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China
Das Christentum als Forschungsgegenstand

Die Kulturrevolution in China verdammte die christliche Religion als Instrument der westlichen Kolonialmächte. Nun verstärkt sich an Forschungszentren in Hongkong und Peking das Interesse am Christentum. Deutsche Theologen erhoffen sich Impulse durch die chinesischen Forschungsansätze.

Von Corinna Mühlstedt | 17.03.2014
    Hongkong, die Sonderverwaltungszone der Volksrepublik China, ist ein Ort, an dem es zu einem intensiven Austausch zwischen der chinesischen und westlichen Kultur kommt. Ein Beispiel dafür ist auch das "Institut for Sino-Christian Studies", an dem chinesische Studenten aus allen Teilen des Landes die zweitausendjährige Geschichte des Christentums erforschen.
    "Ich komme aus einer atheistischen Familie und bin ohne Religion aufgewachsen", erklärt der junge Chinese Zhang. "Mit dem Christentum kam ich erstmals während meines Philosophie-Studiums in Kontakt. Einige meiner Mit-Studenten waren Christen. Schließlich begann ich, christlich-theologische Schriften zu lesen."
    Zhang ist kein Einzelfall, sondern steht für eine große Gruppe aufgeklärter, chinesischer Intellektueller, die neu nach geistiger Orientierung sucht. Hatte das kommunistische Regime doch während der Kulturrevolution in den 60er Jahren versucht, China gewaltsam in einen atheistischen Staat zu verwandeln. Inzwischen ist die Religionsausübung wieder offiziell erlaubt, doch die Jahrzehnte der atheistischen Erziehung haben ein spirituelles Vakuum hinterlassen. Genau hier setze die Arbeit des Instituts for Sino-Christian Studies an, erklärt Direktor Daniel Yeung.
    Positive Einstellung zum Christentum
    "Die meisten Studenten und Gelehrten, die zu uns kommen, sind keine Christen, aber sie haben eine positive Einstellung zum Christentum. Das ist das Entscheidende. Die Marxisten haben Religion immer nur negativ beurteilt. Sie sagten, Religionen seien Opium für das Volk und die Christen überdies politische Instrumente der Kolonialmächte. Viele Chinesen sahen deshalb im Christentum früher ein westliches Kulturgut, das mit der asiatischen Tradition unvereinbar war. Aber unsere heutigen Studenten haben eine andere Einstellung zum Westen. Sie fürchten seinen Einfluss nicht mehr, sondern wollen beide Kulturen verstehen, um für sich selbst Orientierung zu gewinnen."
    Die Jugendlichen stellen dabei mutige und kritische Fragen: Sie wollen wissen, ob eine Religion den Menschen nützt? Wie sich westliche und östliche Philosophien unterscheiden? Ob eine religiöse Lehre zu einem modernen Weltbild passt? Und welche Lösungen sie für persönliche Probleme anbietet?
    Daniel Yeung: "Derzeit wird in unserer Arbeit das 'Empirische' immer wichtiger, also der Versuch, die Auswirkungen einer Religion auf einzelne Menschen oder die Gesellschaft objektiv zu überprüfen. Unsere Studenten bemühen sich, wissenschaftliche Belege für ihre Thesen zu finden."
    Die Forschungen des Hongkonger Instituts treffen offenbar den Nerv der Zeit. Die Zahl ihrer Anhänger wächst rasch. Um mehr über die 2.000-jährige Tradition des Christentums zu erfahren, haben Daniel Yeung und seine Mitarbeiter weit über 100 theologische Bücher aus abendländischen Sprachen ins Chinesische übersetzt. Zu ihnen gehört Literatur aus allen Epochen, Ländern und Konfessionen.
    Unter den Übersetzungen sind auch mehrere Veröffentlichungen des evangelischen Theologen Jürgen Moltmann, der 1964 durch seine Schrift "Theologie der Hoffnung" international bekannt wurde. Der Tübinger Systematiker reiste schon in den 1980er Jahren regelmäßig zu Vorträgen nach China und fördert seither den Austausch mit den dortigen Theologen:
    "Wir müssten mehr chinesische Studien in Deutschland haben, auch in der Theologie. Durch die Medien kommen nur die Dissidenten zum Vorschein, aber was eigentlich in China intellektuell los ist, ist hierzulande nahezu unbekannt. Im Letzten habe ich den Eindruck: Sie wissen alles über uns, aber wir wissen nichts über sie. Weil sie unsere Schriften übersetzen und auch an den Diskussionen der Theologie in Deutschland über Säkularisierung oder politische Theologie teilnehmen. Aber wir sind bei ihnen nicht präsent."
