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Christian Dittloff: "Das weiße Schloss"
Optimierungswahn beim Projekt Kind

Ein Teilzeit-Kind - das ist für junge, erfolgreiche Paare doch gar keine schlechte Idee. Denkt jedenfalls das Paar in Christian Dittloffs Roman. Eine Leihmutter soll das Kind austragen - und teilweise großziehen. "Das weiße Schloss" zeigt, wohin die viel beschworene Selbstbestimmung führen kann.

Von Anja Hirsch | 17.12.2018
    Buchcover Christian Dittlof: "Das weiße Schloß" und im Hintergrund eine Familie vorm Sonnenuntergang
    Yves und Ada wollen in Christian Dittloffs "Weißem Schloss" ein Kind - aber nicht zu sehr. (Buchcover Berlin Verlag / Hintergrund picture-alliance / dpa / Bernd Wüstneck)
    Ada liebt Yves. Yves liebt Ada. Und beide lieben ihre Arbeit. Sie wollen, dass das auch so bleibt, wenn ein Kind ihr Glück vervollkommnet. Adas Schwester, immerzu milchbespuckt und genervt, ist da ein abschreckendes Beispiel. Ada und Yves wollen ihr Kind deshalb von einer Leihmutter austragen lassen. Nicht nur das: Auch großziehen soll sie das Kind. Und zwar in einem Institut, das eigens darauf eingerichtet ist. Es heißt, wie Christian Dittloffs Roman, "Das weiße Schloss" und verlangt eine aufwändige Bewerbungsprozedur. Ada und Yves haben die Hürden geschafft. Jetzt trudeln die ersten Portfolios der in Frage kommenden Frauen bei ihnen ein.
    "Zwölf Potentielle, die gemäß ihren Filterangaben von der Direktorin des Weißen Schlosses zusammengestellt worden waren: heller Typus, zwischen dreiundzwanzig und vierundzwanzig Jahre alt. Tendenziell mit künstlerischer Veranlagung. Eine hervorragende körperliche Konstitution und ein gewisses Maß an Intelligenz waren ohnehin grundlegend für die Aufnahme als Potentielle im Internat."
    Marie, eine Schauspielerin, trifft ihren Geschmack. Die "Tragemutter", wie sie laut Statuten heißt, wird wie die anderen Leihmütter während der Schwangerschaft sowie in den Jahren danach mit Kind im Schloss wohnen. Und damit sich Marie auch ganz und gar ihrer Aufgabe widmen kann, wählen Ada und Yves gleich noch eine Zusatzoption: Sie lassen Marie für die nächste Befruchtungsperiode sperren. Ganze sechs Jahre lang soll sie sich einzig und allein um ihr Kind kümmern können.
    "Sie beide würden das Kind monatlich besuchen kommen, nicht öfter. Sie wollten sich schließlich auch selbst leben."
    Eine kühle Versuchsanordnung
    So weit also die Versuchsanordnung, die Christian Dittloff in seinem kühl durchkomponierten Roman abklopft und ausspielt. Und auch er, merkt man schnell, hat die beiden Protagonisten, die er in den Ring schickt, perfekt ausgewählt. Da ist Ada, mehr Kopf als Gefühl, die genau weiß, was sie will. Yves ist da schon etwas unkontrollierter, ganz Künstler, der große Skulpturen schafft, aber als Restaurateur arbeitet, seitdem er "hier" ist. "Hier" - das ist eine offenbar in sich geschlossene Gesellschaft, für die auch Ada arbeitet: Im "Amt für Gesellschaftserweiterung", Bereich Selektion. Ada analysiert Menschen - selbst beim Bahnfahren:
    "Wenige Minuten bevor sie Adas Station in der Stadt erreichten, wiesen die plötzlichen Bewegungen der anderen Fahrgäste darauf hin, dass jemand durch den Zug ging, zu dem man sich verhalten musste. Wurden die Fahrkarten kontrolliert?"
    Christian Dittloff fängt maßgenau ein, wie seine Protagonisten sich bewegen, was sie motiviert, wie sie funktionieren. Ratio und Voraussicht bestimmen ihre Handlungsmatrix. Glaube und Spiritualität? - Das ist Schnee von gestern und nach Adas Meinung nur niederen Gründen geschuldet:
    "Nach dem Krieg war ihre Großmutter Elfi gläubig geworden, weil sie einen Adressaten für ihre Scham brauchte. Sie schämte sich vor Gott für das, was sie getan hatte."
    Eine Win-Win-Situation
    Adas selektierender Blick hat auch Yves gefunden. Alles läuft zunächst vielversprechend an. Nach der dreisam mit der Leihmutter rauschhaft erlebten "Zeugungswoche" zwecks Beziehungsbildung erhält das Auftragspaar nach erfolgreicher Konzeption erste, heiß ersehnte Berichte über das Befinden der Schwangeren. "Das weiße Schloss" baut auf eine Win-Win-Situation: Die austragende Mutter erhält Geld sowie Entlastung durch ein quasi familiäres Netz; Ada und Yves erhalten das erwünschte Stunden-Kind.
    Doch was den Anschein gebahnter Nähe erweckt, ist in Wirklichkeit der plangenaue Aufbau einer künstlichen Welt; einer Erweiterung eben jener Bungalow-Idylle, in der Ada und Yves bereits leben. Nichts wurde da dem Zufall überlassen, genau wie beim Projekt Kind, das schon ungeboren bis zum vorgesehenen Leistungsnachweis und Professorentitel durchdekliniert wird. Christian Dittloff denkt radikal zu Ende, was passiert, wenn eine Gesellschaft ihren Optimierungswahn auf das Thema "Familie" überträgt. Enorm, was sie alles meinen machen zu müssen! Reisen, trinken, die Nachbarn zum Dinner einladen und Konversation betreiben:
    ",Warst du eigentlich schon mal in Paris?'
