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Christlich-jüdisches Verhältnis
Benedikts Aufsatz mit kirchenpolitischer Sprengkraft

Ein Text des früheren Papstes Benedikt XVI. polarisiert. Darin stellt der Emeritus die Frage, ob das Christentum das Judentum ersetzt. Ratzinger wolle mit dem Aufsatz die Diskussion "verdeutlichen, versachlichen und vertiefen", sagen die einen - andere sehen das Judentum abgewertet.

Von Michael Hollenbach | 16.08.2018
    Der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009 an der Klagemauer in Jerusalem
    Der emeritierte Papst Benedikt XVI. im Jahr 2009 an der Klagemauer in Jerusalem (picture alliance / dpa / epa Debbie Hill / Pool)
    Über nahezu zwei Jahrtausende war die Haltung des Christentums gegenüber dem Judentum geprägt und vergiftet durch den Vorwurf, die Juden seien die Gottesmörder sowie durch die theologische Vorstellung, mit der Auferstehung Christi sei das Judentum eigentlich obsolet geworden: Erlösung für Juden sei nur über Jesus Christus möglich. Dann verabschiedete das Zweite vatikanische Konzil am 26.10.1965 das Dokument "Nostra Aetate".
    "Nostra aetate ist der Wendepunkt im Verhältnis zwischen Juden und Christen; das Dokument ist das kürzeste des ganzen Konzils, zugleich das Revolutionärste, denn es sagt das Gegenteil dessen, was die Kirche 2000 Jahre gesagt hat", sagt der Augsburger Pastoraltheologen Hanspeter Heinz. Die wichtigste Aussage von Nostra Aetate ist für ihn:
    "Das Judentum gehört zu unserer Identität als Katholiken, wir können unsere Identität gar nicht bestimmen, ohne die jüdischen Wurzeln wahrzunehmen. Also selbst wenn kein Jude interessiert wäre an Gesprächen mit uns, wir müssen interessiert sein, um unsere Identität bestimmen zu können."
    Zeichen der Versöhnung unter Johannes Paul II.
    Wichtig an dem vatikanischen Dokument war auch die entschiedene Ablehnung von Antijudaismus und Antisemitismus.
    "Der rassische Antisemitismus ist nicht eine Frucht des Christentums, aber das Christentum hat wesentlich beigetragen zur Vernichtung und Verfolgung der Juden, weil es das Immunsystem beschädigt hat. Wir haben ständig auf die Juden hinabgeschaut, insofern sind wir mit schuld."
    Mehr als vier Jahrzehnte war Hanspeter Heinz Leiter des Gesprächskreises Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Seit einem halben Jahrhundert verfolgt er den katholisch-jüdischen Dialog. So war Heinz auch dabei, als Papst Johannes Paul II. am 17. November 1980 im Mainzer Dommuseum erklärte:
    "Die erste Dimension des Dialogs zwischen Christentum und Judentum ist die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes und dem des Neuen Bundes."
    Papst Johannes Paul II. legte großen Wert auf den aktuellen Dialog mit dem heutigen Judentum. Einen weiteren Schritt der Versöhnung unternahm der polnische Papst im März 2000, als er in einem Gebet um Verzeihung bat:
    "Gott unserer Väter, du hast Abraham und seine Nachkommen auserwählt, deinen Namen zu den Völkern zu tragen. Wir sind zutiefst betrübt über das Verhalten aller, die im Laufe der Geschichte deine Söhne und Töchter leiden ließen. Wir bitten um Verzeihung und wollen uns dafür einsetzen, dass echte Brüderlichkeit herrsche mit dem Volk des Bundes."
    "Kehrseite der alten Karfreitagsfürbitte"
    Papst Benedikt setzt dagegen andere Akzente. Ihn beschäftigte das Schisma der Piusbruderschaft. Heftige Irritationen löste er aus, als er sich 2007 und 2008 um eine Versöhnung mit der Gemeinschaft, die das Zweite Vatikanische Konzil nicht akzeptiert, bemühte. Benedikt erlaubte mit dem Erlass "Summorum pontificum" - auf Deutsch: Die Sorge der Päpste - die Messe nach vorkonziliarem Ritus. Wohlwollende Beobachter deuteten dies als Beitrag zur Einheit der Kirche und zur liturgischen Vielfalt, Kritiker als Zugeständnis an die Piusbruderschaft.
    Zum Alten Ritus gehört die Karfreitagsfürbitte. Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil hatte der Priester in der Messe darum gebeten, dass Gott "den Schleier von den Herzen der Juden wegnehmen" möge, damit auch sie Jesus Christus erkennen würden. Die Juden sollten, wie es hieß, ihrer Finsternis entrissen werden. Davon hatte sich der Vatikan eigentlich längst distanziert. Benedikt XVI. veröffentlichte im Mai 2008 eine neue Fassung der Karfreitagsbitte. Die lautet:
    "Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott, unser Herr, ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus erkennen, den Retter aller Menschen."
    Als Rückschritt in den Beziehungen zum Judentum wertet Hanspeter Heinz diese Aktionen des deutschen Papstes zehn Jahre später:
    "Er ist sich selber treu, in dem er stehen bleibt, und das heißt: an Christus führt kein Weg vorbei. Er lässt beten für die Bekehrung der Juden, das hat für Riesenärger gesorgt, weil es im Grund die Kehrseite der alten Karfreitagsfürbitte ist, wo von den Juden gesagt wird: Sie leben in Finsternis, sie sind blind, und dass sie Jesus Christus, den Erlöser erkennen. Sie müssen zu Christus Ja sagen, und das bricht den Juden das Kreuz."
    Benedikt und die Substitutionstheorie
    Benedikts Nachfolger Franziskus nahm diese Formulierung nicht zurück. Für Heinz durchaus verständlich:
    "Etwas aufheben heißt; ein 'Nein' zu seinem Vorgänger zu sagen, der sich immer noch Papst nennt, aber kein Papst mehr ist. Den Konflikt hat er (Franziskus) nicht inszeniert, was ich auch für klug halte."
    Für neue Irritationen im katholisch-jüdischen Dialog hat der emeritierte Papst nun mit seinem Aufsatz "Gnade und Berufung ohne Reue" gesorgt, der im Juli in der Fachzeitschrift Communio erschien und demnach auf Englisch und Italienisch erscheint. Darin behauptet Benedikt, die so genannte Substitutionslehre habe es nie gegeben. Diese Lehre besagt, dass die christliche Kirche im Heilsplan Gottes an die Stelle von Israel und dem Judentum getreten sei. Eine Position, die sich wie ein roter antijudaistischer Faden durch die Kirchengeschichte zieht. Schon im zweiten Jahrhundert schrieb der Kirchenlehrer Justin:

