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Charmante Lügen bei der Suche nach der Wahrheit

Joschi Molnár, Titelheld in Susann Pásztors Roman "Ein fabelhafter Lügner", hatte fünf Kinder mit fünf verschiedenen Frauen. 30 Jahre nach seinem Tod bringt sein 100. Geburtstag die Geschwister zum ersten Mal zusammen. Ganz unterschiedliche Vaterbilder kommen zum Vorschein.

Von Martin Grzimek | 10.12.2010
    "Mein Großvater war ein Geschichtenerzähler, und natürlich ist meine Mutter auch einer geworden. Ich kenn die meisten, auch wenn ich früher oft Orte und Namen und Zeiten durcheinandergebracht habe. Das Komische an diesen Geschichten ist, dass ausgerechnet die, von denen alle behaupten, dass sie wahr sind, so klingen, als hätte sie jemand erfunden, der nichts vom Geschichtenerzählen versteht."

    Mit dieser Bemerkung sind wir, obwohl sie am Anfang des Romans steht, mittendrin im ersten Buch von Susann Pásztor mit dem Titel "Ein fabelhafter Lügner". Der Großvater heißt József Molnár und hat nicht nur Zeit seines Lebens behauptet, ein ungarischer Jude zu sein, sondern auch seit 1943 im Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar inhaftiert gewesen zu sein. Dieser Großvater, Joschi genannt, war offensichtlich ein Tausendsassa, ein Frauenheld und eben ein Geschichtenerzähler. Insgesamt war er mit vier Frauen ver-heiratet und hatte aus diesen Ehen mehrere Kinder. Seine erste Frau und ihre beiden Kin-der kamen in Auschwitz um. Aus den drei nachfolgenden Ehen folgten ein Sohn und zwei Töchter, die sich aber alle erst bei seiner Beerdigung in den 1960er Jahren kennen lernten. Die jüngste dieser Töchter heißt Marika, von der wir gerade hörten, dass sie ebenfalls das Geschichtenerzählen beherrscht.

    Und das alles wird uns in dem Roman von Lily erzählt, der 16jährigen Tochter Marikas. Dies ist die Disposition des Erstlingswerkes von Susann Pásztor, die selbst 57 Jahre alt ist und bisher als Buchillustratorin gearbeitet hat. Sie hat freimütig zugegeben, dass ihr Roman autobiografische Züge hat, eine verwickelte ungarisch-jüdische und im Grunde auch tragische Familiengeschichte, die sie offensichtlich mit großer Heiterkeit aus der Distanz der Jahre versucht hat aufzuschreiben. Den flapsigen Ton, der den Roman durch-zieht, kann sie nur deshalb aufrechterhalten, weil sie ihre eigene Stimme einer Sechzehn-jährigen leiht. Die geht dann schon mal mit den Ohrstöpseln ihres iPods durch die Gedenkstätte Buchenwald und zeigt auf diese Weise, wie sehr für die "dritte Generation" der Nationalsozialismus unter Hitler mit seinen bis heute kaum vorstellbaren Verbrechen zu einer der schrecklichsten Geschichte unter vielen schrecklichen Geschichten der Mensch-heit geworden ist.

    "Ich wusste nicht, ob es unwissend oder sogar respektlos war, auf dem Gelände herumzulaufen und Musik zu hören, aber es würde ohnehin niemand bemerken. Mein Vater hatte mir extra dafür Musik auf meinen iPod geladen. Sie war von Arvo Pärt. Ich wusste nicht, wer oder was Arvo Pärt war, aber mein Vater kannte sich gut mit Musik aus. Das wäre genau das richtige für so einen Anlass, hatte er gesagt."

    Der "Anlass" ist der hundertste Geburtstag des Großvaters Joschi. Deshalb treffen sich die drei Halbgeschwister Anfang Oktober in Weimar, und Lily, die am wenigsten belastet ist von der Geschichte oder auch den Geschichten, die es um den Großvater gibt, beobachtet distanziert und vergnüglich, wie sich die ungleichen Geschwister aus drei verschiedenen Ehen ihres Großvaters über die Ernsthaftigkeit ihrer eigenen Vergangenheit zu verständigen versuchen. Schon bald wird klar, dass keiner so recht weiß, wer dieser Joschi Molnár eigentlich war. Es kommen sogar Zweifel auf, ob er überhaupt in Buchenwald gewesen ist oder sein Judentum nur erfunden hat, um nach dem Krieg eine angemessene Entschädigung zu bekommen. Da er keine Papiere vorweisen konnte, wurde seinen Behauptungen geglaubt, und möglicherweise wurden aus diesen Behauptungen Geschichten eines "fabelhaften Lügners". Mit einem Mal steht die wahre Herkunft der Kinder in Frage. Und Susann Pásztor lässt diese Frage als solche stehen. Was als Komödie begann, soll auch als Komödie enden.

    Auf die Frage, warum sie denn der Figur einer 16jährigen das Wort und das Erzählen dieser Familiengeschichte überlasse, sagt sie, sie habe, um die Geschichte als Tochter ihres Vaters zu beschreiben, einen anderen Blick gebraucht. Dies ist in der Literatur natürlich legi-tim, es geht schließlich um Geschichten, die erzählt werden wollen. Allerdings gibt es Themen - oder es gab sie zumindest - bei denen einem das amüsierte Lachen im Hals stecken bleibt. Dazu gehört sicherlich die Geschichte - und jetzt sind es nicht mehr Geschichten - die Geschichte der systematischen Vernichtung der Juden durch die Nazis.

    Die Darstellung von Familie, Identität und auch Versöhnung - das liege ihr mit ihrem Buch am Herzen, hat Susann Pásztor durchaus glaubwürdig dargelegt. Und als Betroffene, die über ihre Familie offensichtlich nicht genau Bescheid weiß, sondern eben nur Geschichten gehört hat, die sie uns weitergibt, verhält sie sich in ihrem Roman durchaus ambivalent. Doch diese Zwischenstufe zwischen Wahrheit und Tatsächlichkeit, zwischen nicht nachvollziehbarem Leid und unvorstellbarer Grausamkeit gegenüber Menschen, die einen während der Hitlerzeit nicht tolerierten Glauben hatten und praktizierten, übergibt die Autorin der Stimme einer Sechzehnjährigen. Sie staffiert ihre Bemerkungen mit flotten Sprüchen aus, die einen scheinbar authentisch-jugendlichen Ton haben und das Dargestellte selbst nur wieder zu einer Geschichte unter Geschichten machen:

    "Ich gestehe, ich genieße es manchmal, wenn ich sagen kann dass mein Großvater Jude war und im KZ gesessen hat. Wer einen jüdischen Großvater hat, ist automatisch bei den Guten, jedenfalls in meiner Schule. Ich bin nicht so doof, dass ich so etwas in einer Gruppe von Glatzen bekennen würde, aber im normalen Leben bringt es schon was (...) Wer widerspricht schon der Enkelin eines NS-Opfers, wenn sie im Ethikunterricht vor den Gefahren des Rechtsradikalismus warnt?"

    Keine Frage, dass wir, je weiter wir uns von historischen Ereignissen entfernen, umso gelassener damit umgehen. Wer denkt noch an die Leiden der dort malträtierten Menschen, wenn er als Tourist das Kolosseum in Rom betritt. Geschichte wird dann zum Vergnügungspotenzial, zu Geschichtchen. Susann Pásztor hat das mit ihrem ersten Roman erfolgreich vorgeführt. Er ist gut und beschwingt geschrieben. Wenn man ihn aber gelesen hat, fragt man sich: Was ist geblieben? Eine Komödie zur Bewältigung einer Tragödie? Geht das? Wenn man Geschichten erzählt, natürlich. Misst man Geschichten an der Geschichte, vor allem an einer solchen der Vernichtung von Millionen von Menschen, geht es möglicherweise nicht. Schicksal, was auch immer das sei, in Unterhaltung aufzuheben, ist beinahe eine Grundsubstanz der Literatur. Wenn aber hinter diesem so genannten Schicksal planmäßiger Mord steht, hört jeglicher Spaß auf. Daran ist Susann Pásztor mit ihrem überall gefeierten, weil lustig und als amüsant empfundenen Roman über einen Fabelhaften Lügner an eine Grenze gestoßen. Man kann aus der Geschichte Geschichten machen, aber noch nie hat es jemand geschafft, aus Geschichten Geschichte zu machen.

    Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner. Roman. Kiepenheuer & Witsch 2010. 207