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China: Die Zeltstädte von Sichuan

Nach dem verheerenden Erdbeben in China wächst der Unmut der Betroffenen. Während die chinesische Armee, die den Großteil der Rettungsarbeiten übernommen hat, als echte Hilfe wahrgenommen und begrüßt wird, werfen viele Menschen den lokalen Behörden Versagen vor.

Von Claudia Witte | 02.06.2008
    Über den Trümmern der Mittelschule der Kleinstadt Juyuan liegt Leichengeruch. Dutzende von Schaulustigen, einen weißem Mundschutz vorm Gesicht, klettern über die eingestürzten Gebäudeteile und fotografieren sich dabei mit ihren Handys. Der Ort hat traurige Berühmtheit erlangt: Als am zwölften Mai um 14:28 Uhr die gewaltigen Erdstöße einsetzten, ist das sechsstöckige Hauptgebäude der Schule wie ein Kartenhaus zusammengefallen und hat mehr als Tausend Schüler und Lehrer unter sich begraben.

    Am Tag nach der Katastrophe war das Schulgelände noch von Hunderten von Angehörigen belagert, die mit wachsender Verzweiflung die Bergungsarbeiten verfolgten. Soldaten hielten eine Gasse frei, durch die eine Schülerleiche nach der nächsten hinausgetragen wurde. In die Verzweiflung der Eltern begann sich Wut zu mischen. Wie bei Herrn He, dessen 17-jährige Tochter unter den Trümmern lag:

    "Das sind einfach zu viele Tote hier. Da drinnen sind doch mindestens noch 200, 300 Kinder. Heute haben Sie Dutzende da raus geholt. Die meisten von ihnen waren tot. Schuld ist nicht die Naturkatastrophe. Es ist die Regierung. Die Bauqualität ist lausig. Und wieso? Weil hier alle korrupt sind."

    Auch 50 Kilometer weiter nordöstlich im Dorf Yinghua sind als erstes die Schulen eingestürzt. Mit eigenen Händen hat Herr Luo die Leichen seiner beiden Kinder aus dem Schutt der Grundschule gegraben. Neben einem großen Trümmerhaufen, dort wo einmal sein Haus stand, lebt er jetzt mit seiner Frau unter einer Zeltplane. Eigentlich sind die Luos Bauern, aber sie können ihre Felder nicht mehr bestellen. Herr Luo musste sich als Arbeiter in der nahe gelegenen Chemiefabrik verdingen. Er zeigt auf eine eingestürzte Fabrikanlage am Flussufer, etwa zwei Kilometer entfernt:

    "Die Chemiefabrik hat unser Land vergiftet, da wächst nichts mehr. Hier ist alles verseucht und viel zu viele Menschen werden deshalb krank. Hier haben sehr viele Menschen Krebs. Und wenn sie erstmal richtig krank sind, dann können sie sich nicht mehr selbst ernähren. Das geht dann nicht mehr."

    Das Leben war schon immer sehr hart für die Bewohner dieser Gegend. Nie hätte Herr Luo gedacht, dass es noch schlimmer kommen könnte. Die vom Erdbeben zerstörte Region ist arm und kaum entwickelt. Weniger als ein Prozent des chinesischen Bruttosozialprodukts werden hier erwirtschaftet. Für die lokale Bevölkerung sind die Auswirkungen der Erdbebenkatastrophe verheerend, gesamtwirtschaftlich fallen die Schäden kaum ins Gewicht.

    Die größte Gefahr im Erdbebengebiet geht nach Einschätzung der chinesischen Behörden derzeit von instabilen Dämmen und Staumauern aus. Unzählige Erdrutsche und Gerölllawinen haben Bergflüsse zu Seen gestaut, deren Wasserpegel unaufhörlich steigen. Unter dem Druck gewaltiger Wassermassen drohen die Dämme zu bersten und lebensgefährliche Flutwellen freizusetzen. Die bedrohlichste Situation hat sich bei der Ortschaft Tangjiashan entwickelt.