    "Das wahre geistige Israel nämlich und die Nachkommen Judas, Jacobs, Isaaks und Abrahams, das sind wir, die wir durch den gekreuzigten Christus zu Gott geführt wurden."

    "Das war die Theologie bildlich und wörtlich gewesen über viele Jahrhunderte", zeigt sich auch Hanspeter Heinz verwundert über die These Benedikts, die Substitutionstheorie habe es nicht gegeben:
    "Insofern ist das eine Verharmlosung, das Wort vielleicht nicht, aber die Sache schon."
    Dem 91-jährigen Papa Emeritus geht es nicht um den aktuellen Dialog mit dem heutigen Judentum; für ihn scheint das Judentum mit der Entstehung des Christentums zu enden. Für ihn gehe es nur um Jesus Christus, meint Heinz:
    "Er warnt davor, ja nicht Jesus Christus zu relativieren, ja nicht den Neuen Bund kleinzuschreiben, und das muss gesichert werden, und diese Sorge hat er."
    Papst Johannes Paul II. - die Juden waren für ihn "ältere Brüder"
    Während Papst Johannes Paul II. dem Judentum über Christus hinaus eine positive heilsgeschichtliche Bedeutung beimaß, vermisst man diese Dimension bei Benedikt XVI. Der polnische Papst sprach von einen "Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil der Bibel"; die Juden waren für ihn "ältere Brüder". Bei seinem Nachfolger fehlen solche Zuschreibungen. Johannes Paul II. erklärte, dass Gott den Bund mit Israel nie gekündigt habe. Benedikt nennt diese Lehre vom nie gekündigten Bund nun "eine Hilfsformel, die aber nicht auf Dauer" tauge. Sie müsse kritisch weiter bedacht werden. Der emeritierte Papst verschiebt in seinem Aufsatz die Akzente, und das mit Unterstützung des vatikanischen Ökumeneministers Kurt Koch, der den Text publizieren ließ.
    "Das halte ich für eine Katastrophe, er stellt damit das gesichert erscheinende Fundament zwischen Juden und Christen in Frage - einerseits; andererseits bin ich froh: man muss pflegen die Freunde und die Feinde. Schmarotzer und Schmeichler gibt es genug. Feinde sind solche, die etwas angreifen. Ratzinger greift hier eine Position an und Koch macht da mit. Wenn es solche Angriffe gibt, dann muss gestritten werden", sagt Hanspeter Heinz. Denn schlimmer als der Streit sei das Schweigen.
    Der Streit ist längst entbrannt. Katholische Theologen wie Jan-Heiner Tück und Thomas Söding nehmen den früheren Papst in Schutz. Der Neutestamentler Thomas Söding schrieb in der Zeitschrift "Herder-Korrespondenz", Joseph Ratzinger wolle mit diesem Aufsatz "verdeutlichen, versachlichen und vertiefen". Der Text sei eine Inspiration für das jüdisch-christliche Gespräch. Walter Homolka hingegen, Rektor des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs, sieht das Judentum in dem Aufsatz abgewertet. Es werde als bedeutungslose Vorform des Christentums betrachtet; dem früheren Papst bedeute das lebendige Judentum heute nichts. Und weiter erklärt er:
    "Wer die Rolle des Judentums so beschreibt, baut mit am Fundament für neuen Antisemitismus auf christlicher Grundlage."