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Chaos in der Erde

Geophysik. - In den Bebenzonen der Welt wird die Wahrscheinlichkeit eines neuen Bebens geschätzt, indem man untersucht, wie oft und in welchen Abständen es in der Vergangenheit gebebt hat. Danach zu urteilen sind zum Beispiel Los Angeles oder Istanbul überfällig. Neue Ergebnisse aus Kalifornien legen aber nahe, dass diese Statistiken irreführen könnten.

Von Dagmar Röhrlich | 11.06.2010
    Zum Glück für die Menschen sind große Erdbeben eher selten und dazwischen herrscht Ruhe. Für die Seismologen haben lange Ruhephasen jedoch einen Nachteil: Sie machen es ihnen schwer, das Bebenrisiko einer Region abzuschätzen:

    "Viele große Beben ereignen sich im Abstand von Jahrhunderten. Je nachdem, wie weit die historische Überlieferung zurückreicht, weiß man dann von zwei, drei, fünf oder sechs Beben, die sich dort ereignet haben. Um weiter zurück in die Geschichte zu kommen, ziehen manche Kollegen Gräben über geologischen Verwerfungen - also Störungen - hinweg. Sie versuchen mit ihrer Hilfe Informationen über frühere Beben aus dem Boden abzulesen. So oder so, es kommt immer nur eine Handvoll Beben zusammen und damit auch nur eine Handvoll Intervalle, um die Wiedereintrittswahrscheinlichkeit zu berechnen."

    Bei so einer dünnen statistischen Datenlage ist die Frage, ob die erfassten Beben wirklich die ganze Variationsbreite möglicher Bebenszenarien in einer Region wiedergeben. Um die Zuverlässigkeit der Risikoberechnung besser einschätzen zu können, hat sich David Shelley vom geologischen Dienst USGS im kalifornischen Menlo Park sehr kleine Beben vorgenommen. Der Grund: Sie sind weitaus häufiger:

    "Wir haben mehr als 900 Mikrobeben analysiert, die sich in einem Zeitraum von achteinhalb Jahren in Zentralkalifornien an der San Andreas Verwerfung ereignet haben. Diese Beben entstanden sehr tief unten, in der Nähe der Grenze zwischen Erdkruste und Erdmantel. Wir wollten sehen, wie gut unsere statistischen Vorhersagen sind. Gefunden haben wir dann ein sehr interessantes zeitliches Verteilungsmuster."

    Es gab Zeiten, in denen die Mikrobeben regelmäßig auftraten und einem Dreitage- oder Sechstage-Zyklus gehorchten. Das änderte sich, wenn es in der Nähe ein stärkeres Beben gab: Nach dem Stärke 6-Parkfield-Beben von 2004 beispielsweise verkürzten sich die Dreitage-Intervalle und die Sechstage-Zyklen verschwanden. Shelley:

    "Dann gab es Zeiten, in denen die Beben unregelmäßig auftraten, und es gab Perioden, in denen sie zwischen dem Dreitage- und dem Sechstage-Zyklus zu springen schienen. Es ist wirklich faszinierend, wie komplex das Muster war."

    Bei den untersuchten Mikrobeben gibt das Gestein nicht über weite Strecken nach, erklärt David Shelley: Der Untergrund reißt nur über ein paar Dutzend bis 100 Meter auf:

    "Der Grund für dieses komplexe Muster wird letztendlich darin liegen, wie sich die verschiedenen Teile der Störung gegenseitig beeinflussen. Wenn ein Teilstück bricht, wirkt sich das auf das Nachbarstück aus, der Stress verlagert sich. Aber der Untergrund ist nicht gleichförmig. Manche Abschnitte setzen der Reibung zwischen den beiden Krustenplatten, die bei einer Verwerfung aneinander vorbei rutschen, mehr Widerstand entgegen als andere. Wir vermuten, dass deshalb die komplizierten Muster entstehen."

    David Shelley geht davon aus, dass es diese komplizierten Muster auch bei großen Beben geben könnte. Schließlich seien bei großen wie kleinen Beben viele Kontrollmechanismen gleich:

    "Unsere Beobachtungen legen also nahe, dass, selbst wenn uns das Auftreten der Erdbeben an einer Störung regelmäßig erscheint, das nicht bedeutet, dass das in der Zukunft auch noch so sein muss, denn vielleicht wissen wir einfach nur zu wenig über die Variabilität. Man sollte sehr vorsichtig sein, wenn man aus der Vergangenheit die Zukunft vorhersagen möchte."

    Das heißt: Allein zu ermitteln, wie hoch das Risiko eines schweren Beben in einer Region ist, wird bedeutend schwieriger sein als gedacht.