Mittwoch, 24. April 2024

Archiv


Christian Geulen: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert

Silvester 1870, während der Belagerung von Paris schrieb Jacob Burckhardt: "Das Bedenklichste ist nicht der jetzige Krieg, sondern die Ära von Kriegen, in welche wir eingetreten sind." Burckhardt beobachtete besorgt die wachsenden Rivalitäten unter den nationalstolzen Großmächten, durch innere Spannungen zwischen Konservativen und Liberalen, zwischen Kapital und Proletariat insofern gesteigert, als ein äußerer Konflikt Einigkeit im Innern sichern konnte und das Militär, gesellschaftlich hoch angesehen und von Jahr zu Jahr besser gerüstet, auf seine Stunde wartete. Der Krieg galt als Stahlbad, als Bewährungsprobe und nationale Ehrensache.

Von Tillmann Bendikowski | 17.05.2004
    Diese Zeilen hat Alexander Demandt dem Kapitel über "Die Weltkriege" in seiner im letzten Jahr bei Beck in München erschienenen "Kleine(n) Weltgeschichte" vorangestellt. Der kurze Text markiert auch die Themen der Neuerscheinungen, die wir in unserer heutigen Revue politischer Literatur vorstellen wollen.
    Christian Geulen hat in seiner Studie über "Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert" Voraussetzungen der großen Schlachten herausgearbeitet. John Horne und Alan Kramer dokumentieren in "Deutsche Kriegsgreuel 1914" Ergebnisse dieser ideologischen Hochrüstung. Der Band "Rotarmisten schreiben aus Deutschland" führt uns in das Jahr 1945 und am Ende der Sendung stellen wir dann mit Thomas Medicus Band "In den Augen meines Großvaters" ein Beispiel für jenes familistisch inspirierte Genre der Zeitgeschichtsschreibung vor, das sich zur Zeit großer Beliebtheit erfreut. Die Rezensenten der heutigen Sendung sind Tillmann Bendikowski, Gerhard Hirschfeld, Stephan Berkholz und Karin Beindorff. Am Mikrophon ist Hermann Theißen.


    Um ihr Existenz zu sichern, disziplinieren Gesellschaften ihre Mitglieder, passen sie in Sozialisationsprozessen, mit Traditionen, Ritualen oder mit dem Strafgesetzbuch an. Doch auch die Gesellschaft als solche braucht ein Regulations- und Integrationsprinzip. Im 19. Jahrhundert übernahm überall in Europa der Nationalismus diese Funktion. Er definierte die jeweilige Gesellschaft als Volkskörper und grenzte ihn gegen andere Volkskörper ab. Dieser Prozess wurde von dem Glauben an die eigene Überlegenheit begleitet und er schuf klare und totale Feindbilder. Der andere wurde als Bedrohung der eigenen Existenz gesehen und das Prinzip der Konkurrenz und des Wettbewerbs zwischen den Völkern machte den Krieg zur Notwendigkeit. Nur im Krieg könne ein Volk seine Überlegenheit beweisen, hieß es, nur im Krieg könne sich ein Volk wirklich erneuern. Der französische Philosoph Michel Faucault hat diese finstere Logik als "Biopolitik" bezeichnet und der Konstanzer Historiker Christian Geulen greift auf Foucaults Interpretationsrahmen zurück, wenn er schreibt:

    Dass der biopolitische Diskurs in veränderter Form nach wie vor bereitsteht, ist gerade heute unübersehbar. Die ungebrochene Hoffnung auf eine globale Regulierung des Lebens durch die moderne Biotechnologie zeugt davon ebenso wie die Tatsache, dass jener neue Feind, der bereits zum Globalfeind des 21. Jahrhunderts erklärt wurde, der Terrorismus, gerade in seiner Abstraktheit alle Züge eines biopolitischen Feindes anzunehmen beginnt: Er ist überall und er muss um unser aller Überleben willen aufgespürt werden, denn er bedroht uns in unserem Innersten. Wer, berechtigt oder unberechtigt, als Terrorist definiert wird, läuft Gefahr, sich auf die politischen Errungenschaften der Moderne, auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit, nicht mehr verlassen zu können. Der Raum für politische Verhandlung, das Politische selber, wird ausgefüllt von Szenarien der absoluten Lebensbedrohung. Darin lag schon im späten 19. Jahrhundert die entscheidende Konsequenz des biopolitischen Diskurses, der hier als Rassendiskurs auftrat.

