Freitag, 19. April 2024

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Chinesin Nanfu Wang auf der Oscar-Shortlist
"Meine Beziehung zu China ist eine Hassliebe"

Nanfu Wang (34) lebt in den USA, setzt sich in ihren Dokumentationen aber immer wieder kritisch mit ihrer Heimat China auseinander. Nach der Arbeit an „One Child Nation“ über die Tragik der Ein-Kind-Politik verstehe sie, wie sehr die Propaganda ihr Denken beeinflusst habe, sagte Nanfu Wang im Dlf.

Sigrid Frischer im Corsogespräch mit Nanfu Wang | 30.12.2019
Nanfu Wang bei der Verleihung der Film Festival Cologne Awards 2019 auf dem 29. Film Festival Cologne im E-Werk. Köln,
Nanfu Wang bei der Verleihung der Film Festival Cologne Awards 2019 (www.imago-images.de)
Sigrid Fischer: Sie gehören zur Generation der Ein-Kind-Politik in China, aber Sie haben einen jüngeren Bruder. Im Film sagen Sie: es hat sich nicht normal angefühlt, Geschwister zu haben. Wie haben Sie das gemerkt?
Mehr Kinder als eines galten als abartig
Nanfu Wang: Als Kind war ich von der Botschaft umgeben: es ist am besten, ein Kind zu haben. Als ich dann in der Stadt auf die Schule ging – und in der Stadt hatte so gut wie jede Familie nur ein Kind, auf dem Land, wo ich herkam, gab es Ausnahmen, man konnte ein zweites Kind haben – als ich also mit neun Jahren in die Stadt kam, hatte ich das Gefühl, ich bin die einzige, die einen jüngeren Bruder hat. Dafür habe ich mich geschämt. Und ich habe es vermieden, meinen Bruder Fremden gegenüber zu erwähnen. Ich habe erst angefangen, über dieses Scham- und Verlegenheitsgefühl nachzudenken, als ich den Film gedreht habe. Der ist wie eine Therapie für mich. Ich verstehe jetzt, wie sehr die Propaganda mein Denken beeinflusst hat. Wie sie in meinem Unterbewusstsein dieses Schamgefühl und diese Selbstverurteilung erzeugt hat. Nur weil ich einen Bruder habe, was doch etwas ganz Normales sein sollte. Aber in China war das etwas Abartiges.
Fischer: Ist Ihnen später auch klar geworden, dass es kein zweites Kind gegeben hätte, wenn das erste Kind Ihrer Mutter ein Junge gewesen wäre? Denn Sie erzählen im Film ja auch, dass die Familien immer nur Jungen wollten, niemand wollte ein Mädchen haben.
Wang: Das stimmt absolut. Meine Eltern sagen das bis heute: wenn das Erstgeborene ein Junge gewesen wäre, hätten sie kein zweites Kind bekommen. Wenn ich also das zweite Kind wäre, gäbe es mich nicht.
Fischer: Was macht das denn mit Mädchen und Frauen in China, wenn sie wissen, dass sie nicht gewollt sind? Sie kommen offenbar gut damit klar, aber andere vielleicht nicht?
Wang: China ist seit Jahrtausenden eine patriarchale Gesellschaft. Frauen haben nicht den gleichen Stellenwert wie Männer. Wenn etwas die Norm ist, mit der die Leute aufwachsen, woran sie gewöhnt sind und sie nie etwas anderes erfahren haben, sie auch nie ermutigt wurden, etwas infrage zu stellen, dann ist ihnen gar nicht klar, dass es da eine Ungleichheit gibt, dass sie für etwas kämpfen sollten.
Befehl und Gehorsam
Fischer: Die Hebamme im Film, die abgetrieben und acht Monate alte Föten getötet hat, sagt: "Wir mussten es tun". Dieses: "Wir wollten nicht, aber wir mussten es tun", erinnert mich an die deutsche Geschichte. Es fällt schwer, das zu verstehen oder zu vergeben. Ihnen nicht?
Wang: Ich kann den Einzelnen nicht verurteilen. Sie haben getan, was sie getan haben. Die Umstände und ihr Umfeld haben sie nicht dazu ermutigt, kritisch zu denken. Sie haben ihr ganzes Leben in einem Land verbracht, wo Befehl und Gehorsam alles ist, und sie wollten gute Bürger sein. Man muss die Regierung verantwortlich machen.
Fischer: Haben die zwei Dokumentationen, die Sie in China gedreht haben, ihr Verhältnis zu dem Land verändert?
Wang: Meine Beziehung zu China ist eine Hassliebe. Ich möchte, dass das Land besser ist. Ich habe gehofft, dass meine Filme dazu dienen können, das Land in die Verantwortung zu nehmen und es dazu zu drängen, besser zu sein. Ich glaube, je mehr Liebe ich für China empfinde, desto kritischer will ich sein, um das Land besser zu machen.
Wir haben noch länger mit Nanfu Wang gesprochen - hier finden Sie die Langfassung des Corsogesprächs
Fischer: Wenn Sie sehen, was in Hong Kong passiert, und Sie haben im Film mit einem Journalisten gesprochen, der dort untergetaucht ist, nachdem er über die staatlich geförderte Entführungs- und Adoptionspraxis geschrieben hat. Was denken Sie über die Proteste dort?
Wang: Ich bewundere die Demonstranten, weil sie wirklich mutig und gewillt sind zu kämpfen. Traurig macht mich zu sehen, wie ungleich die Macht verteilt ist zwischen ihnen und dem Staat. Und seit die Polizei Gewalt anwendet gegen die Demonstranten, hat sich die Situation verschlimmert. Aber schlimmer noch als die Gewalt ist die Desinformation, die in China herrscht, und die die Sicht auf das Geschehen dominiert. Das führt dazu, dass die meisten Chinesen im Festlandchina die Regierung unterstützen und eine sehr verzerrte Sicht auf die Proteste haben.
Machterhalt durch Medienkontrolle
Fischer: Wir sehen ja überall in der Welt, dass junge Leute reisen und im Internet unterwegs sind. Denken Sie nicht, dass die nächsten Generationen China etwas mehr öffnen werden in die Richtung, die Sie sich erhoffen?
Wang: China blockiert YouTube, Google, Facebook, Twitter, die New York Times – alle großen Nachrichtenthemen werden von China ferngehalten. Die junge Generation wächst zwar in dem Glauben auf, sie hätte Internet, tatsächlich bedeutet das keine Freiheit, sie haben nicht einmal das Recht auf Information. Denn alles, was sie lesen oder hören ist gefiltert und zensiert. Es ist das, was die Regierung will, das sie lesen oder hören.
Fischer: Die westliche Welt beneidet China für den wirtschaftlichen Erfolg, aber diesen Teil verstehen wir nicht. Warum öffnet man sich nicht? Mit mehr Freiheit wäre es doch vielleicht viel einfacher für alle, auch für die Regierung.
Wang: Die Frage müsste man der Regierung in China stellen. Aber ich denke, wenn eine Regierung an der Macht bleiben will und glaubt, das einzige Mittel dazu ist, die Medien zu kontrollieren - klar wäre es für die Menschen einfacher, wenn sie Zugang zu Informationen hätten. Aber nicht für eine Regierung, die die Kontrolle haben will.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.