Samstag, 20. April 2024

Archiv


Charisma und Herrschaft

Die Zuschreibung von Charisma ist längst zum inflationären Dekor von Personality jedweder Art geworden. Doch lässt sich charismatische Ausstrahlung auch medial erzeugen?

Von Svenja Flasspöhler | 12.07.2009
    Der Soziologie Max Weber hat den Typus der "charismatischen Herrschaft" im Sinne von Außeralltäglichkeit beschrieben. Warum aber werden auch Tyrannen als charismatisch bezeichnet, Frauen dagegen eher selten? Und wie behauptet sich Charisma in der künstlichen Glamourwelt des Pop?

    In unserer dreiteiligen Reihe "Gnadengabe oder Inszenierung? - Versuche über Charisma" geht es im zweiten Essay um "Charisma und Herrschaft". Autorin ist die freie Berliner Publizistin Svenja Flasspöhler.

    Am 19.7.2009 wird Elke Buhr die Reihe beschließen. Sie befasst sich mit dem Verhältnis von "Charisma und Pop".


    Charisma und Herrschaft
    Von Svenja Flaßpöhler

    Nur ein Blick! Nur eine Geste! Ein angedeutetes Kopfnicken vielleicht, oder ein kurzes Augenzwinkern! Sehnsüchtig warten die Menschen, vor allem die, die ganz vorne stehen, auf jedes noch so kleine Zeichen der Zuneigung, auf ihren Gesichtern spiegeln sich, der leuchtenden Gestalt zugewandt, hoffnungsfrohe Erwartung und grenzenlose Bewunderung. Alles, glauben sie, würden sie für ihren Helden tun, für ihn, der so souverän, so selbstsicher, so gelassen, ja, von ihrer Anerkennung so gänzlich unabhängig zu sein scheint! Wie gern würden sie ihm nah sein, ihn anfassen, doch die Ehrfurcht gebietet Abstand, und wie befreiend, ja erlösend ist es da, wenn die Spannung sich zwischendurch entladen kann in tosendem Beifall! Hitze steigt auf, es ist, als würde die Masse zumindest für einen kurzen Moment mit ihrem Helden vereint, als würde der Beifall sie gemeinsam fortreißen in jene andere, bessere Zeit, von der seine feurige Rede kündet.

    Wo spielt diese Szene? Auf einem Popkonzert? Auf dem Petersplatz in Rom? Oder in einem totalitären Staat? Nein, nicht unbedingt. Nicht nur Popstars, Päpste oder Diktatoren können die Massen auf diese Weise begeistern, sondern solche Szenen spielen sich überall da ab, wo Charismatiker das Wort führen. Und wie sagte Ex-Bundeskanzler Helmut Schmidt, selbst zwar hochangesehen, aber kein Charismatiker, kurz vor der Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der Vereinigten Staaten?

    "Aber wir sehen jetzt in Amerika, wie ein junger Mann, Barack Obama, allein mit Charisma zu einer nationalen Figur wird. Dabei darf man nicht vergessen, dass Charisma für sich genommen noch keinen guten Politiker ausmacht. Auch Adolf Hitler war ein charismatischer Redner. Oskar Lafontaine ist es auch."