    Diesen Bogen spannt Christian Geulen in seiner Studie "Wahlverwandte - Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert", die Ihnen nun Tillmann Bendikowski vorstellt.

    Das 19. Jahrhundert gilt uns heute weithin als das "nationale" Jahrhundert, als jene Zeit, in der die politische Kategorie der "Nation" seine Blüte erlebte und der Nationalismus zur prägenden Haltung der europäischen und letztlich der internationalen Politik wurde. Und außerdem glaubten wir bislang, dass es eine Radikalisierung dieses Nationalismus im späten 19. Jahrhundert gab, eine Radikalisierung, die einen Rassismus hervorbrachte, der die Grundlage für die Katastrophen des 20. Jahrhunderts bildete. Der Konstanzer Historiker Christian Geulen will diese Vorstellung allerdings nicht mehr gelten lassen:

    Im Gegensatz dazu will die vorliegende Arbeit zeigen, dass der Rassendiskurs keine Radikalisierung des Nationalismus im Sinne einer Intensivierung nationalen Bewusstseins, einer Verengung nationaler Zugehörigkeit oder Verhärtung nationaler Gemeinschaftsgrenzen mit sich brachte, sondern seine Radikalität gerade in der Freisetzung des Nationalen von hergebrachten Bindungen bestand, in der radikalen Umdeutung der Nation zu einem biopolitischen Programm jenseits jeder partikularen Identität.

    Christan Geulen glaubt einer neuen Erklärung auf die Spur gekommen zu sein: Tatsächlich habe es einen von ihm in Anschluss an Michel Foucault so bezeichneten "biopolitischen Diskurs" gegeben, der unsere bisherige Vorstellung maßgeblich in Frage stellt. Die traditionelle Vorstellung von der Nation sei durch diesen Rassendiskurs völlig verändert worden, etwas spezifisch Neues an deren Stelle getreten. Um diese Annahme zu belegen, untersucht der zunächst den Zusammenhang zwischen Nation, Rasse und Wissenschaft. Er liefert unter anderem einen Abriss zur Begriffsgeschichte von "Rasse" und referiert die bekannten en in Sachen Rassismus, Evolution und Wissenschaft im 19. Jahrhundert. Zu ihnen zählt der Franzose Arthur de Gobineau, bei dem Christian Geulen einen wichtigen ersten Baustein für seine Argumentation findet. Entscheidend gewesen sei bei Gobineau, der weithin als Vater des modernen Rassismus bezeichnet wird, die Vorstellung von der Rassenmischung als Motor der Geschichte:

    Erst wenn sich die Rassen mischen, beginnt Geschichte; nur dort wo sich Rassen mischen, entstehen Zivilisationen und gehen sie – aus demselben Grund – auch wieder unter. Aus dem ewigen Krieg der Rassen gegeneinander, der bis dahin im Zentrum der Versuche gestanden hatte, eine Rassengeschichte zu schreiben, wurde bei Gobineau ein Rassenkampf im biologischen Sinne.

    Hier tritt uns die Rassenmischung als ein Prinzip der Kulturentwicklung entgegen. Hinzu kam eine Denkfigur vom Kampf um die vermeintliche "Reinheit" einer Rasse, verstanden als ein Kampf im Inneren einer Rasse. Hier zeigt sich nach Geulen der Beginn eines neuartigen Rassendiskurses: Nun ging es nicht mehr nur darum, lediglich die Unterschiede zwischen Rassen und Völkern zu formulieren, sondern über ihre Verschiedenheit und ihre Zukunft nachzudenken. Die Rassen wurden fortan in steter Auseinandersetzung untereinander verstanden, wenn man so will: in einem alltäglichen Rassenkampf. Dieser Kampf wurde demnach gedacht als ewiger Kampf im Leben, Sterben und Überleben von Nationen und Völkern, wobei den Juden frühzeitig die Rolle einer sogenannten "Gegenrasse" zugeschrieben worden sei. Eine Gegenrasse, die in Deutschland zur Gefahr für die Nation erhoben werden konnte:

    Weil der alltägliche Rassenkampf das oberste Prinzip war, musste eine neue Art von Feind gefunden und erfunden werden. Dieser Feind konnte nicht als äußerlicher politischer auftreten, sondern musste auf der Ebene bekämpft werden, die der Rassendiskurs zum eigentlichen Ort nationaler Selbstbehauptung erkoren hatte. Der Feind hatte als ein biopolitischer Feind der Bevölkerung in Erscheinung zu treten. In den Juden glaubte man ihn gefunden zu haben.

