anstrengung Cervantes in seinen letzten Lebensjahren vollbracht hat, als er gleichsam parallel am zweiten Band seines "Don Quijote" und an den ersten der vier "Bücher" der "Irrfahrten" schrieb, da der "Persiles"-Roman in der Gestaltung und Auseinandersetzung mit den hohen Begriff eines vollendeten, in sich selbst geschlossenen Kunstwerks die, wie Cervantes über seinen Ritterromanparodie selbst bemerkte, "engen Grenzen des Berichts" sprengte, um gleichzeitig im "Persiles" "über das gesamte Weltall zu schreiben", einen Kosmos, dessen Zentrum nichts anderes sein kann als die im Begriff der "Dichtung" aufgehobene Kunst selbst. So heißt es im dritten Buch der "Irrfahrten":
    Diffizile Auseinandersetzung mit Glaube und Lüge
    "(Doch) die Dichtung ist in ihrer Erhabenheit so rein wie klares Wasser und kommt allem Unreinen stets zugute. Wie die Sonne, die unbehelligt alles Schmutzige bescheint, ohne dass sie sich selbst befleckt. Dichtung ist eine Kunst, die ganz zu Recht eine hohe Wertschätzung genießt. Sie ist wie ein plötzlich hervorbrechender Blitz, der nicht zündet, sondern erleuchtet. Sie ist ein wohlgestimmtes Instrument, das sanft die Sinne erfreut und ganz nebenbei Vergnügen mit Ehrbarkeit und Nutzen verbindet."
    Erleuchtung, sinnlicher Genuss und ein Vergnügen, das jenseits des Zeitvertreibs bloßer Unterhaltung tugendhaften Zwecken dient, kommt in jenen Zeiten des beginnenden 17. Jahrhunderts nicht umhin, sich mit der Bedrohung auseinanderzusetzen, der sich die herrschende katholische Kirche durch den aufstrebenden Protestantismus ausgesetzt sieht.
    So eindeutig Cervantes dazu Stellung zu nehmen scheint, indem er seinen Roman im Norden bei menschenfressenden Barbaren, also dort, wo sich Protestanten als erstes wie etwa im dänischen Königreich etablieren konnten, beginnen lässt, um ein aus jener Region stammendes Liebespaar zur Läuterung ihrer Seelen eine Pilgerreise antreten zu lassen, so diffizil setzt er sich im Verlauf seiner Erzählung mit Glaube und Lüge, Wahrheit und Täuschung, Überredungskunst und willkürlicher Gewalt auseinander. Neben den vielen, vor Einfallsreichtum nur so sprühenden Szenen der Einzelhandlungen, gibt es etwa eine, in der zwei Studenten aus Salamanca in der Manier der Bänkelsänger anhand von Schautafeln davon berichten, wie es den Sklaven im fernen Algier ergeht, indem sie behaupten, das alles selbst erlebt zu haben.
    "Die Stadt, die ihr hier auf der Leinwand seht, Herrschaften, ist Algier, das gefräßige Ungeheuer, die Drachenbrut aller Mittelmeerküsten, wichtigster Stützpunkt der Piraten und Freibeuter, Unterschlupf und Zuflucht der Räuber und Strauchdiebe. (...) Dieses Schiff, das ihr hier auf der Zeichnung winzig klein abgebildet seht, ist eine Galeote mit zweiundzwanzig Ruderbänken, deren Herr und Kapitän, der Stehende im Mittelgang mit einem Arm in der Hand, den er jenem dort zu sehenden Christen abgeschnitten hat, um damit wie mit einem Ochsenziemer oder einer Peitsche die anderen an die Ruderbänke gefesselten Christen zur Eile anzutreiben, aus Furcht, die vier hier eingezeichneten Galeeren könnten sie entdecken, näherkommen und Jagd auf sie machen. Der Gefangene dort auf der ersten Ruderbank mit dem entstellten, von den Hieben mit dem abgerissenen Arm blutverschmierten Gesicht bin ich, der ich erster Ruderer auf jener Galeote war, und der neben mir mein Kamerad, nicht so blutig, da weniger ausgepeitscht. Horcht genau hin, Herrschaften, spitzt die Ohren; vielleicht vernehmt ihr unter dem Eindruck dieser beklagenswerten Geschichte etwas von dem drohenden Geschrei und schmählichen Geschimpfe dieses Hundes. Turgut, so der Name ..."
