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Christoph Gödde/Henri Lonitz (Hrsg.): Gretel Adorno – Walter Benjamin: Briefwechsel 1930-1940

Der Schriftsteller Walter Benjamin schrieb im Frühjahr 1940 an Margarete Karplus: "Wir müssen sehen, unser Bestes in die Briefe zu legen; denn nichts deutet darauf hin, dass der Augenblick unseres Wiedersehens nahe ist." Wenig später nahm sich Benjamin auf der Flucht vor den Nazis das Leben. Zehn Jahre währte der Briefwechsel mit der engen Freundin Gretel Karplus, die 1937 im Londoner Exil Theodor W. Adorno heiratete. Sie hatte Benjamin zur Emigration gedrängt und zuletzt versucht, ihn zum Exil in den USA zu überreden. Die beiden korrespondieren über das Leben in der Emigration, über ihre jeweilige Lektüre und über Benjamins Arbeiten. Im Suhrkamp Verlag ist nun endlich der vollständige Briefwechsel erschienen.

Von Rolf Wiggershaus | 11.04.2005
    Beim ersten Überblick könnte mancher auf die Idee kommen, dieser Band mit dem Briefwechsel von Walter Benjamin und Gretel Karplus, seit 1937 verheiratet mit Theodor Wiesengrund-Adorno, biete wohl nichts Neues. Sind nicht sämtliche Briefe von Benjamin in der sechsbändigen Ausgabe seiner Gesammelten Briefe bereits abgedruckt und sind nicht die wichtigen Briefe von Gretel Karplus-Adorno dort auszugsweise in den Anmerkungen wiedergegeben? Und sind nicht in der Berliner Reihe "akte exil" immerhin sieben Briefe von Margarete Karplus an Benjamin abgedruckt mit der ausdrücklichen Würdigung, sie sei neben Gershom Scholem der wohl wichtigste Korrespondenzpartner Benjamins in den sieben Jahren des Exils gewesen? Bei näherem Hinsehen zeigt sich indes, dass erst die vollständige Einzelpublikation des Briefwechsels zwischen den beiden, die sich 1928 im Berliner Linksintellektuellen- und Künstlermilieu kennen gelernt hatten, einen angemessenen Eindruck von der Bedeutung gibt, die sie füreinander hatten. Es war für beide eine überlebenswichtige.

    Im März 1933 verließ der 40-jährige Literaturkritiker und Schriftsteller Walter Benjamin Deutschland für immer auf Drängen seiner zehn Jahre jüngeren Freundin Gretel Karplus, einer promovierten Chemikerin und damals Teilhaberin einer Firma für Lederhandschuhe. Damit begann der eigentliche Briefwechsel zwischen ihnen – der einzige weitgehend erhaltene von Gretel Karplus-Adorno. Bezeichnend für dessen Charakter war schon die fast von Anfang an praktizierte Verwendung selbst gewählter Namen: Detlef und Felicitas. Detlef Holz war eines der von Benjamin seit den frühen 30er Jahren als Publizist verwandten Pseudonyme. Felicitas war der Name einer Frauengestalt aus einem Theaterstück des Schriftstellers Wilhelm Speyer, an dem Benjamin mitgearbeitet hatte. In der Verwendung dieser Namen klang mehreres an: das Bewusstsein für die Missachtung des Postgeheimnisses; eine gewisse Heimlichkeit gegenüber Wiesengrund-Adorno, seit langem Diskussionspartner von Benjamin und Verlobter von Karplus, und vor allem Drang und Lust zur Kommunikation in einer nur ihnen beiden ganz vertrauten Welt.

    Weil er auf Ibiza billiger leben konnte als in Paris, verbrachte Benjamin die Frühjahrs- und Sommermonate seines ersten Exiljahres auf der spanischen Insel. Zu seinem Geburtstag am 16. Juli bekam er einen der längeren Briefe von der Berliner Freundin. Sie informierte ihn über einige Angelegenheiten des alltäglichen Lebens, dann meinte sie:

    "Ja, und nun will ich Dir zum Geburtstag gratulieren, da habe ich mir ausgedacht, dass wir doch immer in den Privatbriefen beim Du bleiben wollen, wenn es Dir recht ist. Ich hätte gern geschrieben für immer auch offiziell, aber ich weiß nicht, ob das eigentlich in unserm Sinn ist. Ich jedenfalls liebe eine Spur der Heimlichkeit, und ich finde das Versteck in den beinah für uns reservierten Namen herrlich."
    Was sie in diesem "Versteck" einander anvertrauten, ging weit. Aus San Remo, wo er den Winter 1934/35 in der Pension seiner geschiedenen Frau verbrachte, berichtete Benjamin von einer seit Jahren nicht mehr gekannten "Bitterkeit":

    "Das Abgeschnittensein nicht nur von Menschen, sondern dazu von Büchern, schließlich – bei dem ungünstigsten Wetter – selbst von der Natur. Jeden Abend vor 9 Uhr zu Bett gehen, jeden Tag dieselben Wege zu machen, auf denen Du vorher schon sicher bist, niemandem zu begegnen, jeden Tag dieselben schalen Überlegungen an die Zukunft zu wenden, das sind Umstände, die schließlich auch bei einer sehr robusten inneren Verfassung […] eine schwere Krisis heraufführen müssen. Das Merkwürdigste ist, dass die Umstände die mich am ersten einigermaßen herstellen müssten – ich meine die Arbeit –, die Krisis steigern."

