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Charlotte Salomon 1917-1943. Bilder eines Lebens

Mischen und einstreuen, auflesen und wiederverwenden, herausbrechen und neu verknüpfen - Vorgehensweisen, die sich bei Charlotte Salomons Anspielungen auf die visuelle Kunst zeigen. Von der mittelalterlichen Buchmalerei, evoziert in Blättern, in denen der Erzählstrom in horizontale Bänder voller winziger Szenen einfließt, hin zum Expressionismus des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, in der entstellten Perspektive vieler Gouachen, legte sie einen langen Weg zurück.

Gisela vpn Wysocki | 16.07.2001
    Der künstlerische Weg Charlotte Salomons, der hier von der in London lebenden Kunstwissenschaftlerin Astrid Schmetterling skizzenhaft beschrieben wird, war lang und kurz zugleich. Kurz, weil die Entstehungszeit des beschriebenen Werks, der großangelegte Entwurf einer jüdischen Familienchronik, nicht länger als zwei Jahre währte. Und lang, weil seine Wurzeln bis zu mittelalterlichen Votivtafeln und zu Michelangelos "Schöpfungsgeschichte" zurückreichen. Lang auch deshalb, weil das monumentale Bildwerk Charlotte Salomons "Leben? oder Theater?" aus vielfältigen Stilmitteln und aus einem System komplexer Bezüge und Anspielungen heraus ein bizarres Konglomerat darstellt: ein genialisches Mixtum Compositum von Text, Zeichnung und Musik. Spielart eines Gesamtkunstwerks, unerschrocken, wie es sich nur unter dem Zeichen äußerster Gefährdung herausbilden konnte.

    Charlotte Salomon wurde als Tochter jüdischer Eltern 1917 in Berlin geboren und im Jahr 1943 in Auschwitz ermordet. Ihr gesamtes Werk entstand in den Jahren 1940 bis 1942, als sie sich, auf der Flucht vor der Gestapo, kurzfristig bei den Großeltern in Südfrankreich in Sicherheit befand. Ein Aufschub, nicht mehr, denn 1943 wurde sie, über Nizza, deportiert. Unter diesen Bedingungen nimmt dieses atemberaubende Werk - Spiel, Singspiel, Große Oper, Melodram? - zwangsläufig die Form eines Vermächtnisses an. Die Scheu vor dem Schicksal der Künstlerin scheint bis heute die Kenntnisnahme ihres Werks geradezu verboten zu haben - trotz mehrerer Ausstellungen in Amsterdam und Berlin, trotz aufwendiger Buchausgaben in Deutschland, England und Holland. Die Filmwissenschaftlerin Gertrud Koch schrieb 1991, Salomons künstlerisches Werk sei vom biographischen Stoff "überde-terminiert": das Leben (und der Tod) der Autorin "konkurriere" mit ihrer Kunst. Dieser unbewusste Akt einer Heiligsprechung liegt als Schatten über den Salomonschen Bilderfindungen. Noch immer haben sie den Charakter der unvermuteten Ausgrabung, des unschätzbaren Fundes.

    Deshalb ist der nun erschienene Essay von Astrid Schmetterling ein wichtiger Schritt, um sich auf der Ebene der kunsthistorischen Recherche, der analytischen Betrachtung aufs neue mit dem Werk Charlotte Salomons zu beschäftigen.

    Ein Werk, das sich nirgends einordnen läßt, weil es zwischen den Genres schwebt, sich in Zwischenräumen bewegt. Ein Werk, das Kunstformen und Stile aus den gewohnten Bezügen herausnimmt, sie verrückt und neu zusammensetzt.

    Charlotte Salomon, die nach einjährigem Studium die "Berliner Staatsschule für Freie und Angewandte Kunst" 1937 verließ, ging mit der brachialen Wucht einer Amateurin an die künstlerische Bearbeitung ihrer Biographie heran. Ihre Darstellungsweise verfängt sich erstaunlicherweise trotzdem nicht im Überschwang der Formlosigkeit. Sie hält sich fern von den Missgriffen eines naiven Gestaltungswillens.

    Das in Aufzüge, Akte und Kapitel gegliederte Werk (Eigentum des "Jüdischen Historischen Museum Amsterdam"), inszeniert mit den Mitteln der fortgeschrittenen Filmtechnik - Rückblende und Montage, Perspektivenwechsel, Nahaufnahmen und Totale - Stationen aus dem Leben der Familie Salomon. Textpartikel, in die Bilder hineinkomponiert, und eine Fülle musikalischer Vorgaben - Gluck, Mozart und Bach, das Lied vom "Jungfernkranz" und von der "kleinen Konditorei" - werden zu wagemutigen, zuweilen schrillen Arrangements verdichtet.

    Astrid Schmetterling spricht zu Recht von einer "fiktionalisierten Autobiographie", von den "Textblättern" eines "dramatisierten Lebens". Sie trifft damit die Entscheidung für den ästhetischen Binnenraum der Bilder; für die "Bildräume", wie sie schreibt. In ihnen geistern die Personen, deren Geschichte hier erzählt wird, wie Pseudonyme umher, eine zuweilen alptraumartige Anatomie verzerrt sie zu Krüppeln, lässt sie madonnenhaft lächeln oder serienweise in soldatenhafter Bewegungslosigkeit strammstehen.

    Ihr Buch, das der Verlag mit 16 farbigen Abbildungen aus Salomons "Leben? oder Theater?" ausstattete, zeichnet den beschleunigten Reifungsprozess der Künstlerin nach. Ohne kontinuierlich gefördert oder beraten worden zu sein, bedient sich die junge Malerin selbstbewußt der Traditionen der Moderne; mit der Umstandslosigkeit einer zur Eile Genötigten.

    Die Tableaus dieses großen Gedächtniswerks stehen im Zeichen einer glühenden Intensität und gehen bis zum grellen, schockhaften Effekt. Die Sehnsucht, sich auf die farbige, ereignisreiche Seite des Lebens zu schlagen ist überall fühlbar und in die Bilder als Leuchtschrift eingegangen. Diese Sehnsucht diktiert ihnen ihre suggestive und herausfordernde Plastizität, ihre Musikalität, den durchkomponierten Aufbau, die Dramaturgie. Die Bilder repräsentieren Bündnispartner. Sie lassen die Dunkelheiten und Risiken des Lebens zur Seite treten: die zahlreichen Selbstmörder der eigenen Familie, die Einsamkeit der Kindheit, das Gefühl, als "Überlebende" auf der Welt nur halb geduldet zu sein.

    Malerisch und wirkungssicher, in großer Eile, wird die episodenreiche Geschichte mit ihren schnell wechselnden Farben und Figuren, mit ihren expressiven Einzelportraits und Menschenmengen zu Papier gebracht:

    "Sie malte die ganze Zeit, immer dabei summend", erinnerte sich die Besitzerin des kleinen Hotels im südfranzösischen St. Jean Cap Ferrat, in das sich Charlotte Salomon zurückgezogen hatte. "Wir fragten uns", so die Hotelbesitzerin, "wann und ob sie wohl aß, wann und ob sie wohl schlief".

    Nach und nach aber, je weiter diese erzählte, "verfilmte" Chronik zeitlich voranschreitet und die Bilder der politisch bedrohlichen Gegenwart Rechnung tragen, das heißt, sich auf die Höhe eines aufgeklärten Zeitgenossentums zubewegen, werden die Ausdrucksmittel einfacher, münden in einer beinahe linearen Nachdrücklichkeit.

    Die Frage, welchen psychischen Quellen Charlotte Salomon ihre Kreativität verdankt, von welchen Energien sie zehrte, welches kulturelle Repertoire es ihr ermöglichte, den Fundus ihres subjektiven Lebens als große Erzählung vorzuführen, kann dieser einführende Essay sicherlich nicht erschöpfend beantworten. Er bildet jedoch eine tragfähige Basis für ein späteres Nachdenken über das Zustandekommen dieses Amalgams aus ästhetischer Stilvielfalt und großstädtischem Lebensgefühl.

    Astrid Schmetterling stellt die jüdische Herkunft der Künstlerin und die Lebensbedingungen ihrer Familie zur Zeit der Weimarer Republik ins Zentrum ihrer Deutungen. Der soziale Erfolg, der vielen jüdischen Mitbürgern hier gelungen war, nährte die Illusionen der Gleichheit. Sie ließen den Preis, der dafür zu entrichten war - der Verrat an eigener Kultur und Religion, an den Ritualen einer familiären Binnenstruktur - gering erscheinen. Charlotte Salomon hatte für dieses Spannungsfeld von Anpassung und Verlust einen unbestechlichen Blick. Ihre Hinweise auf ein Element des Unlösbaren und des Unerlösten in der jüdischen Identität bilden den Bodensatz ihres figurenreichen Erzählstroms.