    Ausgerechnet ein Dorfschulze, also ein Vertreter des Rechts, überführt die Studenten anhand von unstimmigen Details in ihrem Bericht der Lüge. Es stellt sich heraus, dass sie tatsächlich nie in Algier waren, während der Schulze selbst dort unter seiner Gefangenschaft gelitten hat. Als es nun darum geht, die Studenten durch Auspeitschen zu bestrafen, gelingt es den beiden "Luftikussen" den Schulzen umzustimmen mit dem Hinweis, dass ein "kluger Richter" lediglich Vergehen bestrafe, sich aber nicht an den Tätern räche. Und so werden die beiden von dem Schulzen nicht etwa zur Rechenschaft gezogen, sondern dahingehend unterrichtet, dass sie bei ihren nächsten Auftritten ihre scheinbar authentischen Erlebnisse fehlerlos und überzeugend darstellen können. Als die Studenten den Pilgern anderntags wiederbegegnen, erklären sie ihnen freudig,
    Eine mit äußerster Sorgfalt edierte Neuausgabe
    " ... nun seien sie so vortrefflich vom Dorfschulzen instruiert worden, dass niemand sie mehr bei einer Lüge hinsichtlich der Zustände in Algier ertappen könne. 'Vielleicht', sagte der eine, (...) ‚wird gar mit Duldung und Zustimmung der Justiz betrogen und unterschlagen. Ich meine, manchmal stecken die schlechten Amtsinhaber ja mit den Halunken unter einer Decke, damit alle was zu beißen haben.’"
    Wie in diesem Beispiel von der Klüngelei zwischen Justiz und "Halunken" legt Cervantes seinen Protagonisten oft einen ganzes Fundus von Volkswahrheiten und Reflexionen über das Alltagsleben zu jener Zeit in den Mund, wechselt von possenhaften Szenen zu tragisch-menschlichen Erfahrungen und lenkt das Schicksal seiner Figuren mit großer Geschicklichkeit und Überzeugungskraft, ohne je sein Ziel aus den Augen zu verlieren, in der Zusammenführung endlos vieler Splitter und Momente, aus denen das Leben besteht, ein Ganzes zu formen, einen Spiegel, in dem wir uns, wenn auch bisweilen verzerrt, bis heute wiedererkennen können.
    Die mit äußerster Sorgfalt edierte Neuausgabe von Cervantes’ "Irrfahrten von Persiles und Sigismunda" in der Anderen Bibliothek verdient dank der bewundernswert flüssigen Übersetzung Petra Striens und dem weitsichtigen Nachwort Gerhard Poppenbergs mehr als nur Beachtung, nämlich Bewunderung. Und wenn man akzeptieren kann, dass der Nachvollzug von Irrfahrten für den Leser auch bedeutet, selbst nicht immer gleich und an jeder Stelle in einem solchen munter erzählten und zugleich anspruchsvollen Roman zu wissen, wo man ist, wird man mit den Worten Cervantes’ erfahren, wie sehr dieses Buch "sanft die Sinne erfreut und ganz nebenbei Vergnügen mit Ehrbarkeit und Nutzen verbindet".
    Miguel de Cervantes: "Die Irrfahrten von Persiles und Sigismunda"
    Aus dem Spanischen mit Anmerkungen von Petra Strien. Nachwort von Gerhard Poppenberg.
    Die Andere Bibliothek, Berlin 2016, 598 Seiten, 42,00 Euro.