    Nation sei nicht mehr als vorgegebene Einheit gedacht worden, sondern als ein im Grunde niemals abgeschlossenes Programm der Perfektionierung eines Volkskörpers. Der Imperialismus des späten 19. Jahrhunderts, so Christian Geulen, bildete bald schon den weltweiten Rahmen für diese Vorstellung.

    Insofern der Rassenkampf als ein überall geltendes Naturprinzip verstanden wurde, beschränkte sich auch der nationale Handlungsspielraum nicht mehr auf ein bestimmtes Territorium und eine bestimmte Bevölkerung, sondern globalisierte sich. Da die Nation allein im biopolitischen Rassenkampf und als ein solcher existierte, stand sie im privaten Ehebett ebenso auf dem Spiel wie bei der Besiedlung der afrikanischen Steppe.

    Der Rassenkampf wurde daheim geführt – der führt hier etwa die denkbar populäre Konzeption einer Volks-"Hygiene" sowie in Umrissen die Eugenik-Debatte an –, und er wurde am anderen Ende der Welt geführt. Vor allem von den etablierten Kolonialbefürwortern, etwa dem als Gründers Deutsch-Ostafrikas geltenden Carl Peters, der sich mit dem Wesen der Menschen in den Kolonien auseinander setzte.

    Gerade aus der Perspektive von Kolonisten wie Peters, die in der afrikanischen Steppe deutsche Flaggen hißten, um grenzenlose Landschaften in Besitz zu nehmen, und mitten in Afrika Traktate über den Kampf gegen die 'Eingeborenen’ schrieben, konnte die Nation, in deren Namen sie handelten und als deren hervorragende Repräsentanten sie sich fühlten, nicht mehr als etwas erscheinen, das an ein Territorium, einen Staat, sein Volk und seine politische Geschichte gebunden war.

    Die Nationalvorstellungen des 19. Jahrhunderts seien hier endgültig überwunden worden, und auch die Kolonialanhänger vollzogen nach Ansicht des s die biopolitische Wende:

    Niemand wusste besser als die Kolonisten, dass die Nation nichts anderes war als ein Programm, ein kontinuierliches Projekt, das allein in seiner ständigen Realisierung, in seiner 'täglichen Eroberung’ und Neuschaffung Bestand hatte.

    Womit der seine These weitgehend belegt sieht. Freigelegt hat er einen biopolitischen Diskurs, der zwar nicht das Ende von Nation und Nationalismus besiegelt, sehr wohl aber ihre bisherige politische Semantik zerstört habe.

    Er erklärte nicht die Nationen für unverhandelbar, aber ihren Antagonismus. In politischen Konflikten sah er nur den ewigen Kampf, in politischen Differenzen nur Varianten der Rassenentwicklung, in politischen Gemeinschaften nur kurzlebige Wahlverwandtschaften. An die Stelle von Politik setzte er die Prozesse und Mechanismen des bloßen Lebens.

    Hier zeigt sich die Stärke des Buches. Der Rückgriff auf Foucault und die Rekonstruktion jenes eigentümlichen "biopolitischen Diskurses" ist eine überaus bedenkenswerte Erweiterung unseres Blickes auf die zentralen Debatten im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dass der mit diesem schönen Zugriff indes unbedingt die gesamte Sicht auf den Nationalismus neu geschrieben sehen möchte, ist die Schwäche der Studie. Denn dies gelingt ihm nicht, weil es ihm nicht gelingen kann: Nation war – und blieb – immer mehr als ein biopolitisches Programm, andere Aspekte wie etwa sprachliche oder religiöse Momente muss er bei seiner Engführung notgedrungen ausklammern. So bringt sich Christian Geulen ein wenig um die Früchte seiner Arbeit; auch weil wichtige Konkretisierungen fehlen: Etwa die genauere Betrachtung der Träger dieses Rassendiskurses, seine tatsächliche politische Reichweite, seine erkennbaren Spuren in Regierungsprogrammen oder seine argumentative Position bei den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die Nation und Nationalbewusstsein immer mit geprägt haben. Nachteilig wirkt sich zudem die erzählerische Schwerfälligkeit eines Buches aus, das nicht von der ermüdenden Pflichtbesessenheit einer Dissertationsschrift befreit worden ist. Unter Strich ein nur über Strecken überzeugendes Buch, das indes wichtige Denkanstöße liefert.

    Tillmann Bendikowski über Christian Geulen: "Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert". Die Studie ist erschienen in der Hamburger Edition, umfasst 411 Seiten und kostet 35 Euro.