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Christine Wunnicke: "Nagasaki, ca. 1642"
Japanisch-europäischer Kulturaustausch

Alter japanischer Kriegskünstler trifft auf jungen niederländischen Dolmetscher: Es beginnt ein Duell der Missverständnisse - und ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, gegründet auf spürbarer Sympathie. Der Haken: Ein altes Racheversprechen wartet noch auf Umsetzung.

Von Christian Metz | 20.07.2020
Christine Wunnicke: „Nagasaki, ca. 1642“
Christine Wunnicke: „Nagasaki, ca. 1642“ (Cover Berenberg Verlag)
Landesabschließung: Mauern hoch, Handel erschwert, Kulturtransfer extrem reglementiert. Das kommt einem beim Blick in die heutigen USA bekannt vor? Die hier beschriebene Landesabschließung betrifft Japan. Sie trägt den Namen "sakoku" und sorgte im 17. Jahrhundert dafür, dass der Außenhandel nur noch über insgesamt vier Außenhäfen möglich war. Die Angst vor der Christianisierung war groß. Kein Europäer sollte das eigene Land betreten.
Vor Nagasaki schütteten die Japaner eine eigene Insel auf und bauten dort zwei Straßenzüge mit Lagerhallen und wenigen Wohnhäusern exklusiv für den einzigen noch zugelassenen Handelspartner: die "Niederländisch-ostindische Handelsgesellschaft".
Auf diesen künstlichen Handels- und Kommunikationsvorbau, der den Namen "Deshima" trägt, siedelt Christine Wunnicke ihre Novelle "Nagasaki, ca. 1642" an. Dort lässt sie ihre beiden Protagonisten aufeinandertreffen. Eine perfekte Ortswahl, um pars pro toto eine Geschichte über den japanisch-europäischen Kulturaustausch und deren gar nicht mal so feinen Unterschiede zu erzählen.
Kriegskünstler trifft Dolmetscher
Wer sind diese beiden Figuren? Auf japanischer Seite ist das zunächst Seki Keijiro. Ein in die Jahre gekommener, ehemals ruhmreicher Krieger, der sich zwischenzeitlich im trauten Familienkreis zur Ruhe gesetzt hat. Jetzt ist er als Handelsbeamter nach Nagasaki gekommen, weil er eine alte Rechnung offen hat. Auf der niederländischen Seite steht ihm der blutjunge, blondlockige, dauerbabbelnde Dolmetscher Abel van Rheenen gegenüber.
Man kann sich nicht sicher sein, ob er seinen Spitznamen Babel trägt, weil seine Sprachbegabung den vorbabylonischen Traum der Einheitssprache und des Weltverständnisses aufruft. Oder weil er die personifizierte Sprachverwirrung ist. In jedem Fall ist Rheenen eine unablässige Schwatzbacke, ein Schaumschläger und Sprachmixer vor dem Herrn, der sich von Rotterdam aus auf einem Handelssegler der "Ostindischen Handelskompanie" in Deshima eingeschifft hat.
Ein Duell der Missverständnisse
Christine Wunnicke hat größtes erzählerisches Vergnügen daran, dieses ungleiche Paar zusammenzuführen, um aus ihren Begegnungen eine atemberaubende translatorische Sprachakrobatik entstehen zu lassen. Ein handelsüblicher Dialog – oder sollte man besser sagen: ein alltägliches Duell der Missverständnisse? – zwischen den beiden klingt so:
",Nicht mich ...’ Rheenen stockte. ,Nicht mich ... falsch reden!"
,Anlügen’, half Keijiro.
,Ihr meint, ich ... ihr ....’
,Ihr sollt mich nicht für dumm verkaufen’, half Keijiro.
Rheenen holte Luft und atmete wieder aus. Er machte den Hals lang und streckte den Bauch heraus, dann fasste er mit der linken Hand den Griff seiner Waffe.
,Soll ich dich noch etwas lehren?, fragte Keijiro. ,Ist es das, was du willst?’
Er bekam keine Antwort."
Wortfindungs-Stammeln, gutgemeinte, aber falsche Vorwegnahme, was der Andere vermeintlich zu sagen versucht, Übersprungshandlungen, Rückfall ins Schweigen. Was für ein präzises Bild davon, wie Kulturtransfer funktioniert.
