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Chaos als Form

Seit Mitte der 90er Jahre erschien wie aus dem Nichts das Gespenst der Pop-Literatur, zog eine beispiellose Welle der öffentlichen Aufmerksamkeit nach sich und eine Schwemme von Büchern, die dem Geiste oder dem Marketing nach als dem Boom zugehörig apostrophiert wurden, Anfang des neuen Jahrtausends ist es damit schon wieder vorbei. Dafür hat nun eine jüngere Literaturwissenschaft die Chance einer unmittelbaren Wirksamkeit begriffen und eine analytische Studie zum Phänomen der Pop-Literatur jagt die nächste, der Boom nach dem Boom.

Enno Stahl | 27.10.2003
    Ganz aus den Augen geraten ist jedoch, wie es eigentlich zu dieser Marktfähigkeit der Pop-Literatur gekommen ist, was eigentlich den Boden bereitet hat zu diesem exzessiven Diskurs über zeitgenössische Popkultur, nämlich die Poptheorie. Um sie ist es still geworden, die Protagonisten der 80er Jahre haben enttäuscht das Terrain verlassen, sich anderen Themenfeldern zugewandt. Damit ist Platz frei geworden für jüngere Theoretiker wie Martin Büsser und Johannes Ullmaier aus Mainz. Oder Marvin Chlada und Marcus S. Kleiner aus Duisburg, die mit "Radio Derrida” jetzt bereits den zweiten Band einer ambitionierten Trilogie mit Pop-Analysen vorgelegt haben. Kleiner, Kultursoziologe an der Duisburger Uni, skizziert das Ausgangsinteresse ihrer Beschäftigung mit Pop:

    Es ging uns um eine umfassende Auseinandersetzung mit Popkultur, Sound Culture, oder moderner elektronischer Musik, und bestimmten Theorieansätzen, die sich aus dem Umfeld des französischen Strukturalismus speisen, um eine Kultur- und Gesellschaftskritik zu schreiben, ausgehend von einer Beschäftigung mit Popkultur, weil man sehr viel erkennen kann an der Popkultur, wie Kultur funktioniert, wie Gesellschaft funktioniert.

    Getreu der chaotischen Struktur der modernen Gesellschaft, ihrer heterogenen, fragmentarischen und intertextuellen Verfasstheit bewegt sich Chladas und Kleiners Buch in Sprüngen, es ist von beständigen Brüchen durchzogen. Mit Einschüben, Zitaten, typografischen Absetzungen, die schon zur visuellen Poesie tendieren, bildet es formal die Dub-und Sampling-Techniken zeitgenössischer DJ-Kultur ab, Marcus S. Kleiner zur Methode ihres aktuellen Buches und der Vorläuferbandes "Klangmaschine”:

    Uns war es wichtig, sowohl bei Klangmaschine als auch bei Radio Derrida verschiedene Schreibebenen zu realisieren, also nicht nur in einer räsonnierenden Art zu schreiben, nur Theorie zu schreiben, sondern auch Prosapassagen einzuarbeiten, Interviewpassagen einzuarbeiten, die Form des Lexikonbeitrages zu verwirklichen, um verschiedene Ebenen, verschiedene Sprachebenen zu erreichen, und nicht nur einen linearen Text zu haben, sondern wirklich Rhizome zu haben.

    Da die Erzeugnisse der populären Kultur besonders über elektronische Medien Verbreitung finden, ist ein wichtiger Bestandteil der Popkritik immer auch Medienkritik gewesen. Nach Chlada/Kleiner ergibt sich heute nun aber das Paradox, dass Medienkritik ihren Gegenstand zwangsläufig affirmiert, wodurch dieser mehr und mehr gegen Kritik immunisiert wird. Als Ausweg schwebt ihnen eine neue Form der "Medienguerilla” vor, dazu Kleiner:

    Wenn man sich nur mit Produkten der Medien-Pop-Kultur-Industrie auseinander setzt, dann kann man nicht zu einer substanziellen Kritik an diesen Gegenständen kommen. Man repoduziert nur das, was gesagt worden ist. Medienguerilla will hier nicht Wahrheiten gegen Wahrheiten halten, das heißt, eine Position aus dem Blickpunkt einer anderen Position zu verurteilen, sondern erst mal zu fragen, wie konstitutiert sich dieser Gegenstand, also dieses Buch, diese Theorie, was steckt dahinter, also welche heterogen Praktiken werden hier gebündelt, und dann zu sehen, welche Angriffsflächen sie bieten, aber nicht zu sagen, diese und diese Theorie oder dieses Buch ist aus den und den Gründen zu verurteilen, sondern zu fragen, wie funktioniert dieses Buch, wie hat sich dieses Buch konstitutiert, welche Personen steckten dahinter, welche Institutionen steckten dahinter, welche Ideen stecken dahinter.

