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Christoph Hein: "Glückskind mit Vater"
Ein tragikomischer Lebensbericht

In seinem Roman "Glückskind mit Vater" erzählt Christoph Hein eine deutsche Biografie. Ein Schreiben des Finanzamts enthüllt Konstantin Boggoschs wahre Identität. Er ist Sohn eines NS-Kriegsverbrechers - ein Fluch, der zeitlebens auf ihm lastet.

Von Katrin Hilgruber | 07.09.2016
    Ein zweistöckiger Wachturm hinter einem Stacheldrahtzaun.
    Konstantin Boggosch ist der Sohn eines Kriegsverbrechers. Als glühender Nationalsozialist und Verfechter der NS-Strategie „Vernichtung durch Arbeit“ plante er, seine Fabrik um ein Konzentrationslager zu erweitern. (imago / Ulli Winkler)
    Christoph Hein: "Es ist immer Dichtung und Wahrheit. Ich hab’s immer ganz gerne, wenn ich beim Schreiben von diesen erfundenen Personen, wenn ich da für eine Person jemanden habe oder sogar zwei oder drei, die ich da zusammenführe […]. Nach meiner Erfahrung ist das für die Sinnlichkeit des Schreibens und für die sinnliche Darstellung von Vorteil."
    Konstantin Boggosch, geborener Müller, will sich nicht erinnern. Zumindest nicht auf Drängen einer jungen Lokalreporterin, die den pensionierten Direktor des Pestalozzi-Gymnasiums um ein Interview bittet: Zur Wiedereröffnung des renovierten Schulgebäudes plane der "Kurier" eine Sonderseite, erklärt sie ihm aufgeregt. Doch Boggosch sträubt sich. Er deklariert seine Vergangenheit zum "abgeschlossenen Präteritum", wie es heißt. Als dann noch ein Brief von der Steuerfahndung für Konstantin Müller eintrifft, beginnt Boggoschs bis dahin ahnungslose Frau Marianne, in seiner Vergangenheit herumzustochern. Deshalb ist er froh, als er sie in die geplante Kur verabschieden kann.
    Erzählungen beruhen auf wahren Vorkommnissen
    Die Heraufbeschwörung seines Allerwelts-Geburtsnamens Müller zieht dem friedlichen Pensionär Boggosch den Boden unter den Füßen weg. Dabei befördert der Autor seine Leser mit der Raffinesse eines Sounddesigners der Automobilindustrie von der Außen- in die Ich-Perspektive des Helden: Auf Seite 39 hilft Konstantin seiner Frau ins Taxi und lässt die Wagentür mit einem vermutlich satten "Plopp" ins Schloss fallen. Damit ist der Weg frei für das Erzähler-Ich und dessen gewaltigen, erschütternden und gleichzeitig – wie sollte es beim verkappten Humoristen Christoph Hein anders sein - tragikomischen Lebensbericht.
    Zwei Binsenwahrheiten grundieren diesen außergewöhnlichen Roman: Dass man sich seine Eltern nicht aussuchen kann und dass das Leben die besten Geschichten schreibt. Ausdrücklich verweist Hein eingangs darauf, dass das Erzählte auf authentischen Vorkommnissen beruhe und die Personen nicht frei erfunden seien. Gibt es also ein reales Vorbild für Konstantin Boggosch?
    "Ja, von dem ich aber fast nichts weiß, sondern nur, dass er darüber nicht spricht. Und da hatte ich dann irgendwann mal von ihm und von anderen diesen Hintergrund gehört und das ist so ein zumindest ähnlicher, also hingerichteter Vater, als Kriegsverbrecher hingerichtet, und mehr weiß ich nicht mehr, er hat mir nie was davon erzählt. Das ist lange her, 20, 25 Jahre, und das hat mich doch bewegt, wenn ein Mensch derart von einem Elternhaus geprägt ist in einer fatalen Richtung, wirklich fatal, schlimm, und er als vollkommen Unschuldiger seitdem lebenslang bestimmt wird, das ist schon eine enorme Schwierigkeit. Hinzu kommt, auch, dass dieser Konstantin […] eben keine Kinder haben will: Eine Selbstkastrierung, die ziemlich fürchterlich ist."
    Am 14. Mai 1945 wird Konstantin in G. geboren - wohl eine Chiffre für Schkopau, den Sitz der Buna-Werke im heutigen Sachsen-Anhalt. Konstantin ist der zweite Sohn des Kriegsverbrechers Gerhard Müller. Der Direktor der Müller’schen Gummiwerke Vulcano war bis Kriegsende der reichste Mann am Ort. Als glühender Nationalsozialist und Verfechter der NS-Strategie "Vernichtung durch Arbeit" plante er, seine Fabrik um ein Konzentrationslager zu erweitern. Das dafür vorgesehene Wäldchen taucht in den Albträumen seines Sohnes auf, der den in Polen Hingerichteten nicht mehr kennenlernte.
    Fluchtpunkt Marseille
    Durch die Enteignung verarmt und durch die Taten ihres Mannes zutiefst beschämt, nimmt Müllers Witwe für sich und ihre Söhne gegen alle Widerstände wieder ihren Mädchennamen Boggosch an. Doch es hilft nichts, die Familie wird in der Sowjetischen Besatzungszone geächtet, der sprachbegabte Konstantin nicht zum Gymnasium zugelassen. Bevor er eine verhasste Lehrstelle antritt, macht sich der erstaunlich reife 14-Jährige heimlich in die Welt auf: über das West-Berliner Aufnahmelager Marienfelde zum Bruder seines Vaters nach München. Diesen Onkel Richard zeichnet der Autor mit wenigen grandiosen Strichen als eiskalten Herrenmenschen. Im Verbund mit der bayerischen Haushälterin ekelt Richard den als Störenfried empfundenen Neffen aus dem Haus. Er gibt ihm aber Geld fürs Internat, das Konstantin angeblich besuchen will.