Das ist kommunikative Empathie
Tatsächlich gelingt es Keijiro, seinem niederländischen Gegenüber einiges beizubringen. Zudem muss man einkalkulieren, dass es im Japanischen durchaus üblich ist, sein Gegenüber nicht mit vollständigen Aussagen zu konfrontieren. Vielmehr lädt man mit seinen fragmentarischen Reden den Anderen zur Vervollständigung ein. Man gibt ihm so die Chance, seine kommunikative Empathie (Omoiayri) unter Beweis zu stellen.
So wie es van Rheenen aus Keijiros Sicht hier vormacht – indem er ihm den Raum eröffnet, so viel Einfühlungsvermögen zu zeigen, dass er vermeintlich weiß, was der andere sagen will. Aus dieser Perspektive muss man konstatieren, glückt die Kommunikation, nur halt nicht nach europäischen Maßstäben. Die Erzählerin Christine Wunnicke indes verfügt über das interkulturelle Wissen und erzählerische Vermögen, am laufenden Band solche kommunikativen Kippfiguren zwischen komischer Groteske und tatsächlichem Glücksfall zu entwerfen.
Krieg dem Kriege
Damit es aber überhaupt zu diesen heiternüchternen Sprachslapstick kommt, ist eine seriöse Vorgeschichte notwendig. Die Begegnung des jungen Dolmetschers mit dem Krieger im Ruhestand ist nur die äußerste Hülle von Wunnickes Novelle. Ihr Kern ist die mehr als 42 Jahre zurückliegende Beziehung zwischen Seki Keijiro und dem von ihm bewunderten Kurihara Yuudai.
Letzterer hatte den damals noch namenlosen Waisenjungen aus seinem Versteck in einem Abfallhaufen befreit und in seine Söldnertruppe aufgenommen. In Windeseile erwies sich Seki als wahres Waffenwunderkind. Was Anderen durch jahrelange militärische Disziplinierung in den Körper eingetrimmt bekommen, begreift das Kriegsnaturtalent mit dem ersten Waffengriff. Schon ist die Rede davon, ein Fuchs müsse ihm alle diese Fähigkeiten und Kenntnisse eingeflüstert haben, denn von seinem Meister könne er dies nicht gelernt haben.
Auch der Tod ist schön
Nicht nur in Waffenkunde und Kriegsstrategie, sondern auch in der Poesie und Webkunst entfaltet Keijiro seine Meisterschaft. Eben da lernt Seki Keijiro von seinem Lehrer Kurihara Yuudai, die Schönheit des Todes anzuerkennen:
"‘Auch der Tod ist schön‘, verkündete Kurihara Yuudai und wedelte mit einem geschlachteten Fisch,‘man muss nur den rechten Blick dafür haben. [...] Ein sauberer Schnitt ist immer schön, erklärte Yuudai, dann kann man sagen, was man will. Und wenn viele sterben, bilden sie Formen. Achte einmal darauf.‘"
Die Ornamentik des Todes ändert aber nichts daran, dass es auch Todesfälle gibt, die jedem Schönheitsgebot und somit auch der Würde des Todes widersprechen. So etwa, wenn sich das Innere ungeordnet nach Außen kehrt:
"Yuudai lachte. ,Aber falls man bei meinem Tod alle meine Gräten sieht, rächst du mich bittschön, und zwar bis in letzte Glied."
Rache bis ins letzte Glied
Seki Keijiro verspricht’s – und zwar alles andere als leichtfertig. Kurz darauf schon will der von Feuerwaffen faszinierte Yuudai mitten in einer Schlacht eine niederländische Kanone zünden. Aber da er – ein Übersetzungsproblem – die fremde Mechanik missversteht, wird er von der eigenen Kugel zerfetzt. Kein sauberer Schnitt führt zum schönen Tod, vielmehr entstellt der Kugeleinschlag Yuudais Körper, indem es sein Inneres nach Außen kehrt. Für Seki Keijiro heißt das jetzt:
"Wie übt man Rache an einer Kanone, Rache bis ins letzte Glied? Das fragte sich Keijiro. Dann fragte er nichts mehr. Er nahm Yuudais Schwert mit. Und er zeichnete sich, wie er nachher erfuhr, sehr aus in dieser wichtigen Schlacht, im fünften Jahr der Epoche der Langen Glücklichkeit, zwei Tage vor Frostbeginn."