    ,Aus irgendeinem Grund noch nie. Aber wir könnten!'"
    Das ganze ist Realsatire, mit Figuren, die ihrem Ideal so sehr nachrennen, das sie unter dem Druck der Möglichkeiten mehr maskenhaften Robotern ähneln als Menschen. Doch die Sprache, in der Christian Dittloff erzählt, trocken und todernst, zwingt uns derart erbarmungslos in diese Geschichte hinein, dass wir gar nicht anders können, als schließlich selbst fassungslos die Fragen zu stellen, die hier offenbar alle schon für sich beantwortet haben: Was heißt denn eigentlich "Leben"? Und wie wird hier die viel beschworene "Freiheit" genau definiert?
    "Sie dachte an Lea. Und für einen Augenblick sah sie vor sich, wie sie gemeinsam im Garten ihres Elternhauses gesessen hatten, vielleicht sechs oder sieben Jahre alt, und Lea den Kopf an ihre Schulter gelehnt hat. Erwachsen zu werden, dachte Ada, eine Beziehung zu sich selbst aufzubauen, ist ein endloser Prozess."
    Geht in Beziehung!
    "Eine Beziehung zu sich selbst aufzubauen" ist eben nicht das Einzige, was Erwachsenwerden ausmacht. Und allmählich merkt man, warum einen dieses Buch so rasend macht, warum man diese selbstbezogenen Figuren ständig schütteln und rütteln möchte und rufen: Geht in Beziehung! Aber nicht durch schnellen Sex und ständiges Schielen auf Selbstoptimierung.
    Es gibt in diesem ganzen Buch nämlich nur eine einzige Stelle, an der einem ein Mensch und kein Vollautomat begegnet: Das ist die mitleidslos kurz geschnittene Szene, in der das Nachbarskind Otto, übrigens ein Reagenzglaskind, bei Tisch den Erwachsenen Widerrede gibt. Doch der Moment vergeht, als wäre nichts geschehen. Man macht einfach weiter mit Planung und Durchführung des individuellen Glücks; geht surfen, Wellness machen, ferne Länder bereisen. Ein langweiliges Einerlei. - Spät kommt Ada die Einsicht, dass die Leihmutter-Idee Produkt des Optimierungswahns sein könnte.
    ",Weißt du, wovor ich am meisten Angst hatte?'
    ,Wovor denn?*', fragte er und blickte kurz hoch.
    ,Ich wollte nicht in den Mikrokosmen anderer Eltern verschwinden. Zusehen, wie mein Leben sich immer weiter an das Leben meines Kindes schmiegt, angezogen von seiner Wärme. Mein Kind wäre geboren, um mich vorübergehend auszulöschen.'"
    Es ist dann schon sehr böse und vielleicht auch etwas überkonstruiert, was sich Christian Dittloff alles einfallen lässt, um seine Akteure samt der völlig glücksüberforderten Leihmutter an ihre Grenzen zu bringen. Aber egal, Satire braucht Überzeichnung. Der Roman bringt einen in Rage und in Gang. Er spielt durch, was mit einer Gesellschaft passiert, wenn die Medizin alles möglich macht und ein Institut anfängt, alle "wohlwollend zu bevormunden", wie es einmal heißt. Dittloff macht vor, was passiert, wenn Menschen der Selbstoptimierungswahn zu Kopfe steigt; wenn sich eine Elite bildet, die selektiert. Das Institut, das neue Elternschaft ausprobiert, trägt ja genauso wie das Amt, für das Ada arbeitet, trotz scheinbar demokratischer Ideale faschistoide Züge. Christian Dittloff erzählt uns also möglicherweise, wenn wir nicht aufpassen, in die Zukunft hinein - auf Maßgaben allerdings, die bereits unsere Gegenwart prägen. Eine davon ist der Wahn nach Freiheit um jeden Preis.
    Wohin die Selbstbestimmung führen kann
    Sein beachtliches Debüt, wollte man ihm überhaupt etwas vorwerfen, hat allein den Haken, das es in Sachen Perfektion mit der hier verhandelten Idee konkurriert: nichts fehlt. Alle Metaphern stimmen. Jede Figur hat ihre Vergangenheit, die ihr Handeln erklärt. Nichts wird dem Zufall überlassen, was manche Szenen geheimnislos macht. Sogar an Subtexte hat der Autor gedacht. Hier ein Blick auf Aristoteles, der seinen Lehrer Platon seinen "dritten Vater" nennt. Dort ein Schwenk ans Ende des 19. Jahrhunderts, wo man im überholt-klassischen Familienrahmen über Rousseaus Erziehungsvorstellungen diskutiert. Die angehängte Literaturliste verweist auf Publikationen zu Reproduktionsmedizin, Gender und jüngste Debatten, etwa "Regretting Motherhood - Wenn Mütter bereuen". Das Thema Lebensentwürfe auch theoretisch allumfassend in einem Roman erklären zu wollen, ist dann vielleicht doch etwas ambitioniert. Aber wer wissen will, wohin die viel beschworene Selbstbestimmung führen kann, sollte "Das weiße Schloss" unbedingt lesen und schaudern - oder aber während der Lektüre gleich selbst machbare Alternativen erfinden.
    Christian Dittloff: "Das weiße Schloss"
    Berlin Verlag, München. 292 Seiten, 22 Euro.