    Hier setzt der nach "Landnahme" aus dem Jahr 2004 zweite große Deutschland-Roman des 72-jährigen Christoph Hein zu einer verblüffenden mediterranen Ausfahrt an: Konstantin schlägt sich bis nach Marseille durch, wo er hofft, in die Fremdenlegion einzutreten. Dort wird der überehrgeizige Halbwüchsige ausgelacht, findet jedoch Arbeit als Fremdsprachen-Korrespondent für einen Antiquar und dessen Freunde. Am Fluchtpunkt Marseille ist Konstantin ganz das "Glückskind", als das ihn seine Mutter stets gesehen hat. Wie kam Christoph Hein auf den Titel "Glückskind mit Vater", der an Gemälde wie Albrecht Dürers "Madonna mit dem Zeisig" erinnert?
    "Als ich den endlich gefunden hatte, hat mir der Titel eigentlich sehr gut gefallen, er ist nicht niederdrückend, es droht etwas, es klingt so ein bisschen nach dem Schatten des Vaters, was ja auch korrekt ist, und vor allem, ich fand’s dann einen sehr guten und genauen Titel für das ganze Buch und das ganze Dilemma meines Helden […]."
    Eindrücke der eigenen Biografie
    Sein Schicksal verfolgt Konstantin bis ans Mittelmeer: Bevor sich eine Nachkriegs-Entente zwischen dem Jungcineasten, der auf den Spuren von Truffauts "Jules et Jim" wandelt, und den ehemaligen Résistance-Kämpfern entspinnen kann, wirft erneut der Kriegsverbrecher Müller seinen Schatten auf das Idyll – ein tragischer Running Gag. Konstantin muss und will zurück in die kalte Heimat, ausgerechnet zwei Tage nach dem Mauerbau, am 15. August 1961. Denn er fürchtet, die Résistance-Veteranen könnten seinen Vater in einem Fotoalbum erkennen und damit auch ihn als dessen Sohn ächten. Außerdem treibt ihn die Sehnsucht nach der Mutter zurück in die DDR, für die er ein Republikflüchtling ist. Die Aufnahmeprozedur der Behörden schildert Hein spiegelbildlich zu der im West-Berliner Aufnahmelager Marienfelde. Überhaupt erschafft er in jeder Episode der erzählten Zeit von rund siebzig Jahren eine stimmige Atmosphäre.
    "Ich habe da immer ganz viel von meiner eigenen Biografie mit reingebracht: Ich bin im gleichen Alter wie er abgehauen, ich wurde mit dem Mauerbau wieder eingefangen, ich bin nicht zurückgegangen, sondern ich war illegalerweise in den Ferien in Dresden und konnte dann nicht mehr wieder nach West-Berlin zurück und nicht mehr zur Schule, und dann aus ganz anderen Gründen wurde ich dann eben auch da exmatrikuliert und so weiter. Also der halbe Roman, das ist meine Biografie."
    Der findige Konstantin tauscht Marseille mit dem kriegszerstörten Magdeburg. Er arbeitet wiederum in einem Antiquariat und holt das Abitur nach, bis sich das Blatt abermals wendet: An der Filmhochschule wird er aufgrund "unterlassener und verheimlichter Angaben zur Person", wie es heißt, nicht angenommen – so wie Christoph Hein selbst, der als Pfarrerssohn nicht an die Filmhochschule durfte und das Thema seiner Bewerbungsarbeit nun der Romanfigur zur Verfügung stellte.
    Auf erschütternde Weise verliert Konstantin sein junges Familienglück, ebenso die charakterlich feine und musische Mutter. Allzu früh haucht sie ihr Leben im Souterrain der herrschaftlichen Villa des älteren Sohnes Gunthard aus, der ganz nach dem Vater geraten ist.
    Sie ist das wahre Unglückskind. Aus gutbürgerlichen, großbürgerlichen Verhältnissen, schien dem 16-, 17-jährigen Mädchen die Welt zu Füßen zu liegen und sie rutscht dann vollkommen schuldlos in die fürchterlichsten Katastrophen rein, einfach durch den Mann, und sie kann sich nicht befreien und sie hat nicht das Glück ihres Sohnes, also sie ist nach glücklichen Kinderjahren nur noch ein Unglückswurm.
    So richtet sich Konstantin in seinem Schicksal ein. Er wird Pädagoge, dabei immer wieder von seiner Personalakte behindert und zurückgeworfen. Er durchlebt gleichsam ein Schicksal auf Wiedervorlage, das es so nur im Deutschland des 20. Jahrhunderts geben kann. Mag Konstantin Boggosch auch ein reales Vorbild haben: Durch die Tiefe seines Wesens, die sich mit Sprödigkeit tarnt, ist er wahrer Hein‘scher Protagonist geworden, Held eines Abenteuerromans der besonderen Art, aus dessen gut 500 packenden Seiten es kein Entrinnen gibt.
    Christoph Hein: "Glückskind mit Vater. Roman."
    Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 527 Seiten, 22,95 EUR.