Die einzige Möglichkeit sich an einer Kanone zu rächen, besteht darin, sich an ihrem niederländischen Hersteller gütlich zu erweisen. Nachdem die Japaner aber – Stichwort: Landesabschließung – alle christlichen Händler ausgesperrt haben, gibt es nur noch einen möglichen Begegnungsort: Jahre übt sich Keijiro in Geduld, bis er ca. 1642 tatsächlich zum Stellvertreter des Statthalters von Nagazaki und Deshima berufen wird.
Die Geschichte einer tödlichen Annäherung
Dort trifft der alte Krieger mit der offenen Rechnung auf den jungen Abel van Rheenen, der sich seinerseits als Nachfahre der niederländischen Kanoniere erweist. Dort verheddern sich die beiden nun in ihren gegenseitigen Missverständnis-Stunts und ziemlich schnell auch in spürbaren Sympathien, die ihrerseits – so die unumgängliche Notwendigkeit der Geschichte – tödlich enden müssen.
Wunnicke erzählt diese Geschichte einer tödlichen Annäherung, indem sie zwischen den beiden Männern Schritt für Schritt ein Lehrer-Schüler-Verhältnis entstehen lässt. Rheenen nämlich ist lernbegierig, weil er – der von seiner Familie als vermeintlicher Nichtsnutz über alle Weltmeere geschifft wäre – so gerne nützlich wäre.
Und der japanische Statthalter Seki Keijiro entpuppt sich als der perfekte Lehrer. Zuerst gewöhnt er sich nur an die Präsens des quecksilbrigen Abel. Dann erkennt er in der Zappelei plötzlich schon den eigenen Enkel wieder. Schließlich beginnt er über einzelne Besonderheiten nachzudenken, die ihm an Abel ins Auge fallen:
"Zuweilen grübelte er noch über Rheenen, nachts im Bett im Haus des Statthalters von Nagasaki. Und dann dachte er an das alte Lied "Der Narr, der Narr im Melonenfeld weiß alles über Melonen." Da lag Weisheit drin."
Ich mag Dich, Du gefällst mir
Schließlich zeigt er sich beeindruckt, vom schnell und willig lernenden Niederländer. Und so setzt sich Rheenen im Denken und Fühlen des alten Kriegers fest. Das ist der Anfang einer schier unergründlichen Meister-Lehrer-Beziehung. Ist es Liebe? Schwer zu sagen, wenn dem Japaner der einzelne Europäer schon als verrückt erscheinen muss, sowie dem Europäer der einzelne Japaner ein Rätsel bleibt. Und noch schwerer auszuloten, wenn im Japanischen – wie Abel schnell feststellen muss – kein einziges Zeichen zur Verfügung steht, dass der europäischen Vorstellung von Liebe entsprechen könnte. Unter diesen Vorzeichen begeben sich die beiden schließlich auch über den eingegrenzten Raum Deshimas hinaus auf die Suche nach dem passenden Wort für ihre Gefühle:
",Ich mag dich’". Oder ,ich ertrage dich gut’. Oder vielleicht ,du gefällst mir’. Vielleicht auch: ,du bist eher auf der angenehmen Seite’. Oder wieder so ein Wort für die Liebe, das zu fast keiner Sachlage passte. Abel rätselte über seine Übersetzungen, und Keijiro ging zu einem Baum, brach einen Ast und machte ihm daraus einen Wanderstab. Dann gingen sie weiter."
Lassen wir die Beiden von dieser Stelle aus weitergehen. Ohne zu eröffnen, wohin sie ihr Gang, oder vielmehr ihr Übersetzen von der einen zur anderen Kultur führt. Aber halten wir fest: wenn bei einer Novelle alle Elemente genau an ihrem richtigen Platz sind und sie dennoch ständig für Überraschungen sorgt, dann deutet Vieles auf ein erzählerisches Meisterstück hin.
Christine Wunnicke: "Nagasaki, ca. 1642".
Berenberg Verlag, Berlin. 112 Seiten, 14 Euro.