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Christine Féret-Fleury: "Das Mädchen, das in der Metro las"
Die magische Kraft der Literatur

In Smartphone-Zeiten sind lesende Fahrgäste in der Pariser Metro rar geworden. Für die einsame Juliette bleibt die Literatur im eintönigen Arbeitsalltag trotzdem der wichtigste Halt. Ihre Lese-Sucht führt in Christine Féret-Fleurys melancholischem Roman zu überraschenden Begegnungen.

Von Christoph Vormweg | 22.06.2018
    Buchcover: Christine Féret-Fleury: "Das Mädchen, das in der Metro las"
    Buchcover: Christine Féret-Fleury: "Das Mädchen, das in der Metro las" (Buchcover: DuMont Verlag, Foto: imago stock&people)
    Juliette schlüpfte in jede Geschichte wie in eine wunderbare neue Haut, mit Salz bestreut, mit Parfum benetzt oder mit Natron bedeckt, wie die Gliedmaßen [...] der Heldin aus Gautiers Roman de la Momie, damit sie geschmeidig blieben; ihre Haut empfing die Zärtlichkeiten eines Unbekannten, dem sie an Bord eines Schiffes begegnet war, sie wurde von Pollen bestäubt, welche von Bäumen am anderen Ende der Welt stammten, mitunter vom Blut einer offenen Wunde befleckt."
    Ein Roman über die magische Macht der Literatur
    "Das Mädchen, das in der Metro las" ist ein Roman über die magische Macht, die Literatur auf uns ausüben kann. Und als gelernte Lektorin und langjährige Buchautorin versteht Christine Féret-Fleury ihr Handwerk. Geschickt platziert sie Motive wie den Selbstmord eines Kuriers, um die Spannung aufrechtzuerhalten. Oder sie operiert mit überraschenden Wendungen - wie der Nachricht von Solimans Tod nach einer Operation. Und auch Juliettes Konfrontation mit dessen frühreifer Tochter birgt Dramatik: Denn Zaïde will – anders als ihr Vater - nicht nur lesend reisen, sondern auch in Wirklichkeit: um endlich Abenteuer aus erster Hand zu erleben.
    Und doch: Das pädagogisch so wertvolle Beschwören der Magie von Literatur lastet auf dem Roman. Mehr noch: Die Melancholie kippt allzu oft ins Rührselige. Denn Juliette ist nah am Wasser gebaut. Die Schlüsse, die sie aus der Soliman-Erfahrung zieht und die hier natürlich nicht verraten seien, sind aber bemerkenswert. Denn sie weiß, dass es keine Rückkehr in das von Christine Féret-Fleury in der ersten Romanhälfte so treffend beschriebene berufliche Hamsterrad geben darf. Das wäre für Juliette nur ein langsames Sterben.
    Christine Féret-Fleury: "Das Mädchen, das in der Metro las". Aus dem Französischen von Sylvia Spatz
    DuMont Verlag, Köln 2018. 176 Seiten, 18 Euro.