    Natürlich ist diese Äußerung provokant. Zum einen deshalb, weil sie eine Gemeinsamkeit zwischen Obama, Hitler und Lafontaine unterstellt. Und zum anderen, weil sie Obama insofern diskrediert, als er angeblich nicht durch seine politischen Fähigkeiten, sondern allein aufgrund seines Charismas zum Held der Nation, ja der ganzen westlichen Welt wurde. Was aber heißt das eigentlich genau? Worin besteht die Macht des Charismatikers? Was zeichnet, um einen Ausdruck des Soziologen Max Weber zu gebrauchen, "charismatische Herrschaft" aus? Nun, offensichtlich muss der Charismatiker, um Macht auszuüben, nicht notwendig auch an der Macht sein. Im September 2008, als Helmut Schmidt seine Äußerung tat, war Obama noch nicht Präsident der Vereinigten Staaten, und überhaupt scheint es, als zeigte sich die Stärke des Charismatikers nicht so sehr in der Machtausübung, als vielmehr vorher, wenn es darum geht, bestehende Machtverhältnisse zu kritisieren und von einer besseren Zukunft zu künden. Charismatiker, so kann man vielleicht sagen, sind nicht primär Herrscher, sondern zunächst einmal Verführer. Und Verführungskraft zu besitzen, ist in gewissem Sinne sogar mehr, als einfach nur Herrschaft auszuüben. Der Herrscher ist zwar insofern mächtig, als er ganze Völker regieren, unterdrücken oder gar auslöschen kann, aber er hat nicht unbedingt die Gabe, die Masse umzustimmen. Zu überzeugen. Aufzuwiegeln.

    Genau das aber vermag der Charismatiker. Einem Liebhaber nicht unähnlich, bewegt er den störrischen, in sich divergenten Volkskörper zur einheitlichen, bedingungslosen Hingabe, er schafft es, dass dieser Körper sich öffnet, ja sich sogar opfert für jene Ideale, die er, der Charismatiker, propagiert. Diese Liaison, die der Volkskörper mit dem Charismatiker einzugehen bereit ist, unterscheidet die charismatische Herrschaft von anderen Herrschaftsformen. Regeln spielen in ihr genauso wenig eine Rolle wie traditionale Bezüge, sie ist nicht rational, sondern in höchstem Maße leidenschaftlich und daher keineswegs verlässlich. In seiner 1922 erschienenen Schrift Wirtschaft und Gesellschaft definiert Max Weber den Begriff der charismatischen Herrschaft folgendermaßen:

    " Die charismatische Herrschaft ist, als das Außeralltägliche, sowohl der rationalen, insbesondere der bürokratischen, als der traditionalen ... schroff entgegengesetzt. Beide sind spezifische Alltags-Formen der Herrschaft, - die (genuin) charismatische ist spezifisch das Gegenteil. Die bürokratische Herrschaft ist spezifisch rational im Sinn der Bindung an diskursiv analysierbare Regeln, die charismatische spezifisch irrational im Sinn der Regelfremdheit. Die traditionale Herrschaft ist gebunden an die Präzedenzien der Vergangenheit und insoweit ebenfalls regelhaft orientiert, die charismatische stürzt (innerhalb ihres Bereichs) die Vergangenheit um und ist in diesem Sinn spezifisch revolutionär. Sie kennt keine Appropriation der Herrengewalt nach Art des Güterbesitzes, weder an den Herren noch an ständische Gewalten. Sondern legitim ist sie nur soweit und solange, als das persönliche Charisma kraft Bewährung "gilt" ... "

    Die charismatische Herrschaft ist nicht getragen von Satzungen, nicht von Traditionen, sondern einzig und allein durch den Charismatiker selbst. So lange er sich bewährt, so lange er sein Heilsversprechen aufrechtzuerhalten vermag, ist seine Herrschaft gesichert, ganz ähnlich, wie auch die Liebe durchdrungen ist von der Hoffnung, dass durch sie das schmerzlich vermisste Glück endlich greifbar wird. Das allerdings setzt natürlich voraus, dass überhaupt ein Mangel vorliegt, den es zu beheben gilt. Wer mit sich allein allumfassend glücklich ist, sehnt sich nicht nach Liebe, und ein Volk, das sich gänzlich aufgehoben fühlt in einer Staatsform, wird diese kaum aufbrechen, nur weil das irgendein selbst ernannter Messias von ihm verlangt.

