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Auszeichnung
Christine Wunnicke erhält den Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2020

Seit Jahrzehnten bewegt sich Christine Wunnicke in ihren Büchern zwischen gelehrter Groteske, historischem Roman und Wissenschaftssatire. Ihre Figuren befinden sich in einem unbestimmten Zustand von Wahn und Wissen. Schon lange ist sie bei der Kritik ein Geheimtipp. Nun erhält sie den Wilhelm Raabe-Literaturpreis.

Hubert Winkels im Gespräch mit Angela Gutzeit | 23.09.2020
Die Schriftstellerin Christine Wunnicke
Die Schriftstellerin Christine Wunnicke (Foto: Privat/Kirchner Kommunikation/Berenberg Verlag/dpa)
Die 1966 in München geborene Schriftstellerin Christine Wunnicke ist mit ihrem literarischen Schaffen von der Öffentlichkeit bislang kaum wahrgenommen worden, von der Literaturkritik jedoch seit Jahren hochgeschätzt. Mit ihren Romanen "Der Fuchs und Dr. Shimamura" von 2015 und "Katie" von 2017 stand sie jeweils auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Jetzt wurde ihr der Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2020 für ihren vierten Roman "Die Dame mit der bemalten Hand" zuerkannt. Der Preis ist mit 30.000 Euro dotiert und gehört zu den bedeutendsten literarischen Auszeichnungen im deutschsprachigen Raum - vergeben durch den Deutschlandfunk und die Stadt Braunschweig.
"Christine Wunnicke besticht seit langem in jedem ihrer Romane durch eine, ich würde mal sagen, slapstickhafte Darstellung einerseits der Handlung, andererseits aber auch von Sprachbehandlung", so Jury-Vorsitzender Hubert Winkels im Gespräch mit Angela Gutzeit. Das treffe auch auf eben diesen vierten Roman von Christine Wunnicke "Die Dame mit der bemalten Hand" zu. "Nichts stimmt, alle reden aneinander vorbei. Nichts funktioniert. Und in diesem permanenten Nichtfunktionieren ergibt sich wie bei gutem Slapstick auf einmal eine herrliche, stimmige Komödie", so Winkels.
Buchcover: Christine Wunnicke: „Die Dame mit der bemalten Hand“
Buchcover: Christine Wunnicke: „Die Dame mit der bemalten Hand“ (Buchcover: Berenberg Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
In der Begründung der Jury heißt es zu diesem Buch, der Roman handele von dem tragikomisch scheiternden Versuch, die Welt zu vermessen. Ein "clash of cultures" und "ein Vergnügen für gebildete Zuschauer von Schiffbrüchen und sprachdionysische Aufklärungsskeptiker". Der persische Astrolabienbauer Musa al-Lahuri strandet etwa Mitte des 18. Jahrhunderts auf einer Insel vor Bombay und trifft auf den deutschen Mathematiker Carsten Niebuhr. Niebuhr soll die Originalschauplätze der biblischen Heilsgeschichte studieren und ist versehentlich vom Weg abgekommen. Der Perser und der Deutsche reden fortan vielsprachig und wortreich aneinander vorbei. "Sie sprechen beide x Sprachen", so Winkels, "aber nicht dieselbe", jeder mache sich jedoch aus dem, was der andere gesagt haben könnte, sein eigenes Weltbild. "Daraus entsteht erst einmal eine drastische Komik", und zweitens, so Winkels weiter, ergebe sich in all diesem Missverstehen trotzdem eine Ebene, "in der die Bildlichkeit der Welterkenntnis eindeutig triumphiert über die rationale Welterkenntnis, die man ja eigentlich mit dieser Mission durchsetzen will." Das sei auch eine sehr unterhaltsame Verhöhnung der Wissenschaft als allmächtige Form der Weltbewältigung – in Form und Inhalt hervorragend gelungen.