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Chemie- und Pharmaindustrie
Dicke Luft vor Tarifverhandlungen

Für die mehr als eine halbe Million Beschäftigten der Chemie- und Pharmaindustrie haben die Tarifverhandlungen begonnen. Es geht nicht nur um mehr Geld, sondern auch um andere tarifliche Neuerungen. Die Arbeitgeber bestehen auf eine Nullrunde und verweisen auf die schlechte Wirtschaftslage der Branche.

Von Alexander Budde | 21.10.2019
Schornsteine an der Shell Rheinland Raffinerie in Godorf. Köln, 06.05.2019 *** Chimneys at the Shell Rheinland refinery in Godorf Cologne 06 05 2019 Foto:xC.xHardtx/xFuturexImage
In der Chemie- und Pharmaindustrie sind in Deutschland 580.000 Menschen beschäftigt ( imago | Future Image)
Eine konkrete Prozentzahl nennt die IG BCE nicht – aber sie fordert eine "spürbare und reale Lohnsteigerung". Zudem soll es künftig ein persönliches "Zukunftskonto" in Höhe von jährlich 1.000 Euro geben. Alle Beschäftigten, einschließlich der Auszubildenden, sollen darüber verfügen können.
Die Belegschaft soll die freie Wahl haben, ob sie sich den Betrag direkt auszahlen lässt oder in zusätzliche freie Tage umwandelt. Denkbar wäre demnach auch, das Geld für die Altersvorsorge einzusetzen. Keineswegs überzogen sei der Forderungskatalog, betont IG BCE- Verhandlungsführer Ralf Sikorski - von einer Krise könne nämlich keine Rede sein:
"Ich bin echt enttäuscht von dem, was in den Regionalrunden gelaufen ist. Ja, wir haben Produktivitätsrückgang, keine Frage – aber wir haben jetzt acht Jahre lang hintereinander "all time high" gehabt. Das Niveau, das jetzt zurückgeht, ist auf einem ganz anderen Level, als es zu der Zeit vor zehn Jahren gewesen ist."
Forderung nach tariflichen Pflegezusatzversicherung
Enttäuscht zeigt sich Sikorski auch vom bisher nur mäßigen Interesse des Arbeitgeberlagers an den tariflichen Innovationen, die als Gesprächsgrundlage schon länger auf dem Tisch liegen. Die Gewerkschaft fordert, die bundesweit erste tarifliche Pflegezusatzversicherung einzurichten. Die Versicherung soll der Arbeitgeber finanzieren - und so die Finanzierungslücke zur gesetzlichen Vorsorge schließen. Vorbild ist ein Pilotmodell, das die IG BCE mit Henkel vereinbart hat. Dadurch sammelt sich zwar etwas weniger Betriebsrente an, im Pflegefall kommt die Umschichtung die Beschäftigten dennoch günstiger, weil ihr Rentenvermögen unangetastet bleibt. Ralf Sikorsky:
"Wir wollen hier auch Benchmark setzen für die Zukunft, um ein gesellschaftliches Problem aufzugreifen und zumindest Entlastung in der tariflichen Gestaltungskraft zu organisieren."
Fast die Hälfte der Beschäftigten in der chemisch-pharmazeutischen Industrie klagt über höhere Arbeitsbelastung in Folge der Digitalisierung: Die Gewerkschaft will in der Tarifrunde deshalb auch eine Qualifizierungs-Offensive auf Branchenebene durchsetzen.
Industrie besteht auf Nullrunde
Die Chemie-Arbeitgeber sehen unterm Strich keinen Spielraum für die geballten Forderungen – und verweisen auf die schwierige konjunkturelle Lage. Georg Müller:
"Wenn man sich die Zahlen, Daten und Fakten anschaut, dann sieht man, dass die wirtschaftliche Situation in der Chemie so schlecht ist, wie seit zehn Jahren nicht mehr. Produktion, Produktivität, Umsatz haben sich massiv seit Quartal dem vierten Quartal 2018 verschlechtert."
Beschäftigte in zahlreichen Zulieferbetrieben seien nämlich direkt von der Krise der Automobilindustrie betroffen, sagt Verhandlungsführer Georg Müller vom Branchenverband BAVC. Vielerorts drohe bereits Kurzarbeit und durch die Umstellung auf Elektroautos würden den an heimischen Standorten absehbar auch Arbeitsplätze in der Chemie verloren gehen. Die Chemiebranche stünde insgesamt vor einem tiefgreifenden Strukturwandel, sagt Müller:
"Es ist nicht nur das Thema Klimaschutz, es ist nicht nur das Thema Digitalisierung, es ist nicht nur das Thema Elektromobilität, nicht nur das Thema Kreislaufwirtschaft – aber alle diese Themen insgesamt fordern von der Chemie ein immenses Investitionsvolumen. Und hier haben alle etwas davon, denn am Ende macht es Standorte zukunftssicher – aber es kostet Geld!"
Kampfgeist ist vorhanden
Auf die Frage hin, wie konfliktträchtig die Runde ist, bleibt Ralf Sikorski gelassen "Wir sind immer davon getrieben gewesen in der Chemie-Industrie, konsensuale Lösungen zu entwickeln – die häufig nicht eine Frage von Lautstärke sind, sondern eine Frage von Intelligenz."
Der IG BCE-Verhandlungsführer warnt die Arbeitgeber allerdings davor, den Kampfgeist der rund 580.000 Chemie-Beschäftigten zu unterschätzen. Die Verhandlungen in Hannover sind zunächst für zwei Tage angesetzt.