    Die Suche nach dem zeitgemäßen Christentum
    Dies sei um so bedauerlicher, so Jürgen Moltmann, als das Problem der Säkularisierung keineswegs nur Chinas Theologen vor große Herausforderungen stelle. Auch in Deutschland gelte es, das christliche Gedankengut neu und zeitgemäß zu vermitteln. Zeige die Zahl der Kirchenaustritte doch deutlich, wie weit sich viele Menschen vom Christentum entfernt hätten. "Bei uns gibt es die neuen Atheisten und es gibt die breite Bevölkerung, die den Glauben verloren hat und ihn nicht einmal mehr vermisst."
    Interesse und Neugier bestimmen auch die Arbeit am "Institut für Weltreligionen" in Peking. Hier erforschen chinesische Wissenschaftler die Weltreligionen Buddhismus, Christentum, Judentum, Hinduismus und Islam, aber auch typisch asiatische Strömungen wie dem Konfuzianismus und verschiedene Volksreligionen. Langjähriger Direktor des "Zentrums für christliche Forschung" ist am Institut Prof. Zhou Xingping:
    "Früher verstand man unter 'Theologie' nur die sogenannte 'kirchliche' oder 'konfessionelle' Theologie. Sie war einst für die Entwicklung der Kirchen notwendig. Aber heute brauchen wir ein neues Verständnis von Theologie. In seinem Mittelpunkt sollten nicht Kirchenlehren stehen, sondern die Liebe. Wir müssen dabei in der Religion Theorie und Praxis stärker zusammen sehen. Eine Theologie sollte immer überlegen, was sie Positives zur aktuellen Lage einer modernen Gesellschaft beitragen kann. Nur so kann sie heutige Menschen erreichen."
    Die Forschungen des Pekinger Instituts sind von den Sino-Christian Studies beeinflusst. Die führten aber noch einen ganzen Schritt weiter, erläutert Zhou Xingping: "Die Theologie, die wir derzeit hier in Peking entwickeln, versucht zum Beispiel Gott als das 'Absolute' so zu verstehen, dass dieses Absolute nicht nur für Christen gilt, sondern für Menschen ganz unterschiedlicher Traditionen. Eine solche Theologie geht weit über das traditionelle kirchliche Denken hinaus. Sie ist offen für Elemente aus verschiedenen Religionen und sogar für Impulse aus den Natur- und Geisteswissenschaften. Das ist völlig neu."
    Dass diese Theologie auch ökumenisch sei, verstehe sich von selbst: Sollte doch jede überzeugende Theologie wichtige Gedanken aus allen christlichen Konfessionen aufnehmen, so die chinesischen Forscher.
    Deutsches Interesse an chinesischer Forschung
    Ihr Mut, traditionelle Grenzen zu überschreiten, beeindruckt auch eine jüngere Generation deutscher Wissenschaftler. Zu ihnen gehört der Sinologe und lutherische Theologe Christian Meyer:
    "Die Sino-Christian-Theologie geht über das Luthertum hinaus, ist auch interessiert an der katholischen Seite. Wenn da etwas Interessantes ist, dann wird das auch aufgenommen und sehr positiv gesehen. Es geht sogar bis hinein in den orthodoxen Bereich. Auch dort wird ganz bewusst noch ein Dialog gepflegt, weil man da noch mal andere Quellen des Christentums sieht und andere Schätze, die man auch mit heben will."
    Der Experte für "Interkulturelle Theologie" unterrichtet derzeit in Erlangen am Lehrstuhl für Religions- und Missions-Wissenschaften. Regelmäßige Studienaufenthalte in Hongkong und am chinesischen Festland ließen Christian Meyer mit vielen Vertretern der Sino-Christian-Studies ins Gespräch kommen. Das breite Spektrum an Interessen, das diese Leute zusammenführe, habe ihn stets fasziniert, so der Theologe:
    "Diese Forscher für sich spüren, dass sie davon etwas lernen können. Für viele könnte dann Christentum in einer modernen, vielleicht auch eher liberalen, offenen Version ein interessantes Angebot sein."
    So wachse in China derzeit die Zahl der Wissenschaftler, die die kulturellen und ethischen Werte des Christentums bejahten, sich aber keiner der offiziellen Kirchen anschlössen, betont Christian Meyer. Das chinesische Projekt steckt – angesichts der 2.000-jährigen Geschichte des Christentums – noch in den Kinderschuhen. Es entspricht einer Suche nach Identität unter schwierigsten politischen Bedingungen. Doch durch seine Frische und seinen Mut gebe es auch der deutschen Theologie wichtige Impulse, so der Erlanger Theologe.
    "Theologie heutzutage kann nicht nur auf den Westen oder auf Deutschland fixiert sein. Wir sollten nicht nur immer unsere deutsche Tradition weiter pflegen, wo wir ein reiches theologisches Erbe haben, aber das gar nicht so kreativ umgesetzt werden kann. Und da hilft es ganz sicher, in die weite Welt zu schauen. Und die Sino-Christian-Theologie spielt natürlich für einen solchen Ansatz eine Rolle. Ich denke, wir können auf jeden Fall gewinnen, wenn wir uns die große intellektuelle Offenheit dieser chinesischen Forscher anschauen."