    Angesichts dieser Argumente erscheint es verwunderlich, dass Chlada/Kleiner sich dennoch Erzeugnisse aus dem Bereich des popkulturellen Universums zunutze machen, um dessen Auswüchse zu kritisieren. So zitieren sie etwa eine Stelle aus dem ersten Perry-Rhodan-Band "Unternehmen Stardust” von 1961, wo eine ferne Sternenrasse sich willenlos dem Simulatorspiel aussetzt, von morgens bis abends vor den Bildschirmen hockt, paralysiert. Marvin Chlada bestreitet jedoch, damit demselben Paradox zu verfallen, das ihr Konzept der Medienguerilla doch gerade ausschließen sollte:

    Was die Perry-Rhodan-Stelle betrifft, die haben wir gerade deshalb ausgewählt, weil Perry-Rhodan ja grundsätzlich ein konservatives Produkt ist, und das heißt, die Kritik, vor dem Fernseher zu sitzen, ist auch eine konservative Kritik, die schon immer da war. Also ich erinnere da an Neil Postman, der sagt "Wir amüsieren uns zu Tode” und so’n Zeug, und dann quasi ein religiöses Konzept dagegen setzt, also das liegt uns einfach fern.

    Ein zentrales Kapitel der Pop- und Medienkritik Chladas und Kleiners trägt den Titel "Popgespenster & Kapitalmonster”, unter Bezug auf Karl Marx und neuere Theoretiker wie Bourdieu und Derrida beschreiben sie den Weg der Popindustrie von einer von widerständigen Reservaten durchsetzten Jugendkultur hin zu einem stromlinienförmigen Universum der Ausbeutung, das letztlich auch jene repressiven Techniken in sich birgt und verewigt, die Adorno/Horkheimer in ihrem "Kulturindustrie”-Kapitel heraus gearbeitet haben. Mit Verweis auf einen Poproman Linda Jaivins am Ende dieses Kapitels zeigen Chlada/Kleiner, dass gerade Popkultur diese Form der Ausbeutung auf den Bereich der Sexualität erweitert, hören Sie dazu noch einmal Marvin Chlada:

    Am Ende kommen zwei außerirdische Girls aus einem Roman auf die Erde, um australische Rockstars zu pimpern, sie bieten sich als Groupies an, und sie finden die Rockkultur halt ganz schön und gut, das ist für uns ein Beispiel, dass quasi die Ausbeutung, was den Produktionsprozess von Pop etc. betrifft, also auch auf diese sexuelle Ebene ausgedehnt werden kann. Das war ja nicht von Anfang an da, oder es ist zwar da, aber es würde nie als Mehrwertprodukt quasi anerkannt.

    So stark die Analysen Chlada/Kleiners auf der deskriptiven Ebene sind, ein wenig vermisst man die Synthese. Das ist jedoch auch Ergebnis einer bewussten Verweigerungshaltung, die sich den "alteuropäischen” Erkenntnisverfahren, Theorie- oder Sinnbildung, bewusst entzieht. Nichtsdestotrotz deutet sich eine innere Leitlinie an - im kritischen Reflex Chlada/Kleiners auf die bisherige Poptheorie, etwa aus dem Umkreis der Zeitschrift SPEX: sie politisiere Popmusik künstlich, um daraus eine Dialektik zwischen Subversität und Affirmation zu beziehen. Ist diese Strategie, popkulturelle Erzeugnisse für eigene politische Absichten zu instrumentalisieren, aber nicht legitim? Dazu Kleiner:

    Es ist völlig legitim, es ist gut, dass es das gibt. aber es ist eben nur die eine Seite, sich mit Pop auseinander zu setzen, indem man Pop politisiert, aber es darf eben nicht die einzige Seite sein. Und indem man sich meistens in diesen Oppositionen, in diesen Dichotomien bewegt, verkürzt man das Objekt, über das man redet, also hier den Gegenstandsbereich Pop. Und indem wir verschiedene Töne, in Klangmaschine ist es noch ein ganz andere Schreibweise gewesen, verschiedene Töne sammeln, verschiedene Stimmen sammeln, ohne sie wirklich zu synthetisieren, auf einen Einheitsnenner zu bringen. Natürlich ist die Opposition von Affirmation und Subversion in Bezug auf Pop eine Konstante, die sich in unseren Texten durchhält, aber es ist eben nur eine, und indem man versucht auszubrechen, aus diesem Denken in binären Oppositionen kann man erst den Gegenstandsbereich sichtbar machen, der da Pop oder Popkultur oder Poptheorie heißt.

    Neben den schriftlich fixierten "Ausbruchsversuchen” Chlada/Kleiners ist 2002 auch eine Hörspielcollage daraus entstanden. Der dritte Band der Pop-Analysen wird noch in diesem Jahr erscheinen, man darf darauf gespannt sein.