    Dort versuchen 2000 Soldaten im Kampf gegen die Zeit einen Abflusskanal auszuheben, über den die Wassermassen kontrolliert abfließen sollen. Weil der Erdbebensee sich in unwegsamem Gelände befindet, müssen Bagger und Bulldozer per Helikopter eingeflogen werden. Liu Ning, Chefingenieur im Ministerium für Wasserressourcen beaufsichtigt die Arbeiten:
    "Weil es in Teilen des Erdbebengebiets stark regnet, besteht die unmittelbare Gefahr einer Flutwelle. Das müssen wir mit allen Mitteln verhindern. In einem ersten Schritt versuchen wir die drohende Katastrophe abzuwenden, indem wir einen Kanal graben. In einem zweiten Schritt lassen wir aber die Bewohner der Region vorsichtshalber evakuieren. Die lokalen Behörden treffen nach unseren Anweisungen die nötigen Vorbereitungen für den Fall eines Dammbruchs und sie sorgen dafür, dass die Bewohner vorgewarnt sind."

    200.000 Menschen, die unterhalb des Sees leben, haben ihre Häuser schon verlassen und in höher gelegenen Gebieten Zuflucht gesucht. Weitere 1,1 Millionen sind vorgewarnt und verharren im Wartestand. Bis jetzt haben die Dämme und auch die Staumauern der Region alle gehalten. Nach Ansicht des Wissenschaftlers Fan Xiao vom Geologischen Institut der Provinz Sichuan muss bei Bauprojekten in diesem Teil Chinas die Erdbeben-Wahrscheinlichkeit unbedingt berücksichtigt werden:

    "Die ganze Gegend da oben ist geologisch instabil. Es gibt dort laufend Erdbeben. Weil der Gesteinsaufbau sehr lose ist, kommt es auch immer wieder zu Erdrutschen. Wenn man in diesem Umfeld große Bauprojekte realisiert, dann wird alles noch unstabiler. Das macht Erdbeben hier noch gefährlicher."

    Einige der zerstörten Städte werden aus diesem Grund nie wieder aufgebaut werden.

    Das Erdbeben hat mindestens fünf Millionen Menschen obdachlos gemacht. Viele von ihnen leben jetzt in Evakuierungszentren, wo die Versorgung einfacher ist. Die 62-jährige Frau Meng bewohnt mit den Überlebenden ihrer Familie ein Zelt im Sportstadion der Stadt Mianyang. Die Bäuerin hat ihr total zerstörtes Dorf nahe beim Epizentrum nur ungern verlassen:

    "Ich würde gern zurückgehen, aber es gibt dort kein ebenes Fundament mehr, auf das man ein Haus stellen kann. Wenn ich könnte, würde ich noch mal von vorne anfangen. Dazu brauche ich aber Unterstützung der Regierung. Ich erwarte nicht, dass die Regierung alles für uns macht. Wir selbst müssen auch hart arbeiten."

    Den Löwenanteil der Rettungsarbeiten haben bis jetzt die Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee geleistet. Die Truppen arbeiten diszipliniert, sie beseitigen Trümmer und bauen Zeltstädte auf. Auch zahlreiche Freiwillige aus dem ganzen Land haben mit angepackt. Nie zuvor hat China eine solche spontane Welle der Hilfsbereitschaft gesehen. Der gut gemeinte, aber oft chaotische, Freiwilligen-Einsatz wird von den Überlebenden begrüßt und von den Behörden geduldet. Eine Gruppe, die im Urteil der betroffenen Bevölkerung überhaupt nicht gut abschneidet, sind die lokalen Vertreter von Regierung und Kommunistischer Partei. Herr Wang, aus der total zerstörten Stadt Mianzhu spricht aus, was viele denken:

    "Die Regierung von Mianzhu, die lokalen Beamten, haben nach dem Erdbeben total versagt. Da sind wir Normalbürger uns alle einig. Statt selber was zu unternehmen, haben die einfach nur darauf gewartet, dass endlich die Armee kommt und hilft, Und von genau diesen Leuten will ich wissen, warum sie bei der Bauqualität der Schulen geschlampt haben. Als erstes sind die Schulen eingestürzt und dann die Häuser der normalen Leute."

    Die Verantwortung für den Wiederaufbau der zerstörten Region wird in den Händen genau dieser lokalen Beamten liegen. Im Staatsfernsehen werden sie schon jetzt als die wahren Helden der Katastrophenhilfe portraitiert.