    Nicht weniger verzweifelt klingt es oft in Gretel Karplus’ Briefen, selbst oder gerade in der Zeit, als nach zehnjähriger Verlobung 1937 endlich die "Legalisierung der Beziehung" zu Wiesengrund-Adorno greifbar wurde, den seine Freunde "Teddie" nannten.

    "Gewiß, ich wünsche mir seit Jahren nichts sehnlicher, ich habe mein ganzes Sein im Grunde auf diese Vereinigung eingestellt, ich wüsste auch gar nicht mehr, was sonst anzufangen, und trotzdem kamen mir Bedenken, ob ich der Aufgabe gewachsen sein werde. Ich kenne Teddies Bedürfnis nach Glanz, Schönheit und Abwechslung, wo soll ich das alles stets herschaffen, jetzt, da ich längst nicht mehr ganz jung und ohne jedes eigene Einkommen und ohne Besitz bin?"

    Die Zuverlässigkeit dieser Brief-Beziehung ist immer wieder beeindruckend. Sie ließen einander nie ungetröstet. Was immer geschah, was immer sie einander anvertrauten, ihrer gegenseitigen Achtung und Wertschätzung konnten sie sicher sein. Der jüdische Intellektuelle im Exil, der immer wieder in die Situation eines auf Unterstützung angewiesenen homme de lettres geriet, und die jüdische Fabrikantin, die ihr Unternehmen liquidieren musste, ohne je ihren alten Traum, zur Psychologie zu wechseln, verwirklichen zu können – sie boten einander – beide gebrauchen einmal dieses Wort – Geborgenheit. Diese Geborgenheit hat immer etwas vom Abenteuerlichen einer letzten Zuflucht, auch und gerade in monströser Zeit. Der erst durch die Felicitas-Detlef-Korrespondenz präsente Kontext einer oft zitierten Äußerung Benjamins beleuchtet das auf bezeichnende Weise. Der Warnung vor Brecht, diesem "Wilden", wie Adorno ihn einmal nannte, dieser Warnung, in die auch Gretel Karplus einstimmte, begegnete Benjamin mit der Erklärung:

    "Gerade Dir ist es ja keineswegs undeutlich, dass mein Leben so gut wie mein Denken sich in extremen Positionen bewegt. Die Weite, die es dergestalt behauptet, die Freiheit, Dinge und Gedanken, die als unvereinbar gelten, neben einander zu bewegen, erhält ihr Gesicht erst durch die Gefahr. Eine Gefahr, die im allgemeinen auch meinen Freunden nur in Gestalt jener 'gefährlichen’ Beziehungen augenfällig erscheint."

    Gretel Karplus nahm das als Bestätigung dafür, dass sie mit ihrer Beziehung zu Benjamin richtig lag:

    " Es liegt also in Deiner Absicht, dass ich nur gewisse Seiten von Dir kenne, und Du musst mich dann entschuldigen, wenn ich ab und zu irre. Dabei gebe ich Dir ohne weiteres zu, dass diese Art unserer Beziehung neben den großen Gefahren auch ihre sehr beträchtlichen Vorteile hat, vor allen die des absolut Originellen und Einzigartigen."

    Auch die verheiratete und 1938 mit ihrem Mann nach New York emigirierte Gretel Adorno blieb eine zuverlässige und sehnsüchtige, allerdings ökonomisch unselbständig gewordene und in ihrem Bedürfnis nach sinnvoller Tätigkeit unbefriedigte Freundin. Sie drängte Benjamin, Englisch zu lernen, und suchte ihm Lust auf Amerika zu machen.

    ""Lieber Detlef:
    ich bin ganz närrisch vor Freude und überlege mir schon dauernd, in welcher Reihenfolge man Dir die Attraktionen von New York vorführen solle, damit es Dir in der Barbarei auch ja gefällt","

    schrieb sie ihm 1939 zum Geburtstag. Man kann fragen, warum gerade Benjamin sich angesichts der Zurückweisung an der spanischen Grenze das Leben nahm. Man kann aber auch fragen, wie er solange zu einer Haltung fähig war, die einen an das Motto denken lässt, das auf dem einzigen von ihm in der Exilzeit erschienenen Buch stand, der Brief-Sammlung "Deutsche Menschen":

    ""Von Ehre ohne Ruhm
    Von Größe ohne Glanz
    Von Würde ohne Sold"

    Zu beiden Fragen findet man wichtige Aufschlüsse im vorliegenden Briefwechsel.

    Rolf Wiggershaus besprach den Briefwechsel zwischen Margarete Karplus und Walter Benjamin, erschienen im Suhrkamp Verlag. Das Buch hat 300 Seiten für 26.90 Euro.