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Chodorkowski: Schuldig im Sinne der Anklage

Der Schuldspruch gegen Michail Chodorkowski war zu erwarten gewesen. Nun bleibt die Höhe des Strafmaßes, das in einigen Tagen verkündet wird. In Russland interessiert das nur eine Minderheit.

Von Mareike Aden | 27.12.2010
    Ein kleiner Chodorkowski aus Pappmaché hängt an einem Weihnachtsbaum, an den übrigen Zweigen baumeln die anderen Prozessteilnehmer in Miniformat. Und anstatt eines Sterns thront ein Öl-Förderturm auf der Tannenbaumspitze. Der ungewöhnliche Weihnachtsbaum steht in einer kleinen Galerie im Moskauer Zentrum. Er ist Teil einer Ausstellung, die junge Moskauer Künstler dem Ex-Oligarchen gewidmet haben. Die 24 Jahre alte Künstlerin Jekaterina Belijawskaja hat die Ausstellung organisiert und sie am 15. Dezember, am Tag der ursprünglich geplanten Urteilsverkündung, eröffnet – als Zeichen der Solidarität mit Chodorkowski und Lebedew.

    "Ich bewundere sie. Vor ihrer Verhaftung war das anders, da waren sie nur zwei gut aussehende Oligarchen. Aber in der Haft stehen sie für ihre Ideale ein. Sie sind zu Unrecht in dieser Situation – alle Geschäftsleute haben in den Neunzigern irgendwas Illegales gemacht. Aber nur sie wurden verhaftet, nur sie beziehen öffentliche Prügel. Dafür, wie dieser Prozess lief, dafür schäme ich mich. Das ist ein Beweis, dass wir wirklich keine gerechten Gerichte haben."

    Jekaterina Beljiawskaja selbst hat Comics mit Gerichtsszenen gezeichnet, einige davon waren schon in Deutschland ausgestellt. Besonders stolz ist sie auf eine Zeichnung des renommierten Künstlers Dmitrij Wrubel, der in Deutschland für den Bruderkuss von Breschnew und Honecker an der Berliner Mauer bekannt ist. Die schwarz-weiße Profilzeichnung des Oligarchen hat er extra für die Ausstellung angefertigt und darauf geschrieben: "Warum haben diese Künstler nicht protestiert, als Chodorkowski verhaftet wurde?"

    "Damals haben wir junge Künstler tatsächlich an nichts gedacht, außer an Klausuren und ans Feiern. Aber es ist Zeit aufzuwachen. Es muss sich was ändern im Land, denn was hier passiert, das ist ein Albtraum. Und der Fall Chodorkowski ist ein Symbol dafür."

    Doch Jekaterina und die anderen Künstler wissen: Außerhalb ihrer Galerie stehen die meisten Russen Michail Chodorkowski feindlich oder zumindest gleichgültig gegenüber. Laut einer Umfrage des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Levada von November verfolgten 65 Prozent der Befragten den zweiten Prozess gar nicht.
    Wie die Menschen außerhalb der russischen Metropolen zum Fall Chodorkowski stehen, das weiß auch seine Mutter Marina Chodorkowskaja.

    "Immer, wenn ich nach Sibirien gefahren bin, um meinen Sohn im Gefängnis zu besuchen, habe ich gemerkt: Die Leute wissen gar nichts. Das Internet oder unabhängige Zeitungen nutzen ja nur Menschen in großen Städten. Aber die meisten Russen sind nicht besonders gebildet oder politisch interessiert. Deshalb wissen sie nichts."

    Eine Insel der Unterstützung für Familie Chodorkowski liegt rund 40 Kilometer von Moskau entfernt auf dem ehemaligen Adelslandsitz Koralowo: Anfang der Neunziger Jahre gründete der Milliardär Chodorkowski hier eine Internatsschule für bedürftige Kinder. Heute leiten seine Eltern das Lyzeum im Namen ihres Sohnes. Das Geld wird von einer britischen Stiftung verwaltet. Noch lässt der russische Staat die Chodorkowskis gewähren. Wenn Marina Chordorkowskaja durch die Schule läuft, kommen viele Schüler auf sie zu, begrüßen und umarmen sie. Gerade führt sie den Oppositionspolitiker Ilja Jaschin von der Bewegung Solidarnost durch das Schulgebäude.

    "Chodorkowski hat ein einzigartiges Beispiel von zivilem Mut gegeben. Er ist in Russland geblieben, um für seine Ideale zu kämpfen und hat seine persönliche Freiheit dafür aufgegeben. Ich bin überzeugt, dass auch die russische Gesellschaft das eines Tages zu schätzen weiß. Sie muss dieses Opfer zu schätzen wissen."

    Doch bisher ist das nicht der Fall – und die Staatsmedien und Wladimir Putin sorgen dafür, dass das so bleibt. Einen Tag nach der verschobenen Urteilsverkündung äußerte sich Putin bei seiner Live-Fragestunde im TV zum Fall Chodorkowski. Dort sagte Putin nicht nur, dessen Schuld sei vor Gericht bewiesen. Er behauptete sogar, wenn man die 150 Jahre Haft betrachte, die der US-Finanzbetrüger Madoff erhalten habe, dann seien die russischen Gerichte geradezu human und liberal. Spätestens da stand für Prozessbeobachter fest, dass Michail Chodorkowski wohl noch viele Jahre in Haft bleibt.