    Die charismatische Herrschaft gründet also doch nicht nur auf dem Charismatiker selbst, sondern dieser braucht, um überhaupt Charisma entfalten zu können, eine Krisensituation. Zum Beispiel eine globale Finanzkrise. Oder einen Klimawandel. Oder fundamentalislamische Terroristen, die den so genannten Weltfrieden bedrohen. In der Tat: Wäre Barack Obama zum charismatischen Heilsbringer des frühen 21. Jahrhunderts avanciert, wenn sein Vorgänger George Bush seine Schäfchen ins Trockene gebracht hätte und die Welt nicht derart krisengeschüttelt wäre? Hätten wir Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine als charismatisch empfunden, wenn mit ihrer Wahl 1998 nicht die sechzehn Jahre andauernde Kohl-Ära zu Ende gegangen wäre? Und hätte Adolf Hitler ohne Rezession überhaupt eine derartige Faszination auf die Massen ausüben können? Die Politikwissenschaftlerin Christina Georgieva schreibt:

    "Würde Charisma allein in der Außeralltäglichkeit des Führers wurzeln, dann hätte eine "charismatische" Persönlichkeit in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit die Chance gehabt, ihre charismatische Wirkung zu entfalten."

    Ohne entsprechenden soziohistorischen Kontext kein Charisma, ohne außeralltägliche Umstände kein außeralltäglicher Führer, dem die Massen mit außeralltäglicher Hingabe gehorchen, kurz: ohne Mangel keine Sehnsucht und auch keine Leidenschaft. Soweit so gut. Wie aber hält ein Charismatiker seine Herrschaft aufrecht, wenn diese allein auf naturgemäß vergänglichen Emotionen beruht? Anders gefragt: Was geschieht, wenn die Krisensituation behoben ist und der große Retter sich im faden Alltag bewähren muss? Verliert er dann nicht automatisch seine Strahlkraft? Man kennt das ja bestens aus Beziehungen: Sobald das Feuer der ersten Wochen oder auch Monate erkaltet und die Liebe alltäglich geworden ist, kommt unweigerlich die Langeweile und, schlimmer noch, der Überdruss und die Enttäuschung: Das soll es also gewesen sein, das große Glück, das mir versprochen wurde? Gut und schön, er spült hin und wieder und macht die Wäsche, zumindest so etwas Ähnliches habe ich mir ja eigentlich gewünscht, aber wo bitte ist sein Charisma hin? Heruntergespült mit dem Abwaschwasser und ein paar aufgequollenen Spaghetti?

    Aber Moment einmal. Warum ist hier eigentlich ausschließlich von seinem Charisma die Rede? Weshalb sind alle charismatischen Persönlichkeiten, die bislang genannt worden sind, Männer? Was ist eigentlich mit ihrem Charisma? Hat es sie überhaupt je gegeben, die Charismatikerin? Oder ist die Strahlkraft der Frau von vornherein schwächer aufgrund der ihr angedichteten Häuslichkeit? Kann Charisma im "Reich der Immanenz", wie Simone de Beauvoir einmal die weibliche Sphäre nannte, überhaupt existieren? Der Mann steht auf der Seite der Kultur, die Frau auf der Seite der Natur. Der Mann ist Geist, die Frau Körper. Der Mann überschreitet, transzendiert Grenzen, die Frau hält sie ein: Diese Dichotomien sind unserer Kulturgeschichte seit Tausenden von Jahren eingeschrieben, und sie sitzen uns auch im vermeintlich aufgeklärten 21. Jahrhundert noch tief in den Knochen. Insofern scheint Charisma, was zu deutsch Gnadengabe bedeutet, tatsächlich eher männlich denn weiblich konnotiert zu sein: Wer Charisma besitzt, ist von Gott beschenkt und besitzt dementsprechend eine außergewöhnliche, ja übernatürliche Gabe. Ist es da ein Wunder, dass die so genannten ‚Herren der Schöpfung' als charismatisch bezeichnet werden, während ihre Frauen, die alle Hände voll damit zu tun haben, ihnen den Rücken frei zu halten, allerhöchstens erotische Strahlkraft besitzen? Es ist daher anzunehmen, schreibt die Kulturwissenschaftlerin Ute Bechdolf,

    "dass das Theoriekonzept, das hinter dem Begriff steckt, und zwar sowohl hinter dem klassisch-soziologischen als auch hinter dem Alltagsverständnis von Charisma, an sich problematisch ist. Der Charisma-Begriff scheint in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse kein wertfreier oder neutraler zu sein, sondern trägt dazu bei, die Differenz zwischen den Geschlechtern zu vertiefen bzw. zu reproduzieren, und die bestehenden Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen weiter zu verfestigen."

    Verfestigt werden die Machtverhältnisse mitunter selbst dann, wenn der Begriff Charisma, was zunächst einmal fortschrittlich zu sein scheint, mit Weiblichkeit in Verbindung gebracht wird. Auffällig ist nämlich, dass dieser Begriff, sobald er sich auf Frauen bezieht, gern bis zur Unkenntlichkeit verwässert wird, so dass angebliches Charisma von purer Sexyness kaum mehr unterschieden werden kann. So schreibt der Soziologe Wolfgang Lipp über die Studenten- und Studentinnenproteste der 1960er und 1970er Jahre:

    "[G]ewissen charismatischen "Charme" hatten seinerzeit, 1969, auch jene Studentinnen erzeugt, die Adorno, dem Emanzipationsphilosophen, im Hörsaal ihre nackten Brüste entgegenhielten. "

    Hatten die Frauen ganz einfach Charisma oder doch nur "gewissen charismatischen Charme"? Sind Männer charismatisch und Frauen eher sexy? Während seine Ausstrahlung niemals nur von seinem Körper ausgeht, bezieht sich ihre Ausstrahlung, so scheint es, ausschließlich auf ihren Körper: Sie zeigt ein bisschen nackte Haut, während er die wahre Revolution macht ... Wie aber sähe sie aus, die Charismatikerin? Kann es sie ganz einfach nicht geben? Oder ist womöglich nur noch nicht ihre Zeit gekommen?

    Stellen wir diese Frage vorerst zurück. Denn wir waren vorhin ja eigentlich an jenem Punkt stehen geblieben, an dem die Revolution vorbei ist und der charismatische Held sich im Alltag bewähren muss. Kann seine Strahlkraft sich ohne Krisensituation überhaupt zeigen, geschweige denn aufrechterhalten? Was geschieht, wenn seine Ideale, für die er einst so leidenschaftlich kämpfte, längst Eingang in die politischen Statuten gefunden haben und Normalität geworden sind? Und es also eher darum geht, das wenig erbauliche Tagesgeschäft zu bewältigen, als glühende Reden zu halten und eine glorreiche Zukunft zu beschwören? Sobald der Alltag ihn einholt, wird es, meint Max Weber, für den Charismatiker in der Tat schwer:

    " "Charisma ist typische Anfangserscheinung religiöser (prophetischer) oder politischer (Eroberungs-)Herrschaften, weicht aber den Gewalten des Alltags sobald die Herrschaft gesichert, und, vor allem, sobald sie Massencharakter angenommen hat."

    Sobald der Charismatiker ganz real an der Macht ist, verliert er seine Heilsversprecherfunktion. Er steht nicht mehr als leuchtende Hoffnung jenseits der gesellschaftlichen Ordnung, sondern mitten in ihr, ja, er begründet sie sogar kraft seines Amtes. Die institutionalisierte Macht bedeutet für den Charismatiker in etwa das, was die Ehe als Institution für die Liebe bedeutet: An die Stelle aufbegehrender Leidenschaftlichkeit, die umso feuriger wirkt, je stärker sie sich durchsetzen muss, sind Regeln, Konventionen und Traditionen getreten. Christina Georgieva schreibt:

    "Das Emotionale des genuinen Charismas wird in das Rationale der Institution verwandelt, das Bahnbrechende in das Berechenbare, das Willkürlich-Schöpferische in das Normative. So büßt das institutionalisierte Charisma nicht nur seine ursprüngliche revolutionäre Kraft ein, sondern bewirkt genau das Gegenteil. Es steht dem Alltag nicht mehr feindlich gegenüber."

    Dass auch der "erlösungsreligiöse Virtuose", wie der Soziologe Wolfgang Schluchter es einmal formuliert hat, "für das Morgen sorgen" muss, ist für so manchen Charismatiker nur schwer zu ertragen. Ausgerechnet er, der Auserwählte, soll sich plötzlich mit den Profanitäten des Tagesgeschäfts abgeben! Mit Finanzierungsplänen, mit Diplomatie, mit regierungsinternen Querelen! Bekommt er da die Bewunderung, die er eigentlich verdient hat? Und die er nicht zuletzt auch braucht? In der Tat ist der Charismatiker bei genauerem Hinsehen durchaus nicht so unabhängig von der Anerkennung anderer, wie es zunächst einmal scheint. Was wäre der Charismatiker ohne sein Publikum? Für wen soll er leuchten, für wen soll er strahlen? Existiert Charisma, wenn niemand es wahrnimmt? Und was ist, wenn der Charismatiker im harten Alltagsgeschäft an der einen oder anderen Widerständigkeit scheitert? Was, wenn ihm seine Gefolgschaft die Anerkennung versagt? Verliert er dann nicht seine eigentliche Legitimation? Max Weber schreibt:

    "Über die Geltung des Charisma entscheidet die durch Bewährung - ursprünglich stets: durch Wunder - gesicherte freie, aus Hingabe an Offenbarung, Heldenverehrung, Vertrauen zum Führer geborene, Anerkennung durch die Beherrschten ... Bleibt die Bewährung dauernd aus, zeigt sich der charismatische Begnadete von seinem Gott oder seiner magischen oder Heldenkraft verlassen, bleibt ihm der Erfolg dauernd versagt, vor allem: bringt seine Führung kein Wohlergehen für die Beherrschten, so hat seine charismatische Autorität die Chance, zu schwinden. Dies ist der genuine charismatische Sinn des ‚Gottesgnadentums'."

    Der Charismatiker steht also unter einem ungeheuren Druck: Er muss auch im mühsamen Tagesgeschäft unablässig Wunder bewirken, um sein Image als Heilsversprecher aufrechtzuerhalten. Unter Druck steht er aber auch insofern, als er die Bewunderung seiner Anhänger rein psychisch zu brauchen scheint. Blitzt hinter dem väterlich-souveränen Antlitz des Politikers oder auch Chefs nicht in der Tat hin und wieder ein ungeheurer und gleichermaßen unheimlicher Geltungsdrang auf? Wirft man einen Blick in die Management-Forschung, stellt sich die psychische Konstitution des Charismatikers entsprechend zwiespältig dar. Eine charismatische Persönlichkeit sei ein "oral-narzißtischer Typus", meint etwa Michael Hofmann. Der Charismatiker, so schreibt er in dem von ihm mitherausgegebenen Sammelband zur Funktionalen Managementlehre, verfüge über ein hohes Maß an Selbstliebe und übermäßigen Egoismus. Freiheit zähle zu seinen höchsten Werten, er giere nach Anerkennung und zeichne sich durch Selbstsicherheit, Kreativität, geringe Anpassungsfähigkeit, Entscheidungsfreudigkeit, Realitätsferne und Antisozialität aus.

    Das, so könnte man sagen, verbirgt sich hinter der Maske des Charismatikers: Was uns vordergründig blendet, ist in Wahrheit pathologisch. Da drängt sich sogleich die Frage auf: Wie wird ein Mensch so? Eine Antwort liefert die Psychoanalyse. Der Charismatiker, so die psychoanalytische Erklärung, knüpft in seiner Geltungs- und Bewunderungssucht an das allmächtige Selbstbild des Kindes an. Normalerweise weicht dieses Bild allmählich einer realistischeren Selbst- und Welteinschätzung, denn irgendwann werden die Bedürfnisse des Kindes nicht mehr unmittelbar befriedigt, und es wird auch nicht mehr grenzenlos bewundert für jeden Schritt, den es tut.

    "Wenn allerdings das allmächtige Selbstbild des Kindes entweder zu wenig Echo und Billigung ... erfährt oder ein unrealistisches frühkindliches Selbstbild durch fehlende Adaption an die Realität erhalten bleibt, würde sich daraus ein lebenslängliches Bedürfnis nach Bewunderung und Grandiosität ergeben. Der narzisstisch-charismatische Führer ist dann "ständig auf der Suche nach einem bewundernden Publikum, das sein Bedürfnis nach Grandiosität unterstützt, und bekämpft seine Gefühle der Hilflosigkeit."

    So resümiert der Wirtschaftswissenschaftler Johannes Steyrer die psychoanalytische Forschung in seinem Buch Charisma und Organisation. Hinter der scheinbaren Selbstsicherheit des Charismatikers verbirgt sich also in Wahrheit tiefe Abhängigkeit. Der Charismatiker braucht unentwegt ein begeistertes Publikum, weil er es nicht gelernt hat, sich auch auf andere Weise zu spüren, geschweige denn wertzuschätzen. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht ist, zumindest dem Anschein nach, Barack Obama. So hieß es kurz vor der Präsidentschaftswahl in der Süddeutschen Zeitung:

    "Obama braucht die Massen nicht, nicht einmal ein Gegenüber braucht er, um sich bestätigt zu fühlen - ganz im Gegensatz etwa zu Bill Clinton, mit dem ihn eine kaum verborgene wechselseitige Abneigung verbindet. Im Magazin der New York Times zog ein ungenannter Freund Obamas einen treffenden Vergleich: "Wenn Clinton dich auf der anderen Straßenseite entdeckt, überquert er sofort die Straße, um dir die Hand zu schütteln. Wenn Obama dich sieht, nickt er dir zu und wartet, dass du zu ihm rüberkommst." Obama ist im Innersten ein zurückgezogener Mensch, der nicht viel von sich preisgibt, wahrscheinlich nicht preisgeben muss, weil er in sich ruht."

    Obama, der Ausgeglichene. Aber ist das wirklich wahr? Oder noch nur eine geschickte Inszenierung von vermeintlicher Authentizität? Dass gerade Obama die Medien zu nutzen weiß, ist ja hinlänglich bekannt, und wie ließe sich entscheiden, ob er tatsächlich derart unabhängig oder nicht vielleicht doch eher ein Medienprofi ist, der genau dieses Bild von sich zu vermitteln versteht? Hat also womöglich auch der Charismatiker Obama unbewusst ein infantiles Bedürfnis nach Bewunderung? Wir wissen es nicht. Fest steht nur, dass, wenn man das psychoanalytische Deutungsmuster zugrunde legt, nicht nur die psychische Konstitution des Charismatikers einen pathologischen Kern in sich trägt, sondern auch die seiner Gefolgschaft. Groß ist der Charismatiker ja hauptsächlich - und vielleicht sogar ausschließlich - dank seines Publikums, das ihn idealisiert. Was aber treibt Menschen zu einer solchen Idealisierung? Psychoanalytisch gesehen haben diese Menschen es nicht geschafft, ihr frühkindliches idealisiertes Elternbild allmählich der Realität anzupassen. Auch im Erwachsenenalter fühlen sie sich wie Kinder, die zu anderen aufschauen und Führung brauchen. Ja, sie müssen andere Menschen idealisieren, da sie nur auf diese Weise ihre kindliche Ohnmacht kompensieren können. Indem sie dem idealisierten Anderen nämlich gehorchen und sich ihm unterordnen, haben sie an seiner Allmacht teil: Die Grandiosität des Charismatikers strahlt auf sie zurück, und so können sie sich selbst groß fühlen, indem sie ihn groß erscheinen lassen.

    Es ist im Grunde wie in so mancher Paarbeziehung: A (der Charismatiker) sieht in B (seinem Publikum) nicht einen anderen Menschen mit eigenem Begehren, sondern nur eine perfekte Spiegelfläche. B wiederum sieht in A ebenfalls nicht einen anderen Menschen mit einem eigenen und durchaus fehlbaren Begehren, sondern die personifizierte Unfehlbarkeit, kurz: Gott. Wenn man so will, passen A und B gut zueinander: B versichert A immer wieder dessen Grandiosität, und dafür lässt A B an eben dieser Grandiosität teilhaben. Das Problem ist nur, dass sich diese Dynamik nur schwer dauerhaft aufrechterhalten lässt, denn niemand ist ununterbrochen grandios, vor allem nicht, und damit wären wir wieder bei unserem nach wie vor ungelösten Problem angelangt, im Alltag. Doch so unmöglich die Aufrechterhaltung einer solchen Dynamik auch zu sein scheint: Sie überlebt den Wechsel vom Ausnahmezustand in die Normalität recht häufig, und das nicht nur in persönlichen Beziehungen, sondern auch in der Politik. Wie aber kann das Charisma noch durch die Profanität des Alltags hindurchleuchten? Wie bewahrt der Charismatiker die für ihn kennzeichnende Außeralltäglichkeit im Tagesgeschäft? Max Webers Antwort auf diese Frage lautet:

    "Versachlichung des Charisma, insbesondere Amtscharisma. Der Legitimitätsglaube gilt dann nicht mehr der Person, sondern den erworbenen Qualitäten und der Wirksamkeit der hierurgischen Akte."

    Der Eindruck der Außeralltäglichkeit wird gerade durch die Institution, die diesen Eindruck doch eigentlich zu zerstören scheint, aufrechterhalten beziehungsweise gewährleistet. Max Weber spricht von einer "institutionellen Wendung" des Charisma und nennt verschiedene Techniken, die dafür sorgen, dass der Auserwählte gerade durch sein Amt, das er bekleidet, auserwählt oder gar heilig erscheint.

    "Wichtigstes Beispiel: Das priesterliche Charisma, durch Salbung, Weihe oder Händeauflegung, das königliche, durch Salbung und Krönung übertragen und bestätigt."

    Rituelle Handlungen, so Weber, gewährleisten die Herausgehobenheit des Amtes und damit auch die Herausgehobenheit seines Trägers. Die Qualitäten des Trägers selbst rücken dabei in den Hintergrund, wichtig allein ist die Zeremonie, kraft derer der Amtsinhaber ehrfurchtgebietende Außeralltäglichkeit zugeschrieben bekommt. Auch die öffentliche Vereidigung eines Präsidenten stellt eine solche rituelle Handlung dar, durch die Amtscharisma verliehen und hergestellt wird; und es ist vor diesem Hintergrund durchaus bedeutsam, dass bei der Vereidigung Barack Obamas ein formaler Fehler unterlief. Der oberste Richter der USA, John Roberts, las die Eidesformel falsch vor, so dass Obama, als er die Formel nachsprach, den Fehler zunächst wiederholte und ins Stocken geriet. Nur ein kleiner Patzer seitens des obersten US-Richters? Ein Ausrutscher? Oder, bewusst oder unbewusst, ein Versuch, das Amtscharisma des frisch gewählten Präsidenten zu beschädigen?

    Doch das Amtscharisma verdankt sich nicht nur rituellen Handlungen dieser Art, sondern auch der symbolischen Ausstattung des Amtes. Gegenstände wie Krone, Zepter oder Bischhofsstab erfüllen diese Funktion, aber auch Nationalflaggen, Hymnen, Wappen, Embleme sowie Bauten wie das Weiße Haus, das Bundeskanzleramt oder die Downing Street. Darüber hinaus bedarf es, um das Charisma zu versachlichen, einer angemessenen Amtskleidung: Was wäre ein Richter ohne seine Robe? Und litte das Charisma des Papstes nicht erheblich, wenn er anstatt im Ornat in Jogginghose und Baseballkappe auf dem Petersplatz erschiene?

    Schwer in dieser Hinsicht haben es allerdings Frauen. "Die trägt ja noch nicht mal ne Handtasche!", sagte einmal eine Fernseh-Redakteurin über Bundeskanzlerin Angela Merkel, wie Thea Dorn in ihrem Buch Die neue F-Klasse dokumentiert. Und was wäre, wenn Merkel beim nächsten Staatsbesuch eine Handtasche trüge? Nicht nur würde in der Boulevard-Presse vermutlich darüber spekuliert, welche Toilettenartikel sich in der Tasche verbergen, sondern wahrscheinlich würde ihr gerade das neckische Schlenkern des Täschchens als alberne weibliche Koketterie ausgelegt; ganz ähnlich, wie auch die Wahl ihrer Kostüme immer wieder mediale Aufmerksamkeit erregt. "Der Ausschnitt von Frau Merkel spaltet die Nation", titelte der Stern im April 2008. "Statt langweiliger Hosenanzüge trägt Merkel sexy Dekolletés." Dass das Amtscharisma Merkels ganz offensichtlich nicht dasselbe ist wie das ihrer männlichen Vorgänger, zeigen auch die Schlagzeilen unmittelbar nach ihrer Wahl zur Kanzlerin. "Miss Germany", begrüßte die Bild-Zeitung am 11. Oktober 2005 Merkel in ihrem neuen Amt, und die TAZ titelte: "Es ist ein Mädchen".

    Muss eine Frau, um als charismatisch wahrgenommen zu werden, ihren Körper verhüllen? Muss sie sich wie ein Mann kleiden? Sich wie ein Mann geben? Oder allgemeiner gefragt: Wie könnte ein weibliches Charisma, ein weibliches Amtscharisma aussehen? Vielleicht ja so wie das von Barack Obama? Nein, nicht, weil er in der Tat feminine Hüften, schlanke Hände und feine Gesichtszüge hat. Und auch nicht nur, weil Obama als Schwarzer in der Gesellschaft ähnlich marginalisiert ist oder doch zumindest bis zu seiner Präsidentschaft war wie eine Frau. Weibliches Charisma verkörpert Obama womöglich auch und insbesondere insofern, als er mit den Konventionen des traditionell-männlichen Amtscharismas bricht. Genauer: Sein Charisma zeichnet sich dadurch aus, dass er den beschwerlichen und oft von Rückschlägen geprägten Alltag nicht durch sein Amtscharisma zu vertuschen, zu kompensieren versucht, sondern diesen Alltag vielmehr in sein Amtscharisma integriert. "Ich habe Mist gebaut", sagte Obama zu Beginn seiner Präsidentschaft, nachdem ihm ein schwerwiegender Fehler bei der Postenverteilung unterlaufen war. Mit einer solchen Äußerung stellt er klar, dass von ihm durchaus keine Wunder zu erwarten sind; er ist kein Heilsbringer, sondern jemand, der das Tagesgeschäft bewältigt; jemand der Wäsche wäscht und spült - und dabei durchaus hin und wieder einen Teller fallen lässt.

    Um noch einmal auf die erwähnte Amtskleidung zurückzukommen: Bei seiner Arbeit im Weißen Haus trägt Obama nicht Anzug und Krawatte wie seine Vorgänger, sondern Pullover. Obama, das symbolisiert seine Kleiderwahl, packt die Dinge an, anstatt sich in ein Korsett aus Traditionen stecken zu lassen, er hängt nicht an seinem Schlips, sondern er vertraut ganz auf seinen eigenen Stil - auf seinen eigenen Führungsstil, der im übrigen eher auf Kommunikation denn auf Konfrontation, eher auf den Kompromiss als auf ein rücksichtsloses Durchdrücken der eigenen Interessen setzt. Allein: Ist nicht auch das alles wieder nur eine Inszenierung? Bricht Obama womöglich nur deshalb mit den Konventionen des althergebrachten Amtscharismas, um lediglich den Eindruck von Umbruch und Aufbruch zu vermitteln? Die Zukunft wird zeigen, ob Obama einfach nur ein Verführer ist. Oder aber vielleicht doch die erste Charismatikerin.