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"Cherchez la femme" auf algerisch

"Das Sexleben eines Islamisten" ist nicht nur ein satirischer Beitrag zur Islamkritik, sondern ein bitter-komisches Bravourstück, in dem eine Reflexion über Identität und Fremdheit mit feministischer Analyse zusammenfindet.

Von Dorothea Dieckmann | 11.10.2010
    Das Sexualleben eines Islamisten – welch ein Thema! Es klingt nach einem gefundenen Fressen für jeden, der sich insgeheim nach denunziatorischen Gemeinplätzen über die Nöte frustrierter Rechtgläubiger sehnt, die – in den Worten des neuen Skandalautors Thilo Sarrazin – mit der "Produktion kleiner Kopftuchmädchen" beschäftigt sind. Und wenn der Titel des neuen Buches von Leila Marouane, "La vie sexuelle d'un islamiste a Paris", auf Deutsch auch noch zum "Sexleben eines Islamisten in Paris" verkürzt wird, dann erwartet man vollends ein schlüpfriges Pamphlet. Am Beginn des von Marlene Frucht übersetzten Romans werden diese Erwartungen denn auch bestätigt. Der Protagonist, ein 40-jähriger arabischer Banker, der immer noch bei seiner Mutter in einer armseligen Pariser Vorstadt lebt, gerät beim Besichtigen einer City-Luxuswohnung in Gegenwart der Maklerin in Nöte.

    "Alles aus rosa Marmor", sagte sie und strich über den Kamin ... Als sie mir nachdrücklich empfahl, gleich im September den Schornstein durchfegen zu lassen, begann ich, mir Szenen meines zukünftigen Lebens auszumalen. Nackt wie am Tag meiner Geburt würde ich auf einem weichen Teppich liegen und mich am Feuer im Kamin laben und an der Quelle der Vagina einer Blondine, einer Brünetten oder eine Rothaarigen, und, warum nicht, bei allen drei gleichzeitig ... Bei der Vorstellung fingen meine Schenkel an zu zittern, so als streiften tausend Schmetterlinge mit ihren bepuderten Flügeln darüber hinweg, und ich wurde hart. Wie ein Fels.
    Im nächsten Augenblick wurden meine Ohren ganz heiß, ich fühlte mich ertappt. Heimlich schloß ich den dritten Knopf meines Jacketts und bewegte mich nicht mehr vom Fleck. Erst als mein Blick die blauen Augen meiner Führerin wiedertraf, entspannte sich alles wieder.

    Um an die Wohnung zu kommen, hat Mohamed Ben Mokhtar sich einen französischen Namen zugelegt. Bisher hat er als ältester Sohn algerischer Immigranten in den Traditionen seiner muslimischen Familie gelebt. Doch die Scham, nicht dazuzugehören, verfolgt ihn, und mit ihr der Wunsch, in der "Masse der Weißen" aufzugehen. Seine Schöpferin Leila Marouane weiß, wovon sie schreibt. Die 1960 als Leila Mechentel geborene Algerierin, die 1989 wegen ihrer kritischen Artikel von einem Rollkommando fast totgeschlagen wurde, ging wenig später ins Pariser Exil; heute nennt sie sich eine "Französin ohne Identität". Ihre früheren Bücher, von denen drei ins Deutsche übersetzt wurden, thematisieren die traumatische Zerrissenheit weiblicher Hauptfiguren zwischen Tradition, Emanzipation und Diskriminierung. Erst kürzlich hat sich die Autorin vehement für das Burkaverbot in Frankreich ausgesprochen. In ihrem literarischen Einsatz für die Frauenrechte hat sie weder arabische noch westliche Männer vor Kritik verschont. Umso spannender ist nun der Rollenwechsel. Natürlich bekommt der Mann auch in der Ich-Perspektive sein Fett weg.

    Ich würde bestimmt verhungern, denn bisher war ich nie nur in die Nähe eines Gasherdes gekommen. Ich würde im Staub verschimmeln, denn ich hatte keine Ahnung, auf welche Taste man drücken musste, um einen Staubsauger einzuschalten. ... Und wer würde meine Hemden und Hosen bügeln? Wer würde meine Socken stopfen?
    Bisher war für solche Dienste die so aufopfernde wie dominante Mutter mit ihrer unerträglichen Affenliebe zu ihrem Kronsohn und Augenstern zuständig. Zum Glück findet Mohamed in Madame Lisa, der Concierge, eine Putzfrau. Seine größte Sorge aber gilt der Aufgabe, seine Jungfräulichkeit zu verlieren, natürlich an eine körperlich und geistig freizügige weiße Frau. Doch bei seiner ersten Exkursion ins Bohèmeviertel Saint-Germain-des-Prés gerät er im Café Flore an eine andere mit einem Buch vor der Nase:

    Eine Araberin, dachte ich, wahrscheinlich eine etwas rebellische Algerierin. Nur die rebellischen Algerierinnen haben Freude an Büchern mit derart düsteren Covern ... Als Student waren mir öfter Mädchen wie sie begegnet, verwöhnte Töchter reicher Eltern, stolz und unnahbar, die zum Studieren nach Paris kamen und das ausnutzten, um zu feiern. Weil sie für meine damaligen religiösen Überzeugungen schädlich waren, war ich ihnen aus dem Weg gegangen, hatte ... Gebete gesprochen, in denen ich diese satanischen Geschöpfe in die Hölle wünschte ... Dafür würden mir, dem Gläubigen, eines Tages die von Allah versprochenen siebzig Huris zuteil werden. Doch da diese Zeit längst vergangen und mein Glaube unwiederbringlich verloren war, kam ein Mädchen wie dieses mir gerade recht, um mir ein paar Abende ... zu versüßen.
    Die Lesende heißt Hadda, ist tatsächlich Algerierin und ganz und gar nicht das naive Betthäschen, das sich Mohamed wünscht. Sie bedrängt ihn mit quälenden Geschichten von ihrer Emigration, für die sie sich bei den Verantwortlichen prostituieren musste, und deren psychischen Folgen. Vor allem verwirrt Hadda ihn mit den Erzählungen von ihrer Freundin Loubna Minbar, Autorin des Buches, das sie liest, von deren bisherigen Werken, in denen reale Personen verfremdet aufträten, und ihren Feinden, darunter ein algerischer Kriminalschriftsteller, der seine Leser mit einem weiblichen Pseudonym zum Narren gehalten habe ... Im Gegensatz zu Mohamed findet man aus der Verwirrung heraus, wenn man die Doppelbödigkeit erkennt: Loubna Minbar ist, die Initialen verraten es, eine Chiffre für die Autorin Leila Marouane selbst; ihre eigenen Bücher sind es, die unter verändertem Titel aufgeführt werden, und der Krimiautor mit dem Frauennamen muss Yasmina Khadra sein. Der Leser sollte es also als Lektürehinweis verstehen, wenn Hadda Mohamed genau in der Mitte des Romans warnt:

    Auf jeden Fall ... verliert jeder, der sich mit dieser Frau einläßt, dieser Diebin fremden Lebens, den Verstand. Es reicht schon, nur ihre Bücher zu lesen, schon verliert man komplett die Orientierung.
    Doch zunächst scheint alles seinen geordneten satirischen Gang zu gehen. Ein seltsamer Magnetismus lässt Mohamed immer wieder auf seinesgleichen treffen. Die zweite Araberin ist Studentin, die dritte Malerin, die vierte eine rothaarige Anwältin. Keine ist bereit, ihn zu entjungfern, obwohl sie ihn immer näher an sich heranlassen, ja die Malerin behält sogar seine Boxershorts als Trophäe. Währenddessen verzehrt sich die Mutter nach ihrem flüchtigen Sohn. Ihre Anrufe reißen ihn jedes Wochenende aus seinem alkoholschweren Schlaf:

    Wir treffen uns, um das Fasten zu brechen. Hast du etwa den Ramadan vergessen? ... Dein Schwager, Ali, Gott möge ihn beschützen, hat schon angefangen, unsere Reise nach Mekka zu organisieren. Die Moschee von Paris hat ein sehr gutes Pauschalangebot. Ein ganzer Monat, Essen, Unterkunft, Transport. Eine Woche in Medina, drei in Mekka, mein Sohn ...
    Jedesmal verschläft Mohamed den versprochenen Besuch. Endlich sucht ihn die Mutter auf, um ihn mittels eines islamischen Zauberritus von seinem gottlosen Lebenswandel zu befreien. Mit einem Mal will Mohamed wieder ein guter Moslem werden und die ihm von der Mutter zugedachte Frau heiraten. Zur Feier seiner Bekehrung lädt er die Familie zum Essen in sein neues Domizil.

    In diesem letzten, "Festmahl eines Verrückten" betitelten Kapitel verwandelt sich die Erzählung zusehends in die Handlung eines Buches jener geheimnisvollen Loubna Minbar, der gefährlichen Autorin und Lebensdiebin. Tarnt sich diese nicht in Wahrheit in Madame Lisa, der Concierge? Wieso liegt ein Manuskript ihres letzten Romans in der verwahrlosten Luxuswohnung voller Müll und leerer Whiskyflaschen? Ist etwa Mohamed selbst dessen titelgebende Hauptfigur, der groteske "Sultan von St. Germain"?

    Nein, "Das Sexleben eines Islamisten" ist nicht nur ein satirischer Beitrag zur Islamkritik, sondern ein bitter-komisches Bravourstück, in dem eine Reflexion über Identität und Fremdheit mit feministischer Analyse zusammenfindet. Wer, wie Mohamed mit seinem naiven cherchez la femme, ein schlichtes Unterhaltungsbuch erwartet, findet sich am Ende in einem raffinierten postmodernen Spiegelkabinett wieder:

    "Gott hat euch ein Gesicht gegeben, und ihr macht euch ein anderes", deklamierte mein Bruder und legte die Hand auf meine. – "Steht das im Koran?", schreckte ich auf. – "Es hätte dort stehen können. Aber es ist aus Hamlet. Das sagt er zu Ophelia", antwortete mein Bruder, als das Auto ... die Dunkelheit von Paris durchschnitt.

    Leila Marouane: "Das Sexleben eines Islamisten in Paris". Nautilus 2010, 217 S.