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Chemie im Dienste Hitlers

Für die Kriegsmaschinerie der Nazis produzierte der Chemiekonzern IG Farben synthetisches Benzin und synthetischen Kautschuk – unter anderem in Auschwitz. Zwangsläufig fand sich die Konzernführung nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Anklagebänken in Nürnberg wieder.

Von Grit Eggerichs | 30.05.2011
    27. August 1947. Originalton Wochenschau:

    "Im Gerichtssaal des Nürnberger Justizpalastes läuft der Prozess gegen 24 Direktoren des IG-Farben-Konzerns. Die Anklage lautet unter anderem auf Teilnahme an der Vorbereitung von Angriffskriegen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit durch Versklavung ausländischer Arbeiter. Der riesige IG Farben-Konzern war das Rückgrat der Hitlerschen Kriegsmaschine."

    Die meisten Prozessbesucher sind Amerikaner, Briten und Franzosen.

    "Draußen auf den Straßen von Nürnberg und auch sonst überall in Deutschland waren die Menschen mehr daran interessiert, Schutt wegzuräumen, Nahrung aufzutreiben und vermisste Verwandte wiederzufinden als einen Prozess zu verfolgen, der dazu diente, die in ihrem Namen begangenen Verbrechen anzuprangern."

    Der britische Journalist und Fernsehproduzent Diarmuid Jeffreys beweist in seinem Buch über die Geschichte der IG Farben viel soziologische Fantasie für das deutsche Volk in der Nachkriegszeit und die Motive deutscher Chemiemanager. Für seine Darstellung wählt er einen Stilmix aus Reportage, Hintergrundbericht und Überblicksliteratur. Er beginnt bei der zufälligen Entdeckung des ersten synthetischen Farbstoffs Mitte des 19. Jahrhunderts – und beschreibt fast bewundernd den Forscherdrang und Unternehmergeist, mit dem deutsche Chemiker unter anderem die britische Industrie technologisch überholten.

    In den folgenden Jahren folgte den Farbstoffen und Medikamenten ein ganzes Füllhorn weiterer Produkte der deutschen Chemieindustrie: Seifen, Detergenzien, fotografisches Material, Druckfarben, Düngemittel, Glasuren, Sprengstoffe, chemische Prozesse für die Eisen- und Stahlherstellung und noch viel, viel mehr. Deutschland entwickelte sich zum Entsetzen seiner Konkurrenten zu einer wirtschaftlichen und industriellen Großmacht.

    Die deutschen Chemiker von Bayer, BASF, Hoechst und Agfa setzten bei der Entwicklung neuer Produkte auf teure Forschung. Mit Erfolg: Fritz Haber und Carl Bosch entwickelten gemeinsam eine Methode zur industriellen Erzeugung von Ammoniak – und damit von Kunstdünger. Ein ziviles Produkt, das eins der größten Probleme der Zeit löste – und gleichzeitig dazu verwendet werden konnte, Nitrate für die Granaten des Ersten Weltkriegs zu produzieren.

    Die Farbstoffhersteller, die nur eine Generation zuvor noch so stolz auf ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit, ihren wissenschaftlichen Fortschritt und ihre aggressiven Geschäftspraktiken gewesen waren, hatten sich zu gewaltigen Konzernen entwickelt, die fest an der Nabelschnur des deutschen politischen und militärischen Establishments hingen und immer abhängiger von den Krediten und Aufträgen der Regierungen wurden.

    Im Ersten Weltkrieg erprobten Staat und Unternehmer eine Art Planwirtschaft, die nach 1933 neu belebt wurde. Vom Versailler Vertrag erholte sich die chemische Industrie schnell. Selbst die Inflation war praktisch – für das Exportgeschäft. Die Manager wollten aber mehr. Sie wollten ihre Weltgeltung zurück. Und schlossen sich deshalb 1925 zur Interessengemeinschaft Farben, kurz IG Farben, zusammen. Ein global agierender Konzern mit einem Namen, der damals in der Welt so bekannt war wie heute Microsoft, schreibt Jeffreys.

    Inzwischen konnte das Unternehmen Benzin und Gummi künstlich herstellen. Aber für keins der beiden Produkte gab es einen Markt. Erst Adolf Hitlers fixe Idee von der Autarkie Deutschlands machte sie für die IG Farben rentabel. Die Nationalsozialisten verlangten aber ihren Preis, wie sie ausgewählten deutschen Industriellen bei einer Besprechung kurz vor der Reichtagswahl 1933 unverhohlen klarmachten.

    Hitler und Göring verließen den Raum und ließen flüsternde Geschäftsleute zurück. Da erhob sich der NSDAP-Finanzexperte Hjalmar Schacht und führte den letzten Schlag: Und nun, meine Herren, an die Kasse!

    IG-Farben-Vorstandsvorsitzender Carl Bosch war kein Freund der Nationalsozialisten – dennoch zahlte er, zunächst 400.000 Reichsmark. Bis Jahresende insgesamt 4,5 Millionen. Im Gegenzug erhielt er Absatzgarantien für seinen überteuren synthetischen Treibstoff aus Leuna. Die Machtverteilung bei dieser gegenseitigen Abhängigkeit war zunächst unklar. Anfangs machten sich die IG-Farben-Manager noch Sorgen um die schlechte Presse im Ausland. Sie engagierten 1934 sogar einen amerikanischen PR-Berater, der Hitler riet, den Boykott gegen Juden aufzugeben – aus Imagegründen. Vier Jahre später waren alle jüdischen Mitarbeiter aus IG-Vorstand und -Aufsichtsrat entlassen und im besten Fall ins Ausland entkommen. Die IG Farben hatte sich aufs Engste mit dem Deutschen NS-Staat verbunden und war zu Kriegsbeginn einer seiner wichtigsten deutschen Rüstungslieferanten.

    In den frühen Morgenstunden des 1. September 1939 flogen die ersten Sturzkampfbomber nach Osten. Sie flogen hoch über Lastwägen und Halbkettenfahrzeugen, deren Reifen aus synthetischem Gummi der IG bestanden, und über Artillerieeinheiten, die Granaten mit Sprengstoff der IG verschossen. Andere Armeen mochten noch von chilenischen Nitraten, asiatischem Naturkautschuk und angloamerikanischem Öl anhängig sein. Doch der Blitzkrieg, den die Deutschen nun entfesselten, lebte von den Chemikalien der IG.

    Und das war nicht alles: Aus eigenem Ehrgeiz und unter dem totalitären Druck des Staates machte sich die IG Farben zu einem entscheidenden Mittäter beim industriellen Massenmord an den europäischen Juden. Die IG-Tochter Degesch, die "Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung", stellte Zyklon B für die Gaskammern her. IG Farben-Manager Otto Ambros, ein Schulfreund von Heinrich Himmler, ließ zehntausende KZ-Häftlinge unter grausamsten Bedingungen auf der Buna-Baustelle in Auschwitz arbeiten.

    Diarmuid Jeffreys lässt diese grauenvollen Fakten für sich sprechen – und überlässt eine moralische Bewertung dem Leser. Anfang 1945 ahnen die Chefs in ihren Chemiewerken, dass sie nach einem verlorenen Krieg für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden könnten – und ziehen sich dezent zurück. Otto Ambros zum Beispiel wird von amerikanischen GIs in einem kleinen chemischen Werk in Bayern aufgespürt. Zuvorkommend und gut gekleidet führt er die Gäste herum.

    Zum Schluss der Besichtigungstour bot er den Soldaten Putzmittel für ihre Fahrzeuge an.

    So einfach kam Ambros nicht davon. Aber fast. Mit 23 anderen Managern der IG musste er sich 1947/48 in Nürnberg vor dem amerikanischen Militärgericht verantworten. Die höchste verhängte Strafe lag bei acht Jahren Freiheitsentzug. Doch alle verurteilten Manager waren schon 1951 wieder auf freiem Fuß – "gute Führung" war die offizielle Begründung. Ihren Karrieren in den Aufsichtsräten und Vorständen der Chemieindustrie der Bundesrepublik widmet Jeffreys einen Epilog.

    "Weltkonzern und Kriegskartell" ist ein sehr britisches Buch. Geschichte wird hier zur anekdotenreichen Story – in der Historiker manchen exakten Quellenverweis vermissen mögen. Wenn man von der sperrigen, uninspirierten Übersetzung absieht, dann lohnt die Lektüre. Am besten im englischen Original.

    Diarmuid Jeffreys: "Weltkonzern und Kriegskartell – Das zerstörerische Werk der IG Farben". Karl Blessing Verlag, 688 Seiten